Friedrichshainerin
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Ein Mann sagt mit bösem Unterton: "Hallo. Hier spricht …" Seine Stimme verhallt hohl im Raum. Das löst bestimmt in jedem Erinnerungen aus an heimelige Kindheitsabende, wo man gut aufgehoben mit angenehmem Schaudern im Nacken inmitten der Familie vor dem Fernseher saß. Ich dagegen muss dann an Katinka, das Nachbarsmädchen, denken und den nebligen Herbsttag in unserem Dorf, an dem wir beide in der Dunkelheit zusammen draußen auf dem Sims vor der Turnhalle, die gleich gegenüber unserem Haus war, mit den Beinen baumelten.
Katinka hieß sie eigentlich gar nicht, sondern Karin. Aber ihr Name war mir zu spießig, deshalb hatte ich sie umbenannt. Ihr dagegen gefiel Karin besser. Sie warf mir öfter einen zweifelnden Seitenblick zu. Ich galt wohl schon damals als etwas verdreht.
Die Jungs mochten meine Freundin.
Als sie vierzehn war, fuhren ihre Verehrer immer mit dem Moped um unseren Block herum. Ein Mal beobachtete ich sie dabei, wie sie zu einem aufs Moped stieg. Nach einer Stunde brachte er sie wieder zurück. "Frag ich sie, oder frag ich sie nicht", ging mir durch den Kopf.
Schließlich siegte die Neugier. "Habt ihr euch geküsst?" Sie nickt stolz.
Sie passte wohl gut in unsere Gegend rein, im Gegensatz zu mir. Die Männer mochten sie auch noch, als sie eine erwachsene Frau geworden war und zwei Töchter hatte, denn als ihr erster Mann Katinka verließ, brauchte sie nicht erst durch die Bars ziehen.
Es war einfacher. Ihr Nachbar verliebte sich in sie und reichte die Scheidung ein. Jetzt sind die Beiden schon seit langem zusammen.
Hinter der gläsernen Wand, vor der wir saßen, befand sich der Ort meiner frühen Niederlagen, denn in Sport zierte mein Zeugnis meist eine Vier. Und wenn die Mannschaften gewählt wurde, kam ich immer als letzte dran.
Wir lehnten uns, während ich Katinka zuhörte, an die dicken, milchigen Glasbausteine des bodentiefen Fensters hinter uns, das die ganze Breite der Hauswand einnahm und fast bis zum Dach ging.
Ich fühle heute noch ihre stumpfe Oberfläche an den Fingerspitzen, wenn ich nur an daran denke. Die blondbezopfte Katinka ist übrigens schon mit sechsunddreißig Oma geworden.
„Gestern Abend kam ein spannender Film im Fernsehen“, erzählte meine Freundin, ein Jahr älter als ich, deren Eltern ihr erlaubten länger aufzubleiben. „Erzähl schon“, drängelte ich sie. „Anfangs sagt immer einer: „Hallo, hier spricht Edgar Wallace“, begann Katinka. Mich schauderte schon bei der bloßen Erwartung dessen, was ich jetzt zu hören bekommen würde.
Der Mann mit den Basedowaugen guckt noch einmal in den Spiegel und stellt fest, dass er noch immer nicht schöner geworden ist, bevor er in den Kleiderschrank klettert, hinter dem ein Gang liegt.
Der Hausmeister hat etwas gesehen und wird dafür um die Ecke gebracht. Dabei hat auch er noch eine Baustelle offen. Jede Nacht buddelt er im Garten. Was macht er dort? Gräbt er einen Schatz aus, eine Leiche ein, oder baut er etwa eine Gruft? Fragen können wir ihn nicht mehr.
Ein nächtlicher Garten. Das volle Programm. Das Knistern, das Wispern, das Rascheln, das Zirpen und Girren. Jetzt reicht es aber. Doch ich bin in Schwung und fabuliere weiter: das Sirren und Flirren, das Tapsen und Trapsen.
Der Kommissar und das nette Mädchen sind so mit Knutschen beschäftigt, dass sie gar nicht merken, dass jemand im dunklen Garten an ihnen vorbeiläuft. „Mist“, denkt der sich, dem unter seiner spitzen Kapuze langsam warm wird, kehrt um und läuft noch ein Mal an ihnen vorbei.
Diesmal wurde er gesehen. Der Kommissar nimmt die Verfolgung auf, das nette Mädchen immer im Schlepptau. Plötzlich verschwindet die Gestalt mit der Kapuze. Ein unheimlicher Gang tut sich auf. Der Kommissar stürzt sich furchtlos hinein. „Du bleibst hier“, ruft er seiner Verlobten zu. Wer weiß, was für Abenteuer in diesem Tunnel auf ihn lauern?
Aber das interessantere Geschehen spielte sich vor dem Tunnel ab. Den wahren Horror erlebt das nette Mädchen, denn der mit der spitzen Kapuze hat sich hinter einem Busch versteckt.
Eine behandschuhte Hand legt sich über ihren Mund. Das hat sie nicht verdient. Ob es ihr weiterhelfen würde, wenn sie wüsste, dass das das Gesicht hinter der Kapuze zu dem Steuerberater von ihrem Chef gehört?
Das werden wir jetzt wohl nicht in Erfahrung bringen, denn momentan ist sie in der Bredouille und sitzt in dem Verließ, dass eigentlich der Hausmeister noch gegraben hat, bevor es auch ihn erwischte. Wasser dringt ein. Es steht ihr schon fast bis zum Hals, aber von ihrem Verlobten ist noch immer nichts zu sehen. Der geht währenddessen einer falschen Spur nach, die mit Kreide auf die Mauern des Tunnels gemalt wurde.
Der Böse hat inzwischen die Kutte abgestreift und zwängt sich in eine Art Burkini, der grasgrün und sehr eng ist.
Aber er ist gar nicht das Original. Das linst nämlich durch den Harnisch einer Ritterrüstung auf ihn herunter.
Nachdem der Echte den Nachgemachten erledigt hat, knöpft er sich das nette Mädchen vor. „Wenn du mich heiratest, drehe ich den Wasserhahn zu“, sagt er ihr.
„Der ganze Aufwand nur wegen einer Frau?“, wird sich der Leser fragen.
In Wirklichkeit geht es aber nur um das Medaillon, dass sie schon seit ihrer Geburt um den Hals hat und in das eine geheimnisvolle Ziffernfolge eingeritzt ist.
Eine verfahrene Situation.
Wann ertönt in diesem Horror endlich die erlösende Frage: „Willst du meine Frau werden?“, die der Komminssar dem netten Mädchen stellt und die anzeigt, dass alles ein gutes Ende genommen hat.
Und wer ist eigentlich der gelenkige grüne Mann: ihr Chef, ihre Tante, der Butler, der Hausmeister, der gar nicht tot ist sondern nur so getan hat? Fragen über Fragen. Aber unterschätzt die Frauen nicht. Das Mädchen spielt nämlich nur die Unschuld vom Lande.
In Wirklichkeit war es gar kein Stellenangebot vom Jobcenter, weswegen sie in dem einsamen Castell als Sekretärin angefangen hatte.
Sie war voll im Bilde, seit sich Lord Dansmoore verquatscht hatte, und erzählte, dass er von der Malter Solorosa, einer Spinnenart, die es nur auf einer bestimmten Gefängnisinsel im Indischen Pazific gab, gebissen worden war. Jetzt wusste sie, wer der Gefängniswärter ihres Vaters gewesen war, und wer ihm das zweite Medaillon, auf dem die Hälfte der Kombination für das Bankschließfach war, geraubt hatte.
Was sie nicht wusste war, dass Lord Dansmoor sich noch etliche dieser Spinnen mitgebracht hatte. Aber wie gesagt, sie war ein Mädel, dass sich zu helfen wusste. Schließlich war sie nicht umsonst die Tochter des Einbrecherkönigs von Paris. Eine Frau weiß sich immer zu helfen. „Was ist denn das nun wieder für ein blöder Spruch?“, werden jetzt alle denken.
Weitaufgerissene Augen dürfen auch nicht fehlen. Die Frage war auch, warum ihre Augen eigentlich schreckensgeweitet waren: Vielleicht weil sie eine Spinne erblickten, einen Pfeil im Anflug, der von einem straff gespannten Bogen abgefedert ist oder den Kommissar beim turteln mit drei schönen Chinesinnen.
Wollte sie nur die Kohle, wollte sie Rache oder nichts von beidem und stattdessen mit dem Kommissar kleine Kommissare zeugen?
Und wann kommt das mit den Bildern, aus den denen die Augen ausgestochen sind und hinter denen jemand steht und alles beobachtet. Was denn für Bilder? Etwa ein Picasso? Ach ja, dass passt ja nicht zum Landhausstil.
Der Landhausstil ist gar nicht das Problem. Das wahre Hindernis für den Einzug moderner Kunst in das alte Castell ist, dass sich der Böse einen Picasso erst leisten kann, nachdem er alle anderen um die Ecke gebracht hat.
Am Ende entpuppt sich das nette Mädchen als Lesbe. Zusammen mit den drei schönen Chinesinnen, die in Wirklichkeit ihre Gespielinnen sind, nimmt sie den Koffer mit dem Geld, und sie kaufen sich eine Insel, wo sie ein Reich nur für Frauen gründen.
Die wahre Identität des Mannes mit der Maske hat man nie gelüftet. Manche behaupten, dass er jetzt unter falschem Namen in Rußland lebt und sich bis zum Präsidenten hochgearbeitet hat.
Hier endete Katinka mit ihrer Erzählung.
Jahre später
Der Mann im weißem Kittel steckte die Kanüle in das Fläschchen, zog die Flüssigkeit, von der man wusste, dass sie nichts Gutes enthielt, hoch und nährte sich spritzeschwenkend seinem Opfer, das zitternd in einer Ecke der Zelle hockt.
Ich saß Ostern mal wieder gelangweilt vor dem Fernseher und tat mir eine der Edgar Wallace Folgen an, die den ganzen Tag wiederholt wurden. Die anderen Programme waren noch öder. Und ich habe fünfzig.
Ein Highlight meiner Kindheit war der Tag, an dem unser Lehrer, bei dem wir jede Woche ein Mal vormittags vier Stunden Werkunterricht hatten, nach der ersten Stunde den Unterricht unterbrach, und wir im Fernsehraum nebenan die Wiederholung von der „Weißen Spinne“ sehen durften, die im Abendprogramm tags zuvor gelaufen war zu einer Zeit, wo die meisten von uns nicht mehr aufbleiben durften.
Damit machte er uns wunschlos glücklich.
Nach diesem verlorenen Kinderglück war ich vergeblich auf der Suche. Es wollte sich nicht mehr einstellen. Ich war eben keine zwölf mehr.
Dafür fiel mir jetzt, mit mehr Lebenserfahrung, auf, was mir damals nicht aufgefallen war, nämlich dass die Filme in Wirklichkeit etwas anderes sind, als sie vorgeben zu sein. Das neblige London ist nur ein Vorwand, um die schwarzen Jahre der Diktatur aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Vor, auf und hinter der Kinoleinwand arbeitet man an einem gemeinsamen Trauma.
In den Fünfzigern und Sechzigern, als die meisten der Edgar Wallace Filme gedreht wurden, war die „dunkle Zeit“ noch gar nicht so lange her, denn was bedeuten schon zehn, fuffzehn Jahre für die Geschichte.
Eine Zeit, in der besonders der Arztberuf seine Unschuld verlor.
Der Mediziner ohne Gewissen ist eine Stütze dieser Filme. Sadistische Ärzte als Intellektuelle auf Abwegen und abgestumpftes Pflegepersonal sind zahlreich vertreten.
Bevor die Russen und die Amis fünfundvierzig dem Spuk ein Ende machten geisterten die Weißkittel durch Konzentrationslager und schwenkten Spitzen mit Arsenik, dessen Wirkung auf die Opfer sie sorgfältig dokumentierten. „Wer weiß, was der vorher so alles getrieben hat?“, musste man bangen, wenn man später in der Sprechstunde einem davon gegenübersaß, denn viele praktizierten nach Kriegsende einfach weiter, als wenn nichts gewesen wär.
Mitte der Achtziger.
Ich und Freundin Ramona, mit der ich in der Wilhelm Pieck Straße, heute Torstraße, im Prenzlauer Berg ein Zimmer im Arbeiterwohnheim teilte, langweilten uns an diesem Sonntag Nachmittag.
Pleite waren wir außerdem, denn wir beide verdienten nicht viel. Kollegen, die die selbe Arbeit machten, bekamen das Doppelte. Das kam daher, weil wir keinen Facharbeiterbrief hatten, auf den in der DDR sogar für stupide Tätigkeiten am Band, die keine Vorkenntnis erforderten wie unsere, großen Wert gelegt wurde. Die Gewerkschaft war bei uns nur ein Papiertiger und unternahm nichts gegen diese Ungerechtigkeit.
Da kam ich auf die Idee, das wir das Konzentrationslager in Sachsenhausen besuchen könnten. Ich war schon mit der Schule einmal dort gewesen, auf der Jugendweihefahrt in die Hauptstadt. Ramona war gleich mit von der Partie. So lösten wir noch einen Brühwürfel in heißem Wasser auf, damals unser Grundnahrungsmittel, der Geschmack hat sich seitdem unauslöschlich bei mir eingeprägt, liefen so gestärkt zum Alex, stiegen in die S-Bahn nach Oranienburg und fragten uns vom Bahnhof aus zum Lager-Gelände durch, das ein Stückchen außerhalb Oranienburgs liegt. Ein strammer Fußmarsch.
Auf dem riesigen Gelände war außer uns niemand. Nicht mal beim Pförtner vorne am Eingang. Schon merkwürdig. So streiften wir mutterseelenallein im Lager umher. Wir fanden ein kleines Häuschen. Dort, zwischen den weißgekachelten Wänden, wurden Menschenversuche durchgeführt. In den Glasvitrinen sah man blitzende Skalpelle und Kanülen liegen. Außerdem silberne Hämmerchen und Sägen und diese nierenförmigen Emailleschalen. Den Gebrauchszweck wollte man sich nicht ausmalen.
Es war so, als wenn der, der sie benutzte, gerade das Zimmer verlassen hatte. Auch der Metalltisch stand noch da, auf dem er, der seinen hippokratischen Eis vergessen hatte, seine Opfer malträtierte. Natürlich alles ohne Narkose.
Man hatte die Vision, man liegt wehrlos auf dem Tisch, und Doktor Collins aus „Das Wirtshaus an der Themse“ öffnet einen der Glasschränke und nähert sich grinsend mit einem Skalpell in der Hand. Dabei trägt er unter dem Kittel seinen Neoprenanzug.
Aber zum Glück hatte derjenige nicht eben erst den Raum verlassen, sondern vor vierzig Jahren und ist hoffentlich aufgeknüpft worden oder lebt in Paraguay in ärmlichen Umständen.
Wahrscheinlicher ist aber, dass er, der wahrscheinlich so alt ist, wie der nette Opa mit Enkel, der uns vorhin in der S-Bahn nach Oranienburg gegenübersaß, einfach die Masken gewechselt hat, wie die Schauspieler der Edgar Wallace-Filme, angeblich vom Saulus zum Paulus geworden war, vor seinen Patienten den leutseligen Doktor mimt und jetzt ebenfalls inmitten seiner Familie irgendwo in einem Zug sitzt und gelangweilt aus dem Fenster auf die vorübereilenden Landschaften schaut und nachts noch nicht Mal böse Träume hat.
Eine Serie in der BZ über Verbrechen Berliner Ärzte während des Nationalsozialismus - vielleicht wollten sie mit der Veröffentlichung von solchen Originaldokumenten dem Ruf ihrer Gazette als Revolverblatt entgegensteuern - verstörte mich gründlich.
Da war die Ärztin, die Versuche an Kindern vornahm. Einen mongoliden Junge, der ihr vertraute, spritzte sie mit Typhusspritzen tot, und zeichnete den Verlauf seiner Krankheit penibel auf. Nach Kriegende praktizierte sie noch jahrelang und starb in hohem Alter hoch geehrt, und ihre Verwandten sind bestimmt stolz auf sie.
Das Äquivalent für diese Frau wurde in den Wallace-Filmen von Elisabeth Flickenschildt verkörpert. Sie war schon 1932, also vor der Machtübernahme, Parteimitglied geworden. Ihr gelingen überzeugende Verkörperungen der intellektuellen, emanzipierten Frau, die studiert hat - meist Medizin - und sich als Sadistin entpuppte.
So was gab es wirklich. Keiner verstand, wie Frauen solche Härte entwickeln konnten, die völlig dem gängigen Frauenbild widersprach.
Man findet man in jedem Film auch immer einen geheimnisvollen Führer, der alle zu Schandtaten aufstachelt, und dem gegenüber sie willenlos sind.
Dann ist da der Kleinbürger, der es allen recht zu machen versucht, um zu überleben.
Und der Satz: “Ich habe nur auf Befehl gehandelt“, kam einem auch bekannt vor.
Leuten, die das Hotel Silber in Stuttgart kennengelernt haben und die Prinz Albrecht Straße in Berlin, beides Gestapogefängnisse, kamen im Kino bestimmt unliebsame Erinnerungen hoch beim Anblick dieser Bande.
Bloß wollte man damals nicht den Code für das Bankschließfach aus ihnen herausprügeln sondern den für die Entschlüsselung der Funksprüche der Roten Kapelle.
Das muss ein komisches Klima am Set gewesen sein. Eine merkwürdige Gesellschaft hatte sich dort versammelt. Staatstreue Ufa-Schauspieler waren zu finden, wie Siegfried Schürenberg als Sir John, die zwar keine Täter waren, aber versucht hatten, sich so gut wie möglich im Faschismus durchzuwurschteln. Willenlose Mitläufertypen konnten sie deshalb auch am besten rüberbringen.
Marianne Hoppe war auch dabei, die zusammen mit ihrem Mann Gustav Gründgens ein Aushängeschild der Diktatur war.
Dagegen waren Drehbuchautor Herbert Reinecker: Der Hexer - er, ein geistiger Scharfmacher und überzeugter Nazi, war als Journalist tätig und schrieb Durchhalteparolen noch bis kurz vor Ende des Krieges - und der Schauspieler Horst Tappert jahrelang bei der Waffen-SS gewesen.
Vielleicht haben sich die beiden schon vor fünfundvierzig gekannt. Tappert hat seine Mitgliedschaft bei der Division Totenkopf nie eingestanden. Es wurde aber anhand von aufgefundenen Unterlagen nachgewiesen. Es ist nicht auszuschließen, dass er an Massenerschießungen teilgenommen hat.
Nachher haben immer alle nur in der Schreibstube gesessen. Aber irgendeiner muss es doch gewesen sein, denn nur allein durch das Hämmern mit der Schreibmaschine wurden die Menschen in Babi Jar nicht exekutiert.
Die Wallace-Filme boten aber auch überlebenden Juden Arbeitsmöglichkeiten nach Kriegsende. Entweder als Schauspieler, wie Pinkas Braun, als Produzenten wie Artur Brauner oder auch als Drehbuchautoren, wie Egon Eis. Im Filmbusiness gab es ja zur Zeit der Machtergreifung sehr viele Juden.
Wenn die vor fünfundvierzig ihren Kollegen, die bei den Totenkopf-Brigaden waren, in die Hände gefallen wären, hätte das schlecht ausgehen können. Es glaubt doch keiner im Ernst, dass ein SS-Mann einen Juden laufen gelassen hätte.
Außerdem kriegten sie in diesen Filmen Angst und das Gefühl der ständigen Bedrohung sehr glaubwürdig rübergebracht, was nicht verwundert.
Jetzt, nach fünfundvierzig, war es umgekehrt, und die Täter bangten, dass ihre Vergangenheit ans Licht kam. Den einen geht während des Drehs gerade die Muffe vor der Entdeckung, dass sie bei der SS waren, und die anderen, die Mitläufertypen waren, konnten sich hingegen noch sehr gut erinnern, wie sehr sie in Nazizeit gezittert hatten, dass rauskommt, dass sie eine Großmutter haben, die Sara heißt.
Die Juden hingegen, die durch glückliche Umstände überlebt hatten, hatten den Horror selber erlebt.
Immer spielt die Handlung in abgelegenen Castels, wo sich Unheimliches ereignet. Dafür gibt es ein reales Vorbild in Deutschland: Schloss Grafeneck.
In einer Dokumentation, die ich gesehen habe, wiesen junge, hübsche Schwestern mit schneeweißen Schürzen und mit Häubchen psychisch Erkrankten, die sie vertrauensvoll anlächeln, weil sie dachten, dass sie dort ein Bad nehmen sollten, den Weg in die Gaskammer.
Die Nachbarn, die in der Nähe von diesem Schloss lebten, erzählten sich, dass dort immer Busladungen von ihnen ankamen.
Über allem schwebte der Begriff Euthanasie, der die Psychiatrie rettungslos in Verruf gebracht hat. Die harten, skrupellosen Weißkittel und die armen Teufel, die ihnen ausgeliefert sind, kommen schon sehr realitätsnah rüber. Als wenn da jemand vom Filmteam so was miterlebt hatte oder dort Verwandte verloren hatte.
Es ist bestimmt kein Zufall, dass Horst Wendlandt, der Produzent der meisten Wallace-Filme, das „Schlangenei“ von Ingmar Bergmann mitfinanziert hat, wo es auch um so was ähnliches wie Euthanasie und Menschenversuche geht.
Wuhlewanderweg. Neben uns taucht ein malerisches Areal auf, dass aus vielen kleinen Gebäuden besteht. Alle im selben Stil errichtet. Wir wollen einen Mann danach fragen. "Aus dem Weg", ruft er und radelt an uns vorbei. Die "zuvorkommenden" Berliner eben. Auf einer Tafel steht: 1893 als Heilanstalt für Epileptiker gegründet. Während der Nazidiktatur wurden von den Ärzten und Schwestern tausende Behinderte mit Spritzen ermordet.
Und hier ist es so idyllisch.
Katinka hieß sie eigentlich gar nicht, sondern Karin. Aber ihr Name war mir zu spießig, deshalb hatte ich sie umbenannt. Ihr dagegen gefiel Karin besser. Sie warf mir öfter einen zweifelnden Seitenblick zu. Ich galt wohl schon damals als etwas verdreht.
Die Jungs mochten meine Freundin.
Als sie vierzehn war, fuhren ihre Verehrer immer mit dem Moped um unseren Block herum. Ein Mal beobachtete ich sie dabei, wie sie zu einem aufs Moped stieg. Nach einer Stunde brachte er sie wieder zurück. "Frag ich sie, oder frag ich sie nicht", ging mir durch den Kopf.
Schließlich siegte die Neugier. "Habt ihr euch geküsst?" Sie nickt stolz.
Sie passte wohl gut in unsere Gegend rein, im Gegensatz zu mir. Die Männer mochten sie auch noch, als sie eine erwachsene Frau geworden war und zwei Töchter hatte, denn als ihr erster Mann Katinka verließ, brauchte sie nicht erst durch die Bars ziehen.
Es war einfacher. Ihr Nachbar verliebte sich in sie und reichte die Scheidung ein. Jetzt sind die Beiden schon seit langem zusammen.
Hinter der gläsernen Wand, vor der wir saßen, befand sich der Ort meiner frühen Niederlagen, denn in Sport zierte mein Zeugnis meist eine Vier. Und wenn die Mannschaften gewählt wurde, kam ich immer als letzte dran.
Wir lehnten uns, während ich Katinka zuhörte, an die dicken, milchigen Glasbausteine des bodentiefen Fensters hinter uns, das die ganze Breite der Hauswand einnahm und fast bis zum Dach ging.
Ich fühle heute noch ihre stumpfe Oberfläche an den Fingerspitzen, wenn ich nur an daran denke. Die blondbezopfte Katinka ist übrigens schon mit sechsunddreißig Oma geworden.
„Gestern Abend kam ein spannender Film im Fernsehen“, erzählte meine Freundin, ein Jahr älter als ich, deren Eltern ihr erlaubten länger aufzubleiben. „Erzähl schon“, drängelte ich sie. „Anfangs sagt immer einer: „Hallo, hier spricht Edgar Wallace“, begann Katinka. Mich schauderte schon bei der bloßen Erwartung dessen, was ich jetzt zu hören bekommen würde.
Der Mann mit den Basedowaugen guckt noch einmal in den Spiegel und stellt fest, dass er noch immer nicht schöner geworden ist, bevor er in den Kleiderschrank klettert, hinter dem ein Gang liegt.
Der Hausmeister hat etwas gesehen und wird dafür um die Ecke gebracht. Dabei hat auch er noch eine Baustelle offen. Jede Nacht buddelt er im Garten. Was macht er dort? Gräbt er einen Schatz aus, eine Leiche ein, oder baut er etwa eine Gruft? Fragen können wir ihn nicht mehr.
Ein nächtlicher Garten. Das volle Programm. Das Knistern, das Wispern, das Rascheln, das Zirpen und Girren. Jetzt reicht es aber. Doch ich bin in Schwung und fabuliere weiter: das Sirren und Flirren, das Tapsen und Trapsen.
Der Kommissar und das nette Mädchen sind so mit Knutschen beschäftigt, dass sie gar nicht merken, dass jemand im dunklen Garten an ihnen vorbeiläuft. „Mist“, denkt der sich, dem unter seiner spitzen Kapuze langsam warm wird, kehrt um und läuft noch ein Mal an ihnen vorbei.
Diesmal wurde er gesehen. Der Kommissar nimmt die Verfolgung auf, das nette Mädchen immer im Schlepptau. Plötzlich verschwindet die Gestalt mit der Kapuze. Ein unheimlicher Gang tut sich auf. Der Kommissar stürzt sich furchtlos hinein. „Du bleibst hier“, ruft er seiner Verlobten zu. Wer weiß, was für Abenteuer in diesem Tunnel auf ihn lauern?
Aber das interessantere Geschehen spielte sich vor dem Tunnel ab. Den wahren Horror erlebt das nette Mädchen, denn der mit der spitzen Kapuze hat sich hinter einem Busch versteckt.
Eine behandschuhte Hand legt sich über ihren Mund. Das hat sie nicht verdient. Ob es ihr weiterhelfen würde, wenn sie wüsste, dass das das Gesicht hinter der Kapuze zu dem Steuerberater von ihrem Chef gehört?
Das werden wir jetzt wohl nicht in Erfahrung bringen, denn momentan ist sie in der Bredouille und sitzt in dem Verließ, dass eigentlich der Hausmeister noch gegraben hat, bevor es auch ihn erwischte. Wasser dringt ein. Es steht ihr schon fast bis zum Hals, aber von ihrem Verlobten ist noch immer nichts zu sehen. Der geht währenddessen einer falschen Spur nach, die mit Kreide auf die Mauern des Tunnels gemalt wurde.
Der Böse hat inzwischen die Kutte abgestreift und zwängt sich in eine Art Burkini, der grasgrün und sehr eng ist.
Aber er ist gar nicht das Original. Das linst nämlich durch den Harnisch einer Ritterrüstung auf ihn herunter.
Nachdem der Echte den Nachgemachten erledigt hat, knöpft er sich das nette Mädchen vor. „Wenn du mich heiratest, drehe ich den Wasserhahn zu“, sagt er ihr.
„Der ganze Aufwand nur wegen einer Frau?“, wird sich der Leser fragen.
In Wirklichkeit geht es aber nur um das Medaillon, dass sie schon seit ihrer Geburt um den Hals hat und in das eine geheimnisvolle Ziffernfolge eingeritzt ist.
Eine verfahrene Situation.
Wann ertönt in diesem Horror endlich die erlösende Frage: „Willst du meine Frau werden?“, die der Komminssar dem netten Mädchen stellt und die anzeigt, dass alles ein gutes Ende genommen hat.
Und wer ist eigentlich der gelenkige grüne Mann: ihr Chef, ihre Tante, der Butler, der Hausmeister, der gar nicht tot ist sondern nur so getan hat? Fragen über Fragen. Aber unterschätzt die Frauen nicht. Das Mädchen spielt nämlich nur die Unschuld vom Lande.
In Wirklichkeit war es gar kein Stellenangebot vom Jobcenter, weswegen sie in dem einsamen Castell als Sekretärin angefangen hatte.
Sie war voll im Bilde, seit sich Lord Dansmoore verquatscht hatte, und erzählte, dass er von der Malter Solorosa, einer Spinnenart, die es nur auf einer bestimmten Gefängnisinsel im Indischen Pazific gab, gebissen worden war. Jetzt wusste sie, wer der Gefängniswärter ihres Vaters gewesen war, und wer ihm das zweite Medaillon, auf dem die Hälfte der Kombination für das Bankschließfach war, geraubt hatte.
Was sie nicht wusste war, dass Lord Dansmoor sich noch etliche dieser Spinnen mitgebracht hatte. Aber wie gesagt, sie war ein Mädel, dass sich zu helfen wusste. Schließlich war sie nicht umsonst die Tochter des Einbrecherkönigs von Paris. Eine Frau weiß sich immer zu helfen. „Was ist denn das nun wieder für ein blöder Spruch?“, werden jetzt alle denken.
Weitaufgerissene Augen dürfen auch nicht fehlen. Die Frage war auch, warum ihre Augen eigentlich schreckensgeweitet waren: Vielleicht weil sie eine Spinne erblickten, einen Pfeil im Anflug, der von einem straff gespannten Bogen abgefedert ist oder den Kommissar beim turteln mit drei schönen Chinesinnen.
Wollte sie nur die Kohle, wollte sie Rache oder nichts von beidem und stattdessen mit dem Kommissar kleine Kommissare zeugen?
Und wann kommt das mit den Bildern, aus den denen die Augen ausgestochen sind und hinter denen jemand steht und alles beobachtet. Was denn für Bilder? Etwa ein Picasso? Ach ja, dass passt ja nicht zum Landhausstil.
Der Landhausstil ist gar nicht das Problem. Das wahre Hindernis für den Einzug moderner Kunst in das alte Castell ist, dass sich der Böse einen Picasso erst leisten kann, nachdem er alle anderen um die Ecke gebracht hat.
Am Ende entpuppt sich das nette Mädchen als Lesbe. Zusammen mit den drei schönen Chinesinnen, die in Wirklichkeit ihre Gespielinnen sind, nimmt sie den Koffer mit dem Geld, und sie kaufen sich eine Insel, wo sie ein Reich nur für Frauen gründen.
Die wahre Identität des Mannes mit der Maske hat man nie gelüftet. Manche behaupten, dass er jetzt unter falschem Namen in Rußland lebt und sich bis zum Präsidenten hochgearbeitet hat.
Hier endete Katinka mit ihrer Erzählung.
Jahre später
Der Mann im weißem Kittel steckte die Kanüle in das Fläschchen, zog die Flüssigkeit, von der man wusste, dass sie nichts Gutes enthielt, hoch und nährte sich spritzeschwenkend seinem Opfer, das zitternd in einer Ecke der Zelle hockt.
Ich saß Ostern mal wieder gelangweilt vor dem Fernseher und tat mir eine der Edgar Wallace Folgen an, die den ganzen Tag wiederholt wurden. Die anderen Programme waren noch öder. Und ich habe fünfzig.
Ein Highlight meiner Kindheit war der Tag, an dem unser Lehrer, bei dem wir jede Woche ein Mal vormittags vier Stunden Werkunterricht hatten, nach der ersten Stunde den Unterricht unterbrach, und wir im Fernsehraum nebenan die Wiederholung von der „Weißen Spinne“ sehen durften, die im Abendprogramm tags zuvor gelaufen war zu einer Zeit, wo die meisten von uns nicht mehr aufbleiben durften.
Damit machte er uns wunschlos glücklich.
Nach diesem verlorenen Kinderglück war ich vergeblich auf der Suche. Es wollte sich nicht mehr einstellen. Ich war eben keine zwölf mehr.
Dafür fiel mir jetzt, mit mehr Lebenserfahrung, auf, was mir damals nicht aufgefallen war, nämlich dass die Filme in Wirklichkeit etwas anderes sind, als sie vorgeben zu sein. Das neblige London ist nur ein Vorwand, um die schwarzen Jahre der Diktatur aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Vor, auf und hinter der Kinoleinwand arbeitet man an einem gemeinsamen Trauma.
In den Fünfzigern und Sechzigern, als die meisten der Edgar Wallace Filme gedreht wurden, war die „dunkle Zeit“ noch gar nicht so lange her, denn was bedeuten schon zehn, fuffzehn Jahre für die Geschichte.
Eine Zeit, in der besonders der Arztberuf seine Unschuld verlor.
Der Mediziner ohne Gewissen ist eine Stütze dieser Filme. Sadistische Ärzte als Intellektuelle auf Abwegen und abgestumpftes Pflegepersonal sind zahlreich vertreten.
Bevor die Russen und die Amis fünfundvierzig dem Spuk ein Ende machten geisterten die Weißkittel durch Konzentrationslager und schwenkten Spitzen mit Arsenik, dessen Wirkung auf die Opfer sie sorgfältig dokumentierten. „Wer weiß, was der vorher so alles getrieben hat?“, musste man bangen, wenn man später in der Sprechstunde einem davon gegenübersaß, denn viele praktizierten nach Kriegsende einfach weiter, als wenn nichts gewesen wär.
Mitte der Achtziger.
Ich und Freundin Ramona, mit der ich in der Wilhelm Pieck Straße, heute Torstraße, im Prenzlauer Berg ein Zimmer im Arbeiterwohnheim teilte, langweilten uns an diesem Sonntag Nachmittag.
Pleite waren wir außerdem, denn wir beide verdienten nicht viel. Kollegen, die die selbe Arbeit machten, bekamen das Doppelte. Das kam daher, weil wir keinen Facharbeiterbrief hatten, auf den in der DDR sogar für stupide Tätigkeiten am Band, die keine Vorkenntnis erforderten wie unsere, großen Wert gelegt wurde. Die Gewerkschaft war bei uns nur ein Papiertiger und unternahm nichts gegen diese Ungerechtigkeit.
Da kam ich auf die Idee, das wir das Konzentrationslager in Sachsenhausen besuchen könnten. Ich war schon mit der Schule einmal dort gewesen, auf der Jugendweihefahrt in die Hauptstadt. Ramona war gleich mit von der Partie. So lösten wir noch einen Brühwürfel in heißem Wasser auf, damals unser Grundnahrungsmittel, der Geschmack hat sich seitdem unauslöschlich bei mir eingeprägt, liefen so gestärkt zum Alex, stiegen in die S-Bahn nach Oranienburg und fragten uns vom Bahnhof aus zum Lager-Gelände durch, das ein Stückchen außerhalb Oranienburgs liegt. Ein strammer Fußmarsch.
Auf dem riesigen Gelände war außer uns niemand. Nicht mal beim Pförtner vorne am Eingang. Schon merkwürdig. So streiften wir mutterseelenallein im Lager umher. Wir fanden ein kleines Häuschen. Dort, zwischen den weißgekachelten Wänden, wurden Menschenversuche durchgeführt. In den Glasvitrinen sah man blitzende Skalpelle und Kanülen liegen. Außerdem silberne Hämmerchen und Sägen und diese nierenförmigen Emailleschalen. Den Gebrauchszweck wollte man sich nicht ausmalen.
Es war so, als wenn der, der sie benutzte, gerade das Zimmer verlassen hatte. Auch der Metalltisch stand noch da, auf dem er, der seinen hippokratischen Eis vergessen hatte, seine Opfer malträtierte. Natürlich alles ohne Narkose.
Man hatte die Vision, man liegt wehrlos auf dem Tisch, und Doktor Collins aus „Das Wirtshaus an der Themse“ öffnet einen der Glasschränke und nähert sich grinsend mit einem Skalpell in der Hand. Dabei trägt er unter dem Kittel seinen Neoprenanzug.
Aber zum Glück hatte derjenige nicht eben erst den Raum verlassen, sondern vor vierzig Jahren und ist hoffentlich aufgeknüpft worden oder lebt in Paraguay in ärmlichen Umständen.
Wahrscheinlicher ist aber, dass er, der wahrscheinlich so alt ist, wie der nette Opa mit Enkel, der uns vorhin in der S-Bahn nach Oranienburg gegenübersaß, einfach die Masken gewechselt hat, wie die Schauspieler der Edgar Wallace-Filme, angeblich vom Saulus zum Paulus geworden war, vor seinen Patienten den leutseligen Doktor mimt und jetzt ebenfalls inmitten seiner Familie irgendwo in einem Zug sitzt und gelangweilt aus dem Fenster auf die vorübereilenden Landschaften schaut und nachts noch nicht Mal böse Träume hat.
Eine Serie in der BZ über Verbrechen Berliner Ärzte während des Nationalsozialismus - vielleicht wollten sie mit der Veröffentlichung von solchen Originaldokumenten dem Ruf ihrer Gazette als Revolverblatt entgegensteuern - verstörte mich gründlich.
Da war die Ärztin, die Versuche an Kindern vornahm. Einen mongoliden Junge, der ihr vertraute, spritzte sie mit Typhusspritzen tot, und zeichnete den Verlauf seiner Krankheit penibel auf. Nach Kriegende praktizierte sie noch jahrelang und starb in hohem Alter hoch geehrt, und ihre Verwandten sind bestimmt stolz auf sie.
Das Äquivalent für diese Frau wurde in den Wallace-Filmen von Elisabeth Flickenschildt verkörpert. Sie war schon 1932, also vor der Machtübernahme, Parteimitglied geworden. Ihr gelingen überzeugende Verkörperungen der intellektuellen, emanzipierten Frau, die studiert hat - meist Medizin - und sich als Sadistin entpuppte.
So was gab es wirklich. Keiner verstand, wie Frauen solche Härte entwickeln konnten, die völlig dem gängigen Frauenbild widersprach.
Man findet man in jedem Film auch immer einen geheimnisvollen Führer, der alle zu Schandtaten aufstachelt, und dem gegenüber sie willenlos sind.
Dann ist da der Kleinbürger, der es allen recht zu machen versucht, um zu überleben.
Und der Satz: “Ich habe nur auf Befehl gehandelt“, kam einem auch bekannt vor.
Leuten, die das Hotel Silber in Stuttgart kennengelernt haben und die Prinz Albrecht Straße in Berlin, beides Gestapogefängnisse, kamen im Kino bestimmt unliebsame Erinnerungen hoch beim Anblick dieser Bande.
Bloß wollte man damals nicht den Code für das Bankschließfach aus ihnen herausprügeln sondern den für die Entschlüsselung der Funksprüche der Roten Kapelle.
Das muss ein komisches Klima am Set gewesen sein. Eine merkwürdige Gesellschaft hatte sich dort versammelt. Staatstreue Ufa-Schauspieler waren zu finden, wie Siegfried Schürenberg als Sir John, die zwar keine Täter waren, aber versucht hatten, sich so gut wie möglich im Faschismus durchzuwurschteln. Willenlose Mitläufertypen konnten sie deshalb auch am besten rüberbringen.
Marianne Hoppe war auch dabei, die zusammen mit ihrem Mann Gustav Gründgens ein Aushängeschild der Diktatur war.
Dagegen waren Drehbuchautor Herbert Reinecker: Der Hexer - er, ein geistiger Scharfmacher und überzeugter Nazi, war als Journalist tätig und schrieb Durchhalteparolen noch bis kurz vor Ende des Krieges - und der Schauspieler Horst Tappert jahrelang bei der Waffen-SS gewesen.
Vielleicht haben sich die beiden schon vor fünfundvierzig gekannt. Tappert hat seine Mitgliedschaft bei der Division Totenkopf nie eingestanden. Es wurde aber anhand von aufgefundenen Unterlagen nachgewiesen. Es ist nicht auszuschließen, dass er an Massenerschießungen teilgenommen hat.
Nachher haben immer alle nur in der Schreibstube gesessen. Aber irgendeiner muss es doch gewesen sein, denn nur allein durch das Hämmern mit der Schreibmaschine wurden die Menschen in Babi Jar nicht exekutiert.
Die Wallace-Filme boten aber auch überlebenden Juden Arbeitsmöglichkeiten nach Kriegsende. Entweder als Schauspieler, wie Pinkas Braun, als Produzenten wie Artur Brauner oder auch als Drehbuchautoren, wie Egon Eis. Im Filmbusiness gab es ja zur Zeit der Machtergreifung sehr viele Juden.
Wenn die vor fünfundvierzig ihren Kollegen, die bei den Totenkopf-Brigaden waren, in die Hände gefallen wären, hätte das schlecht ausgehen können. Es glaubt doch keiner im Ernst, dass ein SS-Mann einen Juden laufen gelassen hätte.
Außerdem kriegten sie in diesen Filmen Angst und das Gefühl der ständigen Bedrohung sehr glaubwürdig rübergebracht, was nicht verwundert.
Jetzt, nach fünfundvierzig, war es umgekehrt, und die Täter bangten, dass ihre Vergangenheit ans Licht kam. Den einen geht während des Drehs gerade die Muffe vor der Entdeckung, dass sie bei der SS waren, und die anderen, die Mitläufertypen waren, konnten sich hingegen noch sehr gut erinnern, wie sehr sie in Nazizeit gezittert hatten, dass rauskommt, dass sie eine Großmutter haben, die Sara heißt.
Die Juden hingegen, die durch glückliche Umstände überlebt hatten, hatten den Horror selber erlebt.
Immer spielt die Handlung in abgelegenen Castels, wo sich Unheimliches ereignet. Dafür gibt es ein reales Vorbild in Deutschland: Schloss Grafeneck.
In einer Dokumentation, die ich gesehen habe, wiesen junge, hübsche Schwestern mit schneeweißen Schürzen und mit Häubchen psychisch Erkrankten, die sie vertrauensvoll anlächeln, weil sie dachten, dass sie dort ein Bad nehmen sollten, den Weg in die Gaskammer.
Die Nachbarn, die in der Nähe von diesem Schloss lebten, erzählten sich, dass dort immer Busladungen von ihnen ankamen.
Über allem schwebte der Begriff Euthanasie, der die Psychiatrie rettungslos in Verruf gebracht hat. Die harten, skrupellosen Weißkittel und die armen Teufel, die ihnen ausgeliefert sind, kommen schon sehr realitätsnah rüber. Als wenn da jemand vom Filmteam so was miterlebt hatte oder dort Verwandte verloren hatte.
Es ist bestimmt kein Zufall, dass Horst Wendlandt, der Produzent der meisten Wallace-Filme, das „Schlangenei“ von Ingmar Bergmann mitfinanziert hat, wo es auch um so was ähnliches wie Euthanasie und Menschenversuche geht.
Wuhlewanderweg. Neben uns taucht ein malerisches Areal auf, dass aus vielen kleinen Gebäuden besteht. Alle im selben Stil errichtet. Wir wollen einen Mann danach fragen. "Aus dem Weg", ruft er und radelt an uns vorbei. Die "zuvorkommenden" Berliner eben. Auf einer Tafel steht: 1893 als Heilanstalt für Epileptiker gegründet. Während der Nazidiktatur wurden von den Ärzten und Schwestern tausende Behinderte mit Spritzen ermordet.
Und hier ist es so idyllisch.
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