Hinter meinen Augenlidern

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Mimi

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Es ist mir egal was der Mann mit den grau melierten Schläfen über mich denkt. Seine Anwesenheit ist eine flüchtige Verbindung, die bereits morgen in meiner Erinnerung verblasst sein wird.
Er kann denken, was er will, solange er nicht aufhört das zu machen, was er jetzt gerade macht.
Ich höre das monotone Ticken der Wohnzimmeruhr, die über der Récamiere hängt. Draußen prasselt der Regen gegen das große Panoramafenster.
Es ist Herbst. Und auch in mir ist es Herbst. Alles in mir scheint zu verdorren.
Ich sitze mit hochgezogenem Rock auf dem alten Esstisch aus Kiefernholz, der leise unter meinem Gewicht zu knarren beginnt.
Meine Finger krallen sich an den Rand der Tischplatte, ich spüre wie das weiche Holz unter meinen Nägeln nachgibt.
Das Holz ist genauso nachgiebig wie ich.
Ich habe allem und jedem nachgegeben.
Allen voran Mutter. Eigentlich sollte sie jetzt stolz auf mich sein.
Mutter, mit ihrem zusammengekniffenen Mund und der tiefen Zornesfalte auf der Stirn.
Mutter, deren durchdringender Blick mich voller Verachtung durchbohrt.
Mutter, der ich nie eine gute und anständige Tochter sein kann.
Ich wollte, sie wäre hier. Damit sie sehen könnte, wie gottverdammt gut ich bin.
Damit Sie sehen könnte, wie anständig mein Schoß nachgeben kann.
Ich schließe meine Augen, lege den Kopf in den Nacken. Meine Haarspitzen berühren den Tisch. Sie wippen im Rhythmus, den der Mann mit den grau melierten Schläfen bestimmt.
Sein Atem wird schneller, lauter, überdeckt alle Geräusche, selbst den Herbstregen. Seine Lippen fahren über meinen Hals, gleiten über meinen geschlossenen Mund, an dem der Lippenstift längst verblasst ist, bis seine Zunge sich ihren Weg bahnt. Er schmeckt nach Gin mit Ginger Ale, nach Salz und Zigarrentabak.
Seine Hände umfassen meinen Poansatz, heben und kneten, drücken und pressen mich noch näher an seinen geöffneten Hosenschlitz heran.
Ich lasse seine Zunge gewähren. Ich gebe und gebe, versinke im Nirgendwo meiner Gedanken und hinter meinen geschlossenen Augenlidern flackern in grellen Stroboskopblitzen Bilder eines vergangenen Sommers.
 

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Ein Text wie ein kleines, hervorragendes Kammerspiel, das noch lange nachhallt, liebe Mimi!

Für mich hast du die Balance zwischen Innen- und Außenwelt in ihren Kausalzusammenhängen perfekt getroffen! Da sitzt jedes Wort und jeder Satz führt in die richtige Richtung. Chapeau!

LG,
fee
 

roxanneworks

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Eine Situationsbeschreibung, die weit über den ersten Eindruck hinausgeht...
Hier ist Dir ein grandioser Text gelungen, liebe Mimi

Liebe Grüße
Roxanne
 

Rachel

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Sehr gelungener Text. Man muss ihn nicht lieben, aber unbedingt gelesen haben. Meisterhaft gemachte Beunruhigung. Die Stellen mit dem anständigen und nachgiebigen Schoss könnten von mir aus eine Reise um den Globus antreten, weil immer persönlich und aktuell. Schon toll, denk ich mal wieder, was so eine minimalistisch verkürzte Schreibe kann.
 
Zuletzt bearbeitet:

Mimi

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Nein, Johnson, das wäre zu kurz gefasst ...
Ich denke nicht, dass im Text ein Missbrauch im allgemeinverständlichen Sinne thematisiert wird, das geht auch aus diesen Zeilen hier hervor: "Er kann denken, was er will, solange er nicht aufhört das zu machen, was er jetzt gerade macht."

Dass die Protagonistin nachgibt, sich also den Ansprüchen und Vorstellungen der Mutter fügt, eine "normale" und "anständige" heterosexulle Tochter zu sein, würde ich eher als einen Ausdruck beziehungsweise als unmittelbare Folge von Wut, Wertlosigkeit und Resignation deuten, ausgelöst durch die Diskrepanz zwischen den auf sie einprasselnden äußeren Reizen und der inneren Wahrnehmung.
Das vehemente Unterdrücken der eigenen Emotionen lässt häufig eine Leere entstehen.
Es ist gewiss ein Dauerstress fürs Nervensystem, ständig im Kampfmodus zu sein.


Gruß
Mimi
 



 
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