Hirntod

Robert

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Das Blut pulsiert in den Adern, es rauscht, ja es dröhnt fast in seinem Kopf.
Was war nur passiert ?

Er erinnert sich nicht, spürt nur dumpfen Schmerz, wie in Watte gehüllt, als wäre er gar nicht wirklich vorhanden, als gehöre der Schmerz nicht zu ihm.
Was war nur passiert ?

Langsam kommt die Erinnerung: quälend, schleichend und doch unaufhaltsam. Der Aufprall war heftig. Sehr heftig. Er glaubt zu spüren, wie er wieder gegen die Lenksäule prallt, wie er wieder eingeklemmt wird bis er meint, er müsse zerplatzen.


Er denkt an seine Frau. Einst liebte er sie. Aber in all den Jahren schlief die Liebe ein. Wie ein Gedicht, welches man lange nicht mehr gesprochen oder gelesen hat, verschwand sie aus seinem Blickfeld. Zum Schluß lebten sie einfach nebeneinander her, was er brauchte, holte er sich bei anderen. Als er jedoch einmal eine Trennung vorgeschlagen hatte, lächelte sie ihn nur liebevoll an und schüttelte sanft den Kopf.

Er erinnert sich an die wenigen Male, die sie von seinen Fehltritten erfuhr – ohne sein Zutun, selbstverständlich. Sie sah ihn traurig an, sagte nichts und briet ihm ein Steak. Niemals beschwerte sie sich, niemals machte sie ihm Vorwürfe, niemals wurde sie laut. Sie war verletzt – das sah er – aber es gab keinen Streit, niemals.

Bei diesen Gedanken erkennt er es. Sie liebt ihn. Sie liebt ihn noch immer genauso wie am ersten Tag. Und er war zu dumm gewesen, das zu bemerken. Er hatte zugelassen, daß sie sich auseinandergelebt hatten – doch halt ! Sie hatten sich nicht auseinandergelebt – er hatte sich von ihr weggelebt !

Der Schmerz, der seinen Körper durchdringt, wird zur Nebensache. Er denkt an seine Frau. An ihre Schönheit, von den Jahren gezeichnet aber nicht vernichtet, sondern eher noch verstärkt, intensiviert. Sie ist immer noch attraktiv, mit einem Mal fühlt er sich zu ihr hingezogen wie seit Ewigkeiten nicht mehr, nicht mehr seit ihrer gemeinsamen Jugend, als seine Liebe zu ihr noch voller Feuer war.

Das wird alles anders, das weiß er mit einem Mal. Ab sofort wird er ihr der Mann sein, den sie immer verdient hat, ganz sicher.




Das Blut pulsiert in den Adern, es rauscht, ja es dröhnt fast in seinem Kopf.
Doch ist da nicht ein falsches Geräusch ?

Es kommt ihm vor wie in einem alten Auto: man kennt die Geräusche, man gewöhnt sich an sie, doch wenn ein neuer Ton hinzukommt, dann wird man unruhig. Er kann nicht sagen, was nicht stimmt, aber irgend etwas stimmt nicht, da ist er sicher.

Er hat den Eindruck, es wird dunkler um ihn, doch er hat die Augen nicht auf, ja, er kann sie gar nicht öffnen, sich überhaupt nicht bewegen. Und die Dunkelheit nimmt zu, sie kommt von innen, aus ihm heraus !

Sie steigt in ihm hoch, langsam, doch unaufhaltsam. Sie erreicht Teile seines Bewußtseins und umschlingt sie, riegelt sie ab, als würden in einem großen dunklen Haus nach und nach immer mehr Zimmer verschlossen werden, während man durch das Gebäude irrt und irgendwo Zuflucht sucht.

Er bäumt sich auf, er sperrt sich dagegen, will der Dunkelheit keinen Platz machen, will nicht kampflos das Feld räumen. Er irrt durch das dunkle Haus, auf der Flucht vor der Dunkelheit, auf der Suche nach dem Ausgang, nach dem Licht, nach dem Leben. Doch die Dunkelheit ist schneller, unbarmherzig wie ihm scheint. Er fühlt sich verfolgt, in die Ecke gedrängt, als die Düsternis ihn schließlich erreicht. Sie umgibt ihn langsam, als wolle sie sich Zeit lassen, jetzt, da er ihr nicht mehr entkommen kann, da er ihr vollends ausgeliefert ist, doch sie umfängt ihn immer weiter bis zum Erlöschen seiner letzten Panik.




Ein Mann schaltet die Apparate ab.
„Nein, gnädige Frau,“ sagte der Arzt, „wir haben getan was wir konnten, aber seine Verletzungen waren zu schwer. Aber wenn es Sie tröstet: er wäre ohnehin nie mehr der Mensch gewesen, den Sie kannten.“



(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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