Hexenwerk

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MelP

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Hexenwerk

Schon in dem Moment, als ich das Buch das erstemal in der Hand gehalten hatte, wusste ich, dass es etwas ganz Besonderes war. Völlig zerfallen, die Seiten aus einer Art brüchigem Pergament mit altdeutscher Schrift bedruckt. Der Einband schlicht braun, die Ecken abgeknibbelt und die ehemals goldene Beschriftung verblasst, wirkte es optisch eigentlich nur alt. Aber sofort, nachdem ich es in die Hand genommen hatte, kam es mir vor, als würde es ein leises Summen von sich geben und kleine elektrische Stöße in meine Handfläche abgeben. Mein Interesse war geweckt. Es hatte auf dem Dachboden in einer alten Kiste zwischen verwitterten Bauzeichnungen und Lageplänen gelegen. Der Daten der übrigen Unterlagen nach zu urteilen, musste es in etwa der Lebzeit meines Urgroßvaters zuzuordnen sein.

Fasziniert blickte ich es von allen Seiten an und wog es nachdenklich in der Hand. Was war das für ein merkwürdiges Gefühl? Vorsichtig pustete ich den Staub vom Einband und schlug die erste Seite auf. In diesem Moment legte sich ein fürchterlicher Druck auf meine Kehle, so als griffe eine Hand meinen Hals und drückte fest zu. Von Panik ergriffen ließ ich sofort das Buch fallen, um meinen Hals von dem Würgegriff zu befreien. Aber genau in diesem Moment ließ der Druck nach und ich griff ins Leere. Angsterfüllt blickte ich mich auf dem halbdunklen Dachboden um, hatte auf einmal das Gefühl, dass mich aus allen Ecken und Winkeln jemand beobachtete. Aber da war nichts zu sehen. Nur das Buch lag da.

Hektisch stand ich auf und verließ durch die Bodenluke den Dachboden, versicherte mich noch zweimal, ob die Luke auch fest mit dem Riegel verschlossen war und flüchtete in meine Wohnung. Bei einer Tasse Kaffee grübelte ich, was gerade dort oben geschehen war. Eine Erklärung fiel mir jedoch beim besten Willen nicht ein. Die Hand, die meine Kehle zusammengedrückt hatte, kam mir auch jetzt im Nachhinein noch so real vor wie vor ein paar Minuten dort oben. Es tat sogar noch ein wenig weh. Der Gedanke an das gerade Erlebte jagte mir Schauer über den Rücken und meine Hände hatten bis jetzt nicht aufgehört zu zittern.

Bis zum Abend lenkte ich mich durch Büroarbeit ab, brachte jedoch nichts Produktives zustande und ließ es schließlich sein. Wie ein dunkler Schatten verfolgte mich das Ereignis auf dem Dachboden die ganze Zeit, so als ob es in meinem Hinterkopf lauern würde, nur um wieder herauszuspringen. Um mich zu beruhigen schaltete ich den Fernseher und die Dolbysurroundanlage ein, legte eine Komödie in den DVD-Player und entkorkte eine Flasche Rotwein. Nachdem ich es mir auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und der Film schon eine ganze Zeit lief, fiel mir auf, dass ich dem Film nicht folgte und schon wieder an den Nachmittag dachte. Verflucht, wieso konnte ich dieses „Gespenst“ nicht endlich loswerden?

Nach einer Weile war ich wohl eingenickt und schrak von einem gewaltigen Knall geweckt auf. Das Rotweinglas polterte zu Boden und hinterließ einen dicken roten Fleck auf dem cremefarbenen Velours. Mein Herz raste und konnte spüren, wie das Blut hektisch durch meine Halsvene katapultiert wurde. Vor Angst wie gelähmt stand ich wie angewurzelt in meinem Wohnzimmer und lauschte. Alles was ich hören konnte, war mein Herzschlag. Ansonsten war alles totenstill. Der DVD-Player hatte sich nach Filmende abgeschaltet und der Fernseher verbreitete ein sanftes blaues Glühen. Das heftige Zittern meiner Knie ignorierend schlich ich langsam und leise zum Schrank an der Wohnzimmerwand und öffnete die Schublade. Sie gab ein langgezogenes Quietschen von sich, als ich sie öffnete. Als ob das Geräusch dadurch leiser werden würde, kniff ich die Augen zusammen, zog die Schultern hoch und sog scharf die Luft zwischen meinen Zähnen hindurch.

Ich bewegte mich eine Weile nicht und lauschte angestrengt, hörte aber nichts. Dann griff ich leise in die geöffnete Schublade und holte meinen Elektroschocker heraus. Ich legte den Trageriemen um mein Handgelenk und entsicherte das Gerät. Gerade als ich Richtung Flur losschleichen wollte, hörte ich Schritte. Direkt über mir. Mir stockte der Atem. Schritte auf dem Dachboden. Meine Hand krampfte sich um den Elektroschocker. Die Schritte bewegten sich langsam über den Dachboden und verklangen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was tun? Das Mobiltelefon lag in der Küche – das würde bedeuten, dass ich direkt unter der Dachbodenluke hindurch müsste. Hektisch blickte ich mich um. Eine Flucht über Fenster und Balkon war nicht möglich, ohne sich sämtliche Knochen zu brechen, meine Wohnung befand sich in der 2. Etage.

Während ich noch überlegte, was ich jetzt tun sollte, hörte ich ein metallisches Klicken. Ich wusste das Geräusch sofort einzuordnen, so als ob ich es fast erwartet hätte. Der Riegel der Dachbodenluke! Mit einem langgezogenen Quietschen und einem anschließenden dumpfen Knall wurde die Leiter nach unten ausgefahren. Langsam wich ich Schritt für Schritt zurück. Die Angst raubte mir fast die Sinne. Urplötzlich zuckte draußen blendendweiß ein Blitz über den Abendhimmel und tauchte meine Wohnung in bizarres bläulich-weißes Licht. Bruchteile von Sekunden später rollte ein gewaltiger Donnerschlag über das Haus hinweg, so dass der Boden unter meinen Füßen erzitterte. Mechanisch wich ich von der Wohnzimmertür in Richtung Balkon zurück. Draußen zuckten wieder Blitze. Stakkatohaft konnte ich das Zimmer wie von einem Stroboskop beleuchtet alle paar Sekunden mit überdeutlicher Schärfe erkennen. Der Donner rollte wie in gigantischen Wogen über dem Haus hin und her.

Wie hypnotisiert starrte ich auf meine angelehnte Wohnzimmertür, die mich vom Flur und der Dachbodenluke trennte. Durch den Donner, der jetzt keine Pause mehr zu machen schien, konnte ich nicht hören, ob sich dort oben noch etwas regte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, was passieren würde. Übelkeit schnürte mir vor Angst fast die Luft ab und ich konnte kaum noch atmen. Das Blut rauschte in meinen Ohren so laut wie der Donner draußen. Dann schien das Unwetter mit einem gewaltigen Donnerschlag, der fast wie eine Explosion klang, seinen Höhepunkt zu finden. Ich fuhr zusammen und sackte in die Knie. Der Strom war ausgefallen, jedenfalls war der Fernseher nun aus und auch von den Straßenlaternen draußen drang kein Licht mehr herein. Es herrschte absolute Ruhe. Kein Donner und kein Blitz mehr.

Unvermittelt hatte ich – ohne etwas sehen zu können – den Eindruck, dass jemand direkt neben mir stand. Meine rechte Hand krampfte sich noch fester um den Elektroschocker und die linke krallte sich so fest in den Fußboden, dass meine Nägel brachen. Das Gefühl intensivierte sich noch und kurz bevor die Spannung und Angst unerträglich zu werden schienen, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Genau in diesem Moment wusste ich, dass mir nichts passieren würde. Ohne Grund wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass ich nicht mehr in Gefahr war und auch niemals in Gefahr gewesen war. Mein gesamter Körper entspannte sich, die Anspannung wich einer gelösten Neugierde.

Die Hand ruhte noch immer auf meiner Schulter wie die eines Freundes. Ein leichter und zugleich fester Handgriff. Dann flüsterte mir eine rauchige Frauenstimme ins Ohr. „Ich wollte Dir nur zeigen, welche Macht das Buch hat. Hüte es gut und lass nie Schlechtes durch Deine oder seine Macht geschehen.“ Ich versuchte den Kopf zu wenden, um etwas erkennen zu können. „Warte.“ sagte die Stimme. „Du wirst mich ohnehin nicht sehen können. Dieses Buch wird nur innerhalb des weiblichen Nachwuchses unserer Familie weitergereicht. Dein Urgroßvater und ich und deine Großeltern hatten nur Söhne. Du bist erste Frau, die nach mir in unserer Familie in direkter Linie geboren wurde. Solange hat die Macht des Buches geruht, doch nun bist du soweit, die Verantwortung zu übernehmen.“ Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Dann bist Du...“, ich stockte. „Deine Urgroßmutter, ja genau. Lies das Buch gut durch, es wird dir sagen, was Du zu tun hast. Es wird dir eine magische Anleitung sein und dein Begleiter bis zu deinem Tod. Du wirst Dir und anderen Menschen mit den Möglichkeiten, die dir das Buch eröffnet in vielen Lebenslagen helfen können – doch vergiss nicht: Nutze es nie für Negatives, die Rache würde auf Dich zurückfallen.“ „Aber woher weiß ich, was ich tun soll oder wie ich es nutzen soll?“ fragte ich ins Dunkle. „Du wirst verstehen...“ sagte meine Ahnin leiser werdend. Mit einem gehauchten Lebwohl verschwand das Gefühl, jemanden neben mir stehen zu haben.

Wenig später gingen draußen die Straßenlaternen wieder an und mein Fernseher schaltete sich mit einem schwarz-weißen Störbild wieder ein. Ich saß immer noch am Boden und als ich den Kopf wendete, sah ich das Buch neben mir liegen. Genau dort, woher die Stimme zu mir gesprochen hatte. Als ich es hochnahm, bemerkte ich meine blutenden Finger. Sofort hatte ich wieder das summende Gefühl in der Hand, mit der ich das Buch hielt. Ich begann zu lesen. Es bereitete mir merkwürdigerweise keine Mühe, die altdeutsche Schrift zu entziffern. Es begann mir einer fast leeren Seite, auf deren oberen Abschnitt mein Name in geschwungenen Buchstaben geschrieben stand. Verwundert blätterte ich weiter. Die folgende Seite begann mit dem Namen Elisabeth Wagner – das war der Name meiner Urgroßmutter. Anschließend folgte eine Art magische Biographie in Kurzform. Dort stand, welche Zauber sie gewirkt hatte, welche Menschen und Tiere sie geheilt hatte, welches Wissen sie erworben hatte.

Ich blätterte weiter und auch auf den Seiten danach waren jeweils Frauennamen mit einem kurzen Abriss ihrer magischen Tätigkeiten verzeichnet. Nach meiner Urgroßmutter standen dort noch fünf Frauen, die höchstwahrscheinlich meine Vorfahrinnen waren. Ich war also Teil einer magischen Dynastie – einer Hexenfamilie. Und ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na

wat denn, soll ds schon alles sein? mach einen roman daraus, der anfang ist klasse. ganz lieb grüßt
 

Aneirin

Mitglied
Hallo MeIP,

Deine Geschichte hat ein gutes Thema, das der Aufhänger für eine Reihe vonbspannenden Storys werden kann, aber in der Mitte hat sie einen Hänger. Die Schilderung mit dem Gewitter, den Geräuschen vom Dachboden und der Angst Deiner Protagonistin ist einfach zu lang, als dass da noch echte Spannung aufkommen könnte. Wenn Du diesen Teil kürzt, wird das der Geschichte gut tun.

Die Reaktion Deiner Protagonistin auf den Geist der Urgroßmutter ist erstaunlich, nachdem sie vorher Todesangst ausgestanden hatte. Selbst wenn sie sich nicht mehr bedroht fühlt, würde sie doch erschrecken, wenn ihr jemand plötzlich die Hand auf die Schulter legt. Ihr Hexentum nimmt sie dann sehr gelassen an, als hätte sie es schon immer geahnt, aber das wird nicht deutlich.

Ich würde jetzt gerne wissen, wie es weitergehen soll und was sie für Aufgaben hat. Das erwähnst du mit keinen Wort. Nachdem sie es aber sofort weiß, kaum dass sie von ihrem Hexentum erfahren hat, muss es in ihrer Vergangenheit angesiedelt sein, da wäre wenigstens ein Hinweis angebracht

Eine stilistische Anmerkung noch: "Den Daten der übrigen Unterlagen ..." klingt nach Beamtendeutsch.

Viele liebe Grüße
Aneirin
 

MelP

Mitglied
Hallo Aneirin,

vielen Dank für die hilfreichen Anregungen, ich werde versuchen, sie umzusetzen (wenn ich mal wieder Zeit dazu finde). Das mit der zu langen Passage ist sicher richtig, ich hab leider einen Hang dazu, zuviel auszuschmücken.

Die Sache mit der Hand auf der Schulter war allerdings bewusst so gewählt. Die Hauptperson sollte sogleich nach der Berührung spüren, dass alles gut ist. So durch eine Art unsichtbares Band oder so. Vielleicht kommt das noch nicht gut genug rüber. Ich werd nochmal grübeln...

Tja und das mit dem Beamtendeutsch ist wohl der absolute Treffer. Ich bin nämlich Beamtin und hab wohl aus Versehen mal in die Bescheidkiste gegriffen;-)

Nochmals vielen Dank und liebe Grüße
MelP
 



 
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