Herzenskind

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L.emma

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Herzenskind

Ich sitze am Küchentisch und starre auf die Uhr. Mit jedem Ticken wird meine Brust enger und ich spüre, wie meine Finger die Teetasse immer fester umklammern. Ich warte auf den Anruf der Schule. Er wird kommen. Die leeren Augen meiner Tochter haben es mir verraten. Sie wird heute nicht in die Schule gehen, sie wird draußen irgendwie die Zeit totschlagen und zurück sein, als wäre nichts gewesen. Angespannt nehme ich einen Schluck meines nun kalten Schwarztees mit Milch.

Kaum, ist dieser geschluckt, reißt mich- pünktlich um 8:30 Uhr - das Klingeln des Festnetztelefons aus meinen Gedanken. Es liegt längst vor mir auf dem Tisch und die Anruferkennung bestätigt meine Vermutung. Es ist die Schule. Als ich mit zitternden Fingern danach greife kommt es mir vor, als würde alles in Zeitlupe von statten gehen. Ich drücke auf den grünen Knopf und presse das Gerät an mein Ohr.

„ Hallo, Frieda Schwarz?“, plärre ich hektisch ins Telefon. „ Guten Morgen, Frau Schwarz. Herr Heinrich hier, der Direktor ihrer Tochter Leonie. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Leonie schon wieder nicht in der Schule ist. Sie sollten sich langsam Gedanken darüber machen, wie es weiter gehen soll, denn wir können sie nicht länger halten. In Deutschland herrscht Schulpflicht. Wenn das so weiter geht, muss ich die Polizei einschalten“

„ Ich verstehe. Ich werde heute mit ihr zum Arzt gehen. Bitte schalten sie die Polizei noch nicht ein!“, der letzte Teil verlässt meinen Mund wesentlich lauter als beabsichtigt. „Gut tun sie das. Auf Wiederhören“ , beendet die schroffe Stimme des Direktors abrupt unser Gespräch. Arschloch. Als hätte ich gerade keine anderen Sorgen, als die verdammte Schulpflicht. Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist. Dieser Gedanke frisst sich immer tiefer in meine Gehirnwindungen, bis kalte Schauer durch meinen Körper rinnen und ich aufspringe, um meinen Mantel zu holen. Ich muss sie finden. Nicht die Polizei, ich. Schnell schnappe ich meinen Schlüssel aus der Schale und bemerke, dass meine Schuhe noch fehlen. Also schlüpfe ich in meine verschmutzten Gummistiefel und stürme zur Tür hinaus.

Nachdem ich die ersten Meter zwischen mich und die Haustür gebracht habe, bleibe ich stehen, um in meiner Tasche nach dem Handy zu suchen. Wahrscheinlich wird sie nicht dran gehen, aber einen Versuch ist es wert. Als ich das verdammte Ding endlich finde, scrolle ich schnell durch meine Kontakte und drücke auf Leos Nummer. Während es klingelt, laufe ich aufgeregt im Kreis. Ruhig stehen bleiben funktioniert einfach nicht.

Bitte geh ran! Geh doch ran! Aber es tutet einfach weiter, bis mir eine blecherne Frauenstimme sagt, dass mein Gesprächspartner zurzeit leider nicht erreichbar ist. Frustriert und panisch lege ich auf. Wo könnte sie sein? Ich versuche mich an all die Orte zu erinnern, die ihr einst etwas bedeuteten. Doch ich habe schon so lange nicht mehr wirklich an ihrem Leben teil gehabt. Sie hat sich die letzten Jahre immer mehr vor mir verschlossen, sodass ich im Moment nicht einmal mehr ihren Lieblingsort kenne.

Wann hat sich unsere Beziehung so sehr verändert? War es mit zwölf, als sie mir erzählte, dass sie die Nacht mehr liebt als den Tag? Weil zu diesen ruhigen Stunden niemand etwas von ihr erwartet. Während ich die Straße weiter entlang laufe, versinke ich immer tiefer in Gedanken. Ich erinnere mich zurück an meine Schwangerschaft. Ich war bereits 43, als ich sie unter meinem Herzen trug. Sofort denke ich an meine Mutter zurück. Dieses Biest. Sie wollte mich damals zu einer Abtreibung bringen, weil ich angeblich zu alt für ein Kind war. Weil ich Single war. Ja, meine Kleine war für sie nur ein Unfall, doch für mich ist meine Tochter ein Geschenk. Ich wollte immer Kinder haben. Allerdings fand ich nie den passenden Mann, um eine Familie zu gründen. Leos Erzeuger will auch nichts von ihr wissen, aber immerhin zahlt er Unterhalt. Vermutlich nur, dass ich ihn damit nicht nerve. Ich weiß bis heute nicht, ob seine Familie überhaupt Kenntnis von Leos Existenz hat. Wieder erscheint mir das Bild meiner Mutter im Geiste. Die tiefe Falte zwischen ihren Augen, die für mich das Sinnbild ihrer Verbitterung darstellte. Ihre schmalen roten Lippen, die sie meistens zusammen presste. Die zu einem strengen Dutt hochgesteckten Haare, bei denen es keine Strähne wagte abzustehen. All die Streitigkeiten, die Ohrfeigen und das darauf folgende Ignoriert-werden. Schon mit 16, als ich bei meinen Eltern auszog, wollte ich eine Tochter, um sie vollkommen anders zu erziehen.

Doch den Großteil meines Lebens habe ich nur als Krankenschwester gearbeitet und bin von einer beschissenen Beziehung in die Nächste gerutscht. Erst, als ich beinahe die Hoffnung verloren hatte, jemals ein eigenes Kind zu bekommen, klappte es. Gut, bei ihrer Zeugung war viel Alkohol und das typische „verrutschte“ Kondom im Spiel. Nichts desto trotz habe ich mich damals gefreut und sie seit dem Moment, als mir der Frauenarzt meine Vermutung bestätigte, über alles geliebt. Die Worte meiner Mutter spuken mir dennoch durch den Kopf. Bin ich zu alt? Bin ich zu allein? Kann ich ihr deshalb nicht genug bieten? Ja, ich arbeite noch immer halbtags als Krankenschwester. Glücklicherweise mittlerweile im ambulanten Dienst. Dort geht es doch ein bisschen flexibler zu, als im Krankenhaus. Ich habe dort auch eine wirklich gute Kollegin, die häufig für mich einspringt, wenn mein Kind mich braucht. Allerdings verdiene ich nicht wirklich viel. Ohne den Unterhalt, den ihr Erzeuger uns zahlt, wären wir aufgeschmissen. Außerdem brauchte ich früher immer einen Kinderhort, denn „flexibler“ heißt noch lange nicht flexibel. Auch heute habe ich nachmittags noch die Spätschicht.

Meine Füße tragen mich weiter die Straße entlang, doch ich bemerke kaum, wie sich meine Umgebung verändert. Es überrascht mich, als ich plötzlich vor dem -unserer Wohnung nahe liegenden- Wäldchen bin.

Meine Gedanken schweifen wieder ab und ich beginne mich an schönere Tage zu erinnern. Damals, als mein Töchterchen noch Zöpfe trug. Sie war so ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Jedes Mal, wenn wir durch besagten Wald gingen, fand sie etwas Neues, das sie faszinierte. Einmal zum Beispiel, im Herbst als die Baumkronen in allen möglichen Farben erstrahlten, hob sie von jeder Sorte Blatt eines auf und schrie begeistert. „ Mama, Mama. Schau, wie viele Verschiedene es gibt. Keines sieht aus, wie das Andere. Das ist sooo toll!“ Ich schmunzle leicht, als ich mich an ihre kindliche Begeisterung über etwas für mich so Selbstverständliches erinnere. Doch ich spüre auch, wie meine Augen beginnen feucht zu werden. Zu dieser Zeit war noch nichts von der jetzigen Schwere in ihrem Wesen zu erkennen.

Auf einmal durchfährt es mich wie ein Blitz. Sie mag sich verändert haben, doch in ihrem Inneren lebt das kleine Mädchen weiter. Sofort beginne ich zu rennen. Die Bäume um mich herum, verschwimmen zu einer einzigen grünen Masse, doch meine Beine kennen den Weg. Als ich langsamer werden muss, um mich durchs Unterholz zu schlagen, spüre ich das erste Mal, wie sehr mir die Luft wegbleibt und das Gefühl des Seitenstechens. Aber stehen bleiben ist keine Option. Ich spüre nicht, wie mir Äste die Haut zerkratzen, ich strebe einfach wie in Trance meinem Ziel entgegen.

Endlich beginnt Hoffnung meinen Körper zu durchströmen, denn ich kann vor mir die schillernde Oberfläche des Waldteichs ausmachen. Einst war dies Leos Lieblingsort. Wenn sie Kummer hatte, suchte sie ihn immer auf. Meine Schritte werden wieder länger und schneller. Nachdem ich den wunderschönen und ruhigen Ort laut keuchend erreiche, muss ich meine Hände gebückt auf meine Oberschenkel stützen. Doch trotzdem, wandert mein suchender Blick über meine Umgebung. Da! Da sitzt sie! Unendliche Erleichterung macht sich in mir breit.

Leo lehnt an einer großen Eiche. Ihr Blick ist starr und leer auf den Teich gerichtet, ihre Büchertasche achtlos in den Schmutz gelegt. Doch sie ist da, physisch unverletzt. Ich spüre, wie meine Augen brennen und kurz darauf tropfen Tränen von meinem Kinn. Mit verschwommenem Blick renne ich zu meiner Tochter. Ich stolpere über Wurzeln, doch merke es kaum. Nachdem ich, immer noch weinend, neben ihr ankomme, versuche ich mich zu beruhigen. Als dies halbwegs geschafft ist und meine Tränen weggewischt sind, sehe ich sie erneut an. „ Leonie“, ist alles was betont ruhig, doch leicht zittrig meinen Mund verlässt. Ich bin froh, dass sie reagiert. Langsam dreht sie ihren Kopf in meine Richtung. Es wirkt, als wäre er zu groß für sie und viel zu schwer. Die Augen meiner Tochter blicken aus schweren Lidern zu mir empor. Nach etlichen Sekunden haucht sie: „Mama?“ Es wirkt, als wüsste sie nicht recht, ob ich Realität oder Traum bin. Ich knie mich zu ihr auf den Boden und antworte: „ Ja, ich bin hier. Ich bin bei dir“. Ihre Augen beginnen leicht zu schimmern und nur eine Sekunde später beginnt sie, zu weinen. Mir zugewandt schluchzt sie: „ Eees tuut mmmiir Lllleid! Bbbist du böse?“ Sofort beginnen auch meine Tränen wieder zu fließen. Ich nehme mein zitterndes, schluchzendes Kind in den Arm. Beruhigend streiche ich ihr über den Rücken. Ich wiege sie vor und zurück, wie ein kleines Kind. Als ich meine eigene Fassung wiedererlangt habe, versichere ich ihr: „ Nein, ich bin dir nicht böse. Ich habe gar keinen Grund dazu. Dir geht es schlecht, aber wir werden einen Weg finden. Gemeinsam.“ Ich drücke meine kleine Leo noch ein wenig fester an meine Brust. Natürlich werden wir all das überwinden. Immerhin ist sie doch mein Herzenskind!
 
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