Corinna Thiers
Mitglied
Herzlich Willkommen
Ein kleines Männlein hüpft durch die Welt. Etwas unscheinbar?
Sag, was willst Du, kleines Männlein? Sag, was tust Du hier? Das Männlein grinst verschmitzt und zückt die Flöte. „Folge mir! Ich bin der Rattenfänger von Hameln.“ Es dreht sich einmal um seine eigene Achse, leicht und vergnügt. Freude im kantigen Gesicht, mit beweglichen, federnden Beinen.
Das kleine Männlein - mit spitzen Koboldschuhen und abgewetzter Kleidung - in dürrer Gestalt springt es behände. Glühende Augen, die nichts Gutes verheißen. Im Auftrag den Menschen zu verführen.
„Wer ist Dein Meister?“, fragst Du. Das Männlein aber verzieht nur die Mundwinkel zu einem leicht schrägen Grinsen und in Dir verdunkelt sich beunruhigt das Herz und zieht sich zusammen.
„Na...?“, fragt es in einem Ton, der nur im Hintergrund düster und gefährlich anmutet und ganz vorne laut und aufregend, ja, mitreißend klingt. Es wird dieses Wort lang ziehen und ganz zum Schluß den Ton erhöhen. Die bizarre Schwingung seiner Stimme wird Dich verunsichern, aber fesseln. Vehement und betörend.
Das Männlein kennt es! Das, woran Du Dich klammerst und was Du begehrst – in der Sphäre, in der Licht und Finsternis beheimatet sind und sich einen erbitterten Kampf liefern.
Und während Dein Begehr Deine Lippen verlässt, wird der kleine Kobold die Flöte an die seinen führen. Ein Dämmerzustand wird Dich erfassen. Und die Melodie wird Dich in jenem Zustand halten. Du lauschst. Lauschst. Und in Dir ballt sich ein flüsterndes Stimmengewirr zusammen. Fragen und Fragesfragen steigen die Leitersprossen langsam immer höher. Hinauf zur Spitze der Zweifel: Was ist richtig, was ist falsch? Was gut, was böse? Ein Durcheinander aus sich tummelnden Stimmen. Du lauschst weiter. Und einfach so, fällst Du in einen tiefen Schlaf, in dem sich allerhand Illusionen zu einer neuen Realität versammeln. Manche Berge sind höher als das „Ich“ - „Ich“ erhaltend.
Ein düsteres, breites Grinsen: „Herzlich Willkommen in der Dualität!“, ruft das Männlein überzogen fröhlich aus, hüpft und wirbelt im Kreis. Das Grinsen seiner schmalen Lippen ist breit. Seine Augen leer und kalt. Seelenlos. Seelenlos düster würde in lichtvoller Segnung ermatten. Aber leider nicht hier. Leider hier nicht.
„Ich bin der Rattenfänger von Hameln“, strahlt das kleine Männlein. Finsteren Blickes, presst es nun, fast flüsternd, die Worte durch die Zähne: „Und ich erschaffe Dir die Illusion von Dualität und `wir - sind - alle - eins`.“ Seine Augen funkeln verschwörerisch. Nur im strahlenden Licht wirst Du sehen können, dass in seinen Augen die Verführung ohne wahre Erfüllung verborgen liegt. Ohne den tiefen Genuss des „Stehen- Bleibens“ ohne Begehr. Zu verführerisch, ums nicht zu glauben.
Und dein Herz wird schwer. Dein Herz wird finster. Dein Herz wird nicht mehr atmen. Ganz leise, ganz leise: „Psssst.“ Für eine lange Zeit wird es nicht sein. Und was Du glaubst, geht verloren. Wahrheit – welcher Gestalt wird sie Dir sein?
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In der Reihe der fühllosen Ratten, die das Männlein mit seiner Flöte bespielt, wirst Du nur eine von vielen sein... möge Dein Herz den Weg der Umkehr wieder aufnehmen und alles langsam einreißen, was Du erbaut hast, um in der Illusion verbleiben und den kurzen Genuss des „Schön und Hässlich“ erfahren zu können. Nur kurz, viel zu kurz. Der Genuss der einen, echten Liebe im Kreislauf des Lebens, mit den Händen berührbar auf Erden, der Genuss des Erfolges, der Genuss des Habens. Der Genuss des Brauchens. Den Genuss zu genießen. Die Angst und den Mangel. Du wirst jeden Genuss zu kosten versuchen, doch was wird Deine größte Pein? Dein stärkstes Begehren? Die Illusion kennt keine Grenzen, denn ziemlich alles ist erlaubt im Spiel der Spiele – der bitteren Realität. Der „Genuss“ des Hierseins wird Dir abhanden kommen, denn was bist Du ohne Deine Seele, Deinen Schöpfer, Deinen Gott?
Dem Sinn? - Ach so, der Herr ist nicht Dein Gott. Ach so. Ach so. Dann trennen sich hier unsere Wege. Gute Reise Dir.
„Ich bin der Rattenfänger von Hameln...“, wird es nun also in Dir nachhallen. „Und ich bin der Prinz der Illusion.“ Gefolgte Vorstellungen von Illusionen verfolgen Vorstellungen von Illusionen. Darüber hast Du vergessen, Deine eigene Stimme des Herzens zu hören und tief erkennend zu erblicken. Dein „Ich“ aufzulösen. Wirst dich entweder zu wichtig nehmen oder ignorieren. Dein Geist braucht die feste Verbindung mit dem, der Dich schuf. Doch auch das wirst Du vergessen haben.
„Ich bin der Rattenfänger von Hameln.“ Das Männlein wird nur kurz pausieren, wird nur kurz über das Holz seiner Flöte streichen und seine Augen werden leuchten. Rot und glühend. „Und ich komme, um Dich mitzunehmen. Eine Weile nur wirst Du bei mir verbleiben. Du wirst vergessen wer Du bist. Dein Herz wird nur noch leise schlagen. Und Du wirst vergessen zu glauben.“
Das Männlein wird nun schallend lachen. Sein lautes Lachen wird in Deinem Kopf nachhallen, verbleiben. Und in den Ohren schmerzen. Aber Du wirst es für wahr halten. Sein gieriger Zeigefinger schlängelt die Geste des „Komm schon, komm!“
„Lass uns einen Pakt schließen,“ wird das Männlein zischen, nun den linken Zeigefinger auf die Flöte klopfend. Eine widerlich drohende Geste. Heute nur und nur hier. Es braucht keine Verträge, da es die Illusion des schuldtriefenden, gedankendrehenden, magisch - ritualisierten Wortes kennt, während Du die Gefahr dahinter erst erkennen wirst, wenn Du beginnst, den Kreislauf seiner manipulierenden Lügenflut zu durchschauen. Statt dessen der Kraft Deines fühlenden Herzens Raum gibst. Weit und weiter, hinauf in den Himmel.
„Ich bin der Rattenfänger von Hameln“, wird das kleine Männlein immer wieder sagen und eine Ratte nach der Anderen einfangen.
Tröste Dich, oh Seele, Du bist eine von vielen!
Auf diesem Weg, dem Spiel menschlichen Daseins, wird es keine Seele auslassen. Es wird die Flöte wieder und wieder spielen und die Menschen werden ihm folgen. Nur wenige werden widerstehen.
Eine riesige Menschenmasse folgt ihm durch die Stadt bis zu einem überdimensionalen Tor. Gewaltig, ja, riesengroß, liegt es vor Dir. Was liegt wohl dahinter?
Das Tor öffnet sich. Was ists, was darin vibriert? Lass es uns doch Illusionenmeer nennen. Du gehst hindurch mit all den anderen Seelen. Das Männlein bleibt davor stehen, es wird euch nicht weiter begleiten.
„Ich bin der Rattenfänger von Hameln,“ ruft es euch hinterher – laut, ja feierlich. „Ich komme, um euch das Leid und die Freude zu lehren.“
Doch nur kurz. Ganz kurz nur.
Das Tor schließt sich mit einem Knarren und einem Knall.
Liebe Seele, willkommen in der Welt der Illusion und der Täuschung! Lass es uns Illusionenmeer nennen. Willkommen in der Sphäre in der Licht und Finsternis beheimatet sind. Ach, wie schön es hier ist. Wer ist wohl der Meister dieser Welt?