Herr Preindl

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Matula

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Herr Preindl beschloss seine Spaziergänge durch den Paradepark gern mit einer längeren Rast auf einer Bank in einem der Seitenwege. Dort nahm er einen Schluck Cognac aus dem Flachmann, lehnte sich zurück und wartete, bis ihm ein Flieglein ins Netz ging. Das Flieglein konnte männlich oder weiblich sein, wobei er die weiblichen deutlich bevorzugte. Die männlichen dienten nur der indirekten Bekanntschaft mit den weiblichen.

Der Paradepark lag in einer, wie man so sagt, "besseren Gegend". Hier lungerten keine Obdachlosen oder Drogensüchtige herum. Auf Grund der Nähe zur Universität und zu verschiedenen Gymnasien, sah man viel gesittetes Jungvolk allein oder zu zweit spazieren gehen oder laufen, schweigend oder in vergnügte Gespräche verwickelt. Herr Preindl hatte es auf die Einsamen abgesehen, die, die die Seitenwege benutzten, um mit ihren Gedanken und ihrem Kummer allein zu sein.

Schon wenn einer vor dem Denkmal des großen Nationaldichters stehenblieb und die Inschrift las, konnte man sicher sein, dass er vom Hauptweg abweichen und in den Seitenweg einbiegen würde. Dort wartete der soignierte Herr Preindl, der auch im Sommer immer Sakko und auf dem Kopf einen Strohhut trug. Um nicht altbacken zu wirken, verzichtete er manchmal auf Socken und steckte die nackten Füße in ledergeflochtene Slipper.

Kam dann so ein einsames Flieglein des Weges, versuchte er seinen Gemütszustand mit wenigen Blicken zu erfassen. "Oh da ist aber jemand ganz desparat," sagte er mitfühlend. "Das ist ja nicht anzuschauen! Wollen sie sich setzen und einem Fremden erzählen, was sie bedrückt?" Die meisten schenkten ihm nur einen kurzen Blick und gingen weiter. Manche lächelten ein wenig und lehnten dankend ab. Hin und wieder aber wurde einer oder eine doch neugierig und setzte sich zu ihm.

Ging es um Schulprobleme, um Streit mit den Eltern oder unbezahlte Rechnungen, war Herr Preindl enttäuscht. Mit solchen Lappalien wollte er sich nicht aufhalten. "Ja, da musst du eben einlenken, immerhin sind sie deine Eltern," sagte er dann, oder "Sieh zu, dass du dir Geld verdienst. Im Eissalon werden laufend Verkäuferinnen gesucht. Hier herumzusitzen wird deine Lage nicht verbessern." Nur wenn ein Flieglein eingestand, dass es unglücklich verliebt oder verlassen worden war, erwachte sein Interesse.

Von Knaben und jungen Männern ließ er sich schildern, wie das Objekt ihrer Begierde aussah, wie es sich kleidete, welche Intimitäten es bevorzugte, ob es Vulgärsprache verstand und ob Nacktaufnahmen von ihm existierten. "Und bist du dir sicher, dass du ihr einen Orgasmus verschaffen konntest?" fragte Preindl teilnahmsvoll. Wenn der junge Mann dann seufzte und die Achseln zuckte, lehnte er sich lachend zurück und sagte: "Oh du musst noch so einiges lernen, lieber Freund!" Viele dieser Gespräche endeten abrupt, weil der Befragte plötzlich misstrauisch wurde oder bei aller Enttäuschung nicht zum Verräter an der begehrten Person werden wollte.

Viel ergiebiger waren Mädchen und junge Frauen. Sie ließen sich zwar seltener auf ein Gespräch ein, gaben dann aber gern und detailliert Auskunft über ihre Erlebnisse. Manche schimpften, manche weinten, manchen taten beides gleichzeitig. Und immer war das Verschmäht-worden-sein eine sehr emotionale Angelegenheit, die Herrn Preindl die Gelegenheit bot, kleine Schlüpfrigkeiten an passender Stelle oder aber den Arm um die Schultern der Aufgewühlten zu platzieren. Manche ließen sich auch ein beruhigendes Tätscheln des Knies gefallen, und ganz dumme Flieglein fanden nichts dabei, wenn er seine Hand auf ihren Busen legte und fragte, ob dort der große Schmerz seinen Sitz habe.

Angereichert mit solchen Eindrücken machte er sich auf den Heimweg. Sie bescherten ihm einen anregenden Abend und eine entspannte Nacht. Wenn ihm ein Flieglein ein weiteres Mal begegnete, wandte er sich ab und tat, als würde er es nicht wiedererkennen. Er hatte kein Interesse an aufgewärmten Geschichten und an einem unvermuteten Happy End schon gar nicht. Er selbst war in jungen Jahren eine Ehe eingegangen, musste aber bald feststellen, dass ihm die Anwesenheit einer vollständigen zweiten Person Unbehagen bereitete. Gern hätte er weibliches Stückwerk nach Bedarf zur Verfügung gehabt.

Mitte Oktober saß Herr Preindl zum letzten Mal auf seiner Parkbank. Die Tage waren noch lau, aber wenn die Sonne unterging, konnte es empfindlich abkühlen. Er wollte schon den Heimweg antreten, als ihm eine leise Ahnung verriet, dass er heute noch eine interessante Begegnung haben würde. Und tatsächlich erschien wenig später ein junges Mädchen vor dem Denkmal des großen Nationaldichters und begann die Inschrift zu studieren.

Sie hatte langes schwarzes Haar und lange Beine in schwarzen Nylonstrümpfen. Dazu trug sie ein kurzes Schottenröckchen, eine weiße Bluse und ein schwarzes Jäckchen. Leider steckten ihre Füße in den üblichen schwarzen Schnürstiefeln, die die Person um einiges größer und trittfester erscheinen lassen. Herr Preindl mochte solche Schuhe nicht, musste aber zugeben, dass sie in Verbindung mit schmalen Waden einen reizvollen Gegensatz erzeugten.

Das Mädchen ließ sich Zeit, so als wollte sie die Inschrift auswendig lernen. Sie wird doch nicht verabredet sein, dachte er besorgt. Endlich löste sie sich von dem Denkmal und bog in den Seitenweg ein. Jetzt konnte er sehen, dass sie schnurgerade schlanke Beine hatte und ihre Umhängetasche quer über der Brust geschultert. Lange Stirnfransen teilten das Gesicht in eine obere und eine untere Hälfte. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Eine leibhaftige Anime kam auf ihn zu. Nach ein paar Schritten blieb sie wieder stehen, kramte nach ihrem Smartphone und begann darauf herum zu wischen. Beeil dich, dachte er, gleich geht die Sonne unter!

Plötzlich hatte sie es eilig und kam rasch näher, ihr glattes Haar schlug schwer nach rechts und links im Takt ihrer Beine. Sie hielt den Kopf gesenkt. Als sie sich seiner Bank näherte, sagte er leise: "Na, da ist aber jemand ganz in Gedanken versunken. Wollen sie einem neugierigen älteren Herrn erzählen, was sie so beschäftigt?" Sie blieb stehen, sah ihn kurz an und nickte. Dann ließ sie sich nieder. Er war überrascht, wie nahe sie sich zu ihm setzte. Als sie ein Bein über das andere schlug, knisterten ihre Nylonstrümpfe.

Da sie nichts weiter sagte, sondern nur den Kopf hängen ließ, nahm er das Gespräch wieder auf. "Ist es die Liebe, das ewig-alte Thema, das uns ein Leben lang zu schmerzhaft in seinem Bann hält?" Sie nickte und er glaubte ein leises Schluchzen zu hören. Aus ihrem Haar stieg ein Duft von Magnolien, Moschus und Tuberose. Als ihre Schultern zu beben begannen, legte er ihr die Hand auf den Rücken und führte sie langsam über ihr Rückgrat. "Armes Kind, keiner ist es wert, dass man so um ihn weint."

Da wandte sie ihm ihr Gesicht zu und er erschrak. "Und keiner ist es wert zu leben, der mich so anrührt," antwortete der junge Mann mit Hass in den Augen. Im selben Moment drang etwas Hartes in Preindls Kehle. Er sah sein Blut aufspritzen und mit schwindenden Sinnen griff er nach der kräftigen Hand unter seinem Kinn, wie um sich daran festzuhalten. - Herr Preindl wurde nach Sonnenuntergang von einem jungen Pärchen gefunden, das unverzüglich Rettung und Polizei verständigte. In seinem Hals steckte ein gewöhnliches Küchenmesser mit einer Länge von etwa zwanzig Zentimetern.
 



 
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