Einerseits, liebe Christiane Grenzebach,
lese ich am liebsten Texte, die ich verstehen kann. Andererseits gibt es wunderbare Lyrik, die ich mit meinem Verstand nicht begreifen kann und doch über mein Gefühl verstehe.
Bei diesem Text:
Hey, bitch...
Schlaf mit wem du willst,
aber gìb` ihm seinen Sohn
- ER ist sein Vater!!!
weiß ich nicht so recht.
Ich stelle mir eine Frau vor, die einer anderen im Zorn
("hey bitch..."), warum auch immer (sie könnte z.B. einen starken Familiensinn besitzen oder einfach ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit), vorwirft, ihren Freund oder Mann zusammen mit dem gemeinsamen (weiß man eigentlich auch nicht so ganz genau...) Sohn verlassen zu haben (weiß man auch nicht wirklich. Sie könnte ihn auch einfach dauernd mit anderen Männern betrügen...). Die Sprecherin findet jedenfalls offenbar, dass der Mann und Vater von der von ihr angegriffenen Frau ungerecht behandelt wird (was wiederum eine weitere Möglichkeit für ihr Motiv nahelegt, die andere Frau mit "bitch" zu beschimpfen, nämlich das, dass sie ihrerseits dem verlassenen bzw. betrogenen Vater gegenüber eine besondere Zuneigung empfindet, was zumindest dem Anschein nach durch die Tatsache gestützt wird, dass ihre zentrale Forderung nicht sinngemäß lautet: lass den Sohn zu seinem Vater, sondern: gib dem Vater seinen Sohn zurück. Die Sprecherin denkt also zunächst an den Mann und nicht primär an das Kind). Und sie ist offenbar so erregt, dass sie nicht merkt, dass ihre sehr betont vorgetragene, abschließende Feststellung:
" - ER ist sein Vater!!!" sich bereits zwingend aus ihrer vorherigen Aufforderung: "aber gib ihm seinen Sohn" ergeben hat und sie, wie auch der Leser, eigentlich davon ausgehen kann, dass die andere Frau das bereits weiß. Die Möglichkeit, dass sie es bis dahin nicht wusste und es gerade erfährt, birgt derartig beängstigende, dramatische Möglichkeiten, dass ich diesen Fall hier nicht in Betracht ziehen will, wenngleich er keineswegs auszuschließen ist und mir von Minute zu Minute in beängstigender Weise weniger unwahrscheinlich vorkommt...
)
So betrachtet könnte hier doch eine ziemlich umfangreiche Geschichte (die sich natürlich auch völlig anders deuten ließe) in drei Zeilen erzählt worden sein, von denen dann bei genauerem Hinsehen sogar nur zwei erforderlich waren. Das wäre dann in der Tat sehr beachtenswert und interessant.
Nur kann man eben immer nie wissen, ob Dir das beim Schreiben bewusst war, liebe Christiane Grenzebach, und nach meinem ersten Eindruck bin ich mir da nicht so sicher.
In diesem Sinne
gareth