Himmel und Hölle (neue Fassung)

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gestern fielen blutigrote Tropfen vom Himmel
Nicht etwa, dass mich das sonderlich erstaunt hätte
Wurde Zeit, dass der Himmel seine Wunden zeigt
Was mich wirklich erstaunte, war die Tatsache des Zeitpunktes
Der Himmel nimmt also doch keine Rücksicht auf mich
oder auf irgendeinen und seine Gefühle
Dachte ich
Sonst hätte er sich einen anderen Tag ausgesucht
Ich war gerade auf dem Weg zu ihr
Die absolute Superbraut
Erstes Rendezvous in ihrer Bude
Hatte sie in Gedanken schon ausgezogen
Sie mich bestimmt auch
Wir waren für diesen Moment geboren
Ich war also auf dem Weg zu ihr
Blumenstrauß in der Hand – Herz in der Hose
Das mit dem Blumenstrauß war einfach nur so
Weil man es immer in den Filmen sieht
Sie wird die Tür öffnen, mir den Strauß aus der Hand reißen
und sich an meiner Wäsche zu schaffen machen
Dachte ich
Und dann fing es aus heiterem Himmel an Blut zu regnen
Es war tatsächlich Blut
Mit den ersten Tropfen auf meinen Mund schmeckte ich das Blut
von Himmel und Erde
Ich fragte mich noch, welche Blutgruppe die Engel wohl haben
Oder war es gar Gott, der sich für uns ausblutete
Vielleicht war er von Satan ans Kreuz genagelt worden
Keine Ahnung
Solche Sachen sind nicht mein Ding
Die sollen da oben machen, was sie wollen
Ich habe hier unten genug mit mir zu tun
Was soll ich sagen
Ich stand vor ihrer Tür in einer roten Pfütze
So rot wie die Rosen in meiner Hand
Es sah so aus, als hätte ich ein Loch und würde gerade auslaufen
Ich klingelte und dachte noch für mich
‚Mann, dieser Aufzug wird ja einen tollen Eindruck bei ihr hinterlassen…‘
Da öffnete sie die Tür betrachtete mich und sagte:
‚Du bist der Erste, der vollkommen nackt zu mir kommt.
Komm rein. Schäm dich nicht. Wir haben alle unsere Wunden‘
In diesem Augenblick wusste ich,
dass der Himmel nur für mich sein Blut vergossen hatte
 
O

orlando

Gast
Lieber Otto,
ich bin mir nicht sicher, ob du beim Verfassen des Gedichts gedacht hast, dass die Thora und mithin das Alte Testament zwischen Schuld und Sünde scharf unterscheidet.
Impliziert die Verletzung einer Norm Ursache und Schuld (aitía), weist dies schon auf eine Außenwirkung hin, was für den Begriff der Sünde nicht gilt. Denn es ist möglich sich zu versündigen, ohne einem anderem Schaden zuzufügen. Nämlich gegen Abrahams Gott. Der Begriff der Sünde ist intransitiv und setzt eine Wirkung nach innen voraus.
Die (öffentliche) Entblößung gilt in diesem Zusammenhang als Sünde, die bei dir durch die Abstrafung eines ganzen Landstrichs angedeutet wird.
Das neutestamentarische Verzeihen erfolgt erst durch den Menschengott.
Vielleicht hast du aber doch daran gedacht ...
Wie auch immer: Ein wunderbares, ein großartiges, ein aussagestarkes Gedicht.
Herzliche Grüße
orlando
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe nicht daran gedacht...aber ich danke dir für deine Ausführungen, die meine Gedanken in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen.

Alles Liebe otto

P.S.: Danke für deine Bewertung. Bedeutet mir viel.
 
D

Die Dohle

Gast
Hallo Otto Lenk,
das ist ein starkes lied, ich denk an die musik von tom waits, randy newman...
starke geschichte jedenfalls. ich werd das noch ein paar mal lesen. deswegen.

frage: z5, "also", ist das wichtig?

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Was mich wirklich erstaunte, war die Tatsache des Zeitpunktes
Der Himmel nimmt [blue]also[/blue] doch keine Rücksicht auf mich
oder auf irgendeinen und seine Gefühle
Dachte ich
Sonst hätte er sich einen anderen Tag ausgesucht

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in meinen augen trägt dieses kleine wort eine große bedeutung in dem text. wenn dieses "also" dasteht, bedeutet das für mich, der himmel ist rücksichtslos, als kaum belehrbares dogma. demgegenüber spricht aus dem text viel dafür, dass der himmel sich den zeitpunkt sehr genau heraussuchte. mir käme es daher schlüssiger, wenn ich vor mich hinbrummle und -maule, "...der himmel nimmt eh keine rücksicht, ..." und werde im verlauf eines besseren belehrt in der kategorie, nachricht angekommen.

mal so gedacht.

nochmal, toller starker text, beschämend nackt bist du, du stellst dich, wie du bist und bist willkommen unter deinesgleichen. der himmel und die frau, sie wissen um deine wunden, deine scham, um deine wunden aber weint der himmel...

lg
die dohle
 

HerbertH

Mitglied
Dachte ich

an Blut, ist mir meistens kein Blutregen eingefallen, der aber doch schon in meiner Erinnerung vorhanden zu sein scheint.

Dachte ich

nach, als ich das las? Oder eher nicht, sondern liess die Bilder auf mich einwirken, elementare Bilder, von Sex und Leidenschaft und starken Empfindungen geprägt.

Dachte ich

mir so bei diesem Gemälde, das barocke Direktheit und Symbolkraft in unsere Zeit balanziert, und dabei nur etwas Blut verschüttet.

Großes Kino, lieber Otto

Danke!

Herbert
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
he Dohle,

dieses 'also' ist die verdeutlichung des empfindens unseres protagonisten, der sich in seinem glauben bestätigt fühlt. brauch ich also...bzw. er.

Dank dir, Herbert!
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Otto,

Du spielst mit apokalyptischen Requisiten: Blut, das vom Himmel regnet, wird wohl menschliche Dichtung immer wieder färben...

Mir gefällt, einerseits, die Lockerheit, mit der die Bilder verwendet werden; andererseits: der Türszene kann ich nicht viel abgewinnen. Die Frau in der Tür trieft ganz plötzlich vor Weisheit, aber vielleicht steht sie ja unter der Wirkung einer Schocktranssubstantiation und das himmlische Blut lässt bei ihr den kontemplativen Quell sprudeln...

Die orthografische Konsistenz halte ich für verbesserungswürdig: mal gibt es in einem Satz Kommas, mal keine; mal sind die Zeilenanfänge groß, mal klein geschrieben...

Orlandos Anmerkung zur scharfen Unterscheidung zwischen Schuld und Sünde kann ich auch nicht ganz folgen. Ist es nicht eher so, dass dieser Unterschied in der hebr. Bibel weniger ein wirkliches Thema ist, sondern erst von christlichen Gelehrten konstruiert wurde? Es gibt dazu durchaus lesenswerte Ausführungen, z.B. von Herbert Schlögel. (Man kann sich natürlich auch selbst auf die Suche machen, dazu ist aber der Originaltext heranzuziehen.)

Schöne Grüße

P.
 

Vessel

Mitglied
das ist sehr befremdlich. wie hier in einfachen worten das unglaubliche geschildert wird, gefällt mir sehr gut. die biblischen ausmaße des geschehens, über das wir nur die unreflektierte einsicht des ichs erfahren, werden nicht klar. damit lässt der text alles offen, großartig.
 



 
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