Hilflos

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sufnus

Mitglied
Hi Arianne,

Deine Zeilen verbinden großes Formbewusstsein mit echter inhaltlicher Engagiertheit. Als Versmaß hast Du einen Amphibrachys (oder einen auftaktischen Daktylus mit verkürztem letzten "Metron") gewählt, kein ganz leicht komponierbarer "Morsecode" und dabei hast Du, was m. E. die formale Schwierigkeit noch etwas erhöht, die Anzahl der Hebungen zeilenweise variiert, indem "Vierheber" sich mit "Dreihebern" abwechseln.

Thematisch geht es um den Gegensatz zwischen einer schweigenden Mehrheit und einer sinistren Machtelite, die den Karren in den Dreck steuert, wobei - und das finde ich wichtig und richtig - in der letzten Zeile, in der Doppeldeutigkeit des Bezugs von "machtvoll", eine kleine Pointe steckt: Es wird hier nämlich nicht ganz eindeutig definiert, ob "wir" (die gute, hilflose Schafherde) die machtvollen Wenigen gewähren lassen (machtvoll bezieht sich in dieser Lesart auf die Wenigen) oder ob wir selbst machtvoll sind und unser Gewährenlassen der Wenigen quasi eine hoheitliche Machtausübung der Herde darstellt (machtvoll bezöge sich dann also auf das wir). Bei der ersten Lesart sind "wir" ein bisschen schusselig und gutgläubig, aber doch nicht schuld am Übel, das die Wenigen anrichten. Bei der zweiten Lesart sind "wir" selbst diejenigen, die alles vermasseln und die "wenigen" eigentlich nur unsere i. A. handelnden Erfüllungsgehilfen.

Also alles in allem zeigt dieses Gedicht, seine formale Komposition und der inhaltliche Gestus, dass Du wirklich exzellent mit Sprache umgehen kannst. Mir persönlich ist es aber doch auf der rhetorischen Seite zu dick aufgetragen. Der durchgängige Rhythmus ist artistisch beachtlich, aber für mich schafft er die Grundlage für einen recht altmodischen und pathetischen Gestus. Auch die durchaus effektvollen Klangspiele sehe ich etwas zwiespältig, z. B das assonantische "Foltern und Morden", die ü/ie-Korrespondenz beim "lüsternen Gieren" oder (extremes Beispiel) die "schmierigen Schlieren": Einerseits erzeugen die durchaus einen beachtlichen Klangsog, andererseits ist es mir persönlich auch wieder ein bisschen zu viel des Guten (sprich: in dieser Massierung wirds mir etwas viel).

Also alles in allem erinnert mich die Ästhetik irgendwie an die prachtvollen Fassaden historistischer Gebäude, die mich durchaus immer faszinieren, zugleich aber eine tiefe Sehnsucht nach etwas schlichteren Ästhetiken wecken. Ich muss auch an die Simponsfolge denken:
Moe: Bringen Sie uns das beste Essen, gefüllt mit dem zweitbesten!
Kellner: Sehr wohl, Sir, Hummer gefüllt mit Knödeln.

Das ist jetzt am Ende natürlich wie immer Geschmackssache - aber es gibt dennoch m. E. gewisse "ästhetische Konstanten" (die selbstverständliche keine Newton'schen Axiome darstellen und daher auch gerne ignoriert werden können). Eine solche Konstante ist, dass eine Ästhetik, die sich nicht im Einklang mit der aktuell-vorherrschenden Ästhetik befindet, entweder Verärgerung oder Belustigung hervorruft. Im Fall dieser Zeilen von Dir, die ästhetisch eher ins 19. Jh. als in die Jetztzeit schielen, verspüre ich tatsächlich eine drohende Nähe zu einer gewissen Komik, zumindest bei den "schmierigen Schlieren" oder bei der ersten Zeile der S3, die man natürlich als Satire-Element werten kann, die aber doch in Teilen die engagierte Haltung des Textes unterläuft.

Soweit meine Eindrücke ... wenn ich es so lese, klingt es kritischer als es gemeint ist, aber ich weiß andererseits auch nicht so recht, wie ich umformulieren könnte und dennoch meinen Punkt (so gut es geht) verdeutliche. Also vielleicht abschließend: Deine Zeilen sind wirklich sehr anregend! Ich freu mich auf mehr! :)

LG!

S.
 

Arianne

Mitglied
Oh, Danke, sufnus, der Du selbst ein gewaltiger Sprachartist zu sein scheinst, mit dem Befassen des Gedichtes.
Manchmal ist es bei der Sprache der Versuch, wachzurütteln, was selbst dann oft nicht gelingt, wenn eindringlich
und besonders betont geschrieben wird.
Deine Ausführung ehrt mich, doch kann meine – wie erwähnt – etwas veraltete Art nicht jedermann gefallen,
sonst würde ich mehr schreiben, was ich vordem bereits tat, dann aber wieder etliches löschte, da es hier nur
ein Störfaktor gewesen wäre. Freundlichen Gruß!
Arianne
 

mondnein

Mitglied
mir gefallen alle drei "Fragen"

eine "vorherrschende Ästhetik" kenne ich nicht
die "Existenz einer Ästhetik" ist schon etwas fragwürdiger, wenn auch etwas frei in der Antwort
der Begriff der "Schönheit" könnte im Jugendstil stranden. Aber der begann nicht mit dem damals vorherrschenden Historizismus, sondern in independenten Salons. Ist schon arschlang her.

grusz, hansz
 

Pennywise77

Mitglied
Moin Arianne,

mit Sicherheit bearbeitest Du hier ein Thema, an dem sich schon einige abgearbeitet haben. Nur...
Du machst das hier in einer tadellosen Metrik und wählst Amphibrachys, die den Text trotz der eher
ernüchternden Thematik irgendwie tänzeln lassen.
Und die Werte von einst SIND verkommen. Zumindest werden sie nicht mehr so gelebt, wie das früher
der Fall war.
Mir gefällt Dein Text.

Gruß

Pennywise
 

James Blond

Mitglied
Liebe Arianne,

mich fasziniert ebenfalls der Kontrast zwischen der tänzelnden Metrik und der brachialen Zeitkritik. Und es fällt mir ein Urteil schwer, ob dies dem Text nun nützt oder schadet, denn beides scheint der Fall zu sein. Zum einen werden die sattsam vertrauten Allgemeinplätze einer kritischen Weltbetrachtung aus der Schwere des moralischen Pathos gelöst, zum anderen erweckt es so den Eindruck eines lyrischen Tänzchens im Kostüm der medialen Zeitbetrachtung.

Ich denke, es ist schwer, einen solchen Rundumschlag so zu landen, dass er trifft, bewundere aber die Akribie, mit der er angesetzt wurde.

Liebe Grüße
JB
 

Pennywise77

Mitglied
Ich finde, dass gerade dieser Kontrast eine gewisse Verzweiflung, vielleicht sogar einen gewissen Wahnsinn ausdrückt, der sich aufgrund der Situation breit macht.
 

James Blond

Mitglied
ja, so kann man es auch sehen, dann allerdings sollte dazu passend auch der moralisch-analytische Standpunkt zugunsten einer "expressiven Überschwemmung" verlassen werden, wie es z.B. Jakob van Hoddis in "Weltende" beschreibt.
 

mondnein

Mitglied
Es fragte uns niemand: wir wurden geboren,
Entscheidung, sie war uns genommen.
keiner hat uns gefragt, und jetzt sind wir einfach da, wirklich, bewußt und sprachbegabt, als ob wirs gewollt hätten. als ob wir was gelernt hätten aus unserer Erfahrung.
stehen uns im Weg, wissen nicht wohin, zumal man aus dem ewigen Jetzt nicht rauskommt, weder in die Vergangenheit zurück noch in die Zukunft voraus, beim besten Willen nicht.

verflucht, zu existieren.

so ein Scheiß aber auch!
 

Tula

Mitglied
Hallo Arianne
In der Form tadellos, und ich möchte auch sonst hier niemandem widersprechen.
Dennoch würde ich als kritische Bemerkung hinterlassen, dass eine überzogene Darstellung eines "Werteverfalls" eher unglaubwürdig wirkt. Wir haben in Deutschland düstere Zeiten und Systeme hinter uns ... die hehren Werte von einst, ich weiß nicht so recht, worauf sich das wirklich beziehen will. Die Realpolitik ist weder besser noch schlechter als sie schon immer war, der Unterschied liegt wohl eher im Kontext der Gegenwart. Was die Menschen angeht, wer genau hinschaut, versteht, dass sich nicht wenige jenseits irgendeiner politischen Aktivität solidarisch für andere einsetzen.

LG
Tula
 

Arianne

Mitglied
Ich bedanke mich für die Gedanken jedes Einzelnen!

Besonders sufnus hat sich viel Arbeit gemacht, das weiß ich zu schätzen.
Auf jeden Punkt und das Lob kann ich nicht näher eingehen, denn was dann,
wenn Du es zurückziehst?
Zu meinem Geschriebenen kann ich nicht viel mitteilen, nur dass meine Schreibereien
einfach meine Gedanken in komprimierter und manchmal in komischer Form sind.

Tula, es mag sein, dass für Dich die Darstellung des Werteverfalles überzogen wirkt,
mir nicht, eher noch fehlt mir der richtige Pfeffer und das Können, den Wahnsinn,
in dem wir verstrickt sind, auszudrücken.

Pennywise, auch Dir meinen Dank. – Nicht ganz leicht, den Wahnsinn allen Verständlich
zu machen, für die er meist als Normalität angesehen wird.

Ja, James Bond, es wäre schön, könnte man einen Rundumschlag so landen
und alle treffen, die man treffen will. Was Hoddis anbelangt, sehe ich an seinem 'Weltende'
eine Karikatur, eine Überzeichnung, wie sie Maler und Graphiker häufig verwenden;
einige Analysten nahmen sein Werk unter die Lupe.

Mondnein hat es diesmal getroffen – stimmt! So ist es!
Ich hatte sicher einen guten Tag, sonst hätte ich die Wahrheit nicht so geschönt.

Mit liebem Gruß
Arianne
 



 
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