Hitze in der Stadt

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Isegrims

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lustig an diesem Forum sind übrigens die Bewertungen: bitte, bitte, ich will mehr und schlechtere Bewertungen, powert mich ...
 

Isegrims

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Der Sommertag brennt. Dunst liegt über der Stadt. Menschen fließen durch die die Einkaufsstraße. Am Rande der Straße, unter einem müden Baum mit verblichenen Blättern sitze ich auf einer Bank und beobachte die Menschen.

Ich sehe starre, gierige Augen. Frauen, die ihre Haut zur Schau stellen. Männer, die ihre Frauen präsentieren. Ungeschützte Schönheit. Dazwischen meine Brüder, als Bettler verkleidet, gebückt im Dreck. Jeder geht an dem anderen vorbei und reiht sich ein in die große Schlange, in das Wogen der Masse.

Meine Augen sind klar und mein Herz fülle ich mit Liebe. Ich bin berufen, das Licht in die Welt zu bringen und werde Blut zwingen, die Augen zu öffnen. Das Blut wird leuchten und die Jagenden, die Suchenden, werden die Plastiktüten mit ihren Einkäufen vergessen. Ich helfe ihren Seelen und sie werden schmerzhaft ihre Augen öffnen.
Kichernd gehen junge Frauen an mir vorbei, kaum jünger als ich. Sie erkennen und beachten mich nicht, obwohl ich auf den Ansatz ihrer Brüste schaue und ihre schwellenden Hintern in den engen Hosen oder Röcken entdecke. Sie sind fröhlich, leicht wie Vögel und ich wünsche mir, ihre Haut zu berühren. Haut wie Milch, die schmeckt wie Honig. Hinter ihnen junge Männer, Knaben eher, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie lachen, zeigen ihre Muskeln, recken ihre Brustkörbe und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Mit Stolz tragen sie dieselben Turnschuhe, nach denen ich mich sehnte. Markenschuhe, auf die ich sparte, für die ich meine Eltern anbettelte, bis ich die 200€ in den Händen hielt, die ich brauchte. Ich erinnere mich wie neu und makellos sie rochen, wie unbefleckt sie waren. Ich dachte, dass jeder sehen müsste, welche Schuhe ich trage, dass alle, an denen ich vorbeigehe, mich und meine Schuhe bewunderten. Ich täuschte mich. Gestern habe ich meine überzähligen Kleider und Schuhe den Bedürftigen der Gemeinde gespendet. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe mich entschieden.

Während ich hier sitze, gehen Hunderte an mir vorbei und sehen mich nicht. Die Sonne brennt auf den Asphalt. Die Erde darunter wünscht sich, befreit zu werden. Im Brennglas meiner Gedanken schwitze ich nicht. Ich bete für die Menschen, die an mir vorbei wandern. Ich bin vorbereitet und mache die Sonne heller, weil ich wie ein Blitz bin, der aufzuckt und den Tag erhellt. Eins muss mir noch gelingen: das Mitleid besiegen, hart sein, den Schmerz und das Blut ertragen, mich im Licht zeigen. Heute will ich meinen Mut testen und mich vorbereiten auf das Größere, das kommen wird. Nur ein Versuch. In meiner Tasche habe ich eine Wollmütze mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen. Und den Brandsatz nach einer Anleitung aus den Flüssigkeiten gemixt, die ich mir besorgt habe.

Ich lasse mich in die Menge gleiten, gehe über die Zeil, biege ab, in Richtung Paulskirche und Römer. Als ich in der Schule war, besuchten wir die Paulskirche. Lehrergerede über die deutschen Bürger, die hier zusammenkamen, um die Freiheit zu erkämpfen, vertrieben wurden, unterjocht von Adel und später von der Gewalt des Geldes. Woher soll die Freiheit kommen, solange es erlaubt ist, andere mit den Mitteln des Rechts zu betrügen und sich dabei wohl zu fühlen?

An eine Wand gelehnt, sehe ich eine junge Frau. Sie trägt Jeans und einen zerschlissenen Pullover und um den Hals ein Pappschild. Darauf steht: „Ich bin alleinerziehend und arm, Bitte helfen sie mir.“ Vor sich hat sie eine Plastikschale auf den Asphalt gestellt. Münzen darin, Centbeträge, mehr nicht. Schnell und ohne sie zu beachten, gehen Leute mit gefüllten Beuteln an ihr vorbei. Die Frau gefällt mir mit ihrer weißen Haut. Wenn sie nur aufstünde und ihren Körper aufrichtete, um ihn den Menschen entgegen zu strecken, die sie übersehen, die Augen vor ihr verschließen, sich wegdrehen. Früher hätte ich das genauso gemacht, weggeschaut. Meine Schritte werden langsamer, ich beuge mich zu ihr herab, hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Ich schütte alle Münzen, die sich darin befinden, in das Tellerchen und den 50€-Schein lege ich obendrauf. Sie schaut hoch zu mir, zu dem Mann mit dem schwarzen Bart und den dunklen Augen und ich erkenne wie hell und durchscheinend ihre Augen sind. Ein vorsichtiges, verkniffenes Lächeln. Für einige Augenblicke halten sich unsere Blicke.

„Danke.“
„Ich freue mich, dir zu helfen, Schwester.“

Ein stiller Blick von ihr, verwundert, ängstlich. Hastig richte ich mich auf und gehe weiter. Kein Blick zurück. Ich fühle mich leicht. Für einen Moment überlege ich, ob die Frau eine Ganovin war, die sich verkleidet und abends in ihrer komfortablen Wohnung ihre Tageseinnahmen zählt. Ich unterdrücke den Gedanken, besser ist es, zu glauben und zu hoffen.

Mein Schädel brennt. Ich bin wenige Schritte vom Römerplatz entfernt. Ich mag diese Häuser, die aussehen, als stünden sie jahrhundertelang hier und kämen aus einer alten Welt, die ehrlicher war. Vor der Fassade des Rathauses bleibe ich stehen. Mitten unter Touristen aus Asien, von überall her. Mein Blick wandert hin und her, um die Menschen zu spüren, die sich gegenseitig fotografieren und anlachen. Eine ganze Gruppe in der ländlichen Kleidung ihrer Heimat geht an mir vorbei. Sie sehen nach Indern aus. Die Frauen tragen lange, bunte Kleider, in Farben, die wir hier nicht sehen, warme Farben, orange, ein helles Blau. Farben, die aus der Natur stammen.

Der Anblick der Farben erinnert mich an einen Sommertag auf dem Land, an eine Sommerwiese mit vielfarbigen Blumen, an die Frau, die ich dort geküsst und begehrt habe, an ihre Haut, ihre Lippen, die sich geöffnet haben, an sie, die sich geöffnet hat. Unsere Küsse füllten unsere Münder aus und wir vergaßen, was um uns war. Erst als wir die Augen wieder aufmachten, bemerkten wir, wie schön das Meer der Blumen war. Vollendeter war kein Sommertag.

Heute ist ein heißer Sommertag wie damals, wenngleich es kein stiller Tag ist. Die indische Reisegruppe geht weiter, angeführt von einem Mann, der streng wirkt, auf sie einredet und sie antreibt, als wären sie Gefangene. Ich gehe zurück zur Einkaufsstraße, weg von den idyllischen Häusern des historischen Zentrums. Als ich an die Stelle komme, wo die Bettlerin sitzt, wende ich meinen Blick ab, gehe an ihr vorbei, um sie nicht anschauen zu müssen.

Ich will mich auf meine Aufgabe konzentrieren und denke an diejenigen, die mir die Augen geöffnet haben, höre die wohlklingende Stimme von A. in mir, der mir erklärte, dass Satan die Welt beherrsche und wie schön diese Welt wäre, wenn sie gereinigt sei. Wir Kinder des Lichtes atmeten anschließend freier und die Angst verschwände, das Gift für die Seelen. Nachdem er von Satan gesprochen hatte, begann ich, die Gesichter des Teufels auf den Straßen zu suchen und fand sie in den Blicken meiner Eltern, die aufblitzenden Augen, wenn sie davon sprachen, was sie sich unbedingt haben wollten, sei es ein Auto oder Schmuck. Der Satan war im Blick meines Vaters, der eines Abends sagte, er gehe mit Freunden etwas trinken, obwohl er mit einer anderen Frau ins Restaurant ging. Er saß da und lächelte die Fremde an, während meine Mutter ihm zu Hause die Unterhosen bügelte. Ich lief schnell an ihm vorbei. Für alle sichtbar hatte er einen Platz am Fenster gewählt. Die Frau mit ihren dunklen Haaren und dem harten Gesicht war nicht besonders hübsch. Mein Vater lachte und gestikulierte dennoch mit ihr. Am nächsten Tag war ich bei Anton und habe ihm von meinem Vater erzählt. Er hat mich an das Lachen Satans erinnert. Wir müssen die Welt reinigen, dem Satan entgegen treten. Ich hab verstanden, was Anton meint und werde handeln. Heute ist der richtige Tag.

Langsam nähere ich mich meinem Ziel, der geschäftigen Kleinmarkthalle. Wo man Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch kaufen kann, die angefüllt ist mit Gerüchen. Ein französisches Maishühnchen, Fisch, der Tage zuvor glücklich im Ozean schwamm, habe ich mir dort erst vor ein paar Tagen geholt. An diesem frühen Nachmittag wird es nicht voll sein in der Halle. Mein Plan sieht vor, mir eine unbelebte Stelle auf der Empore zu suchen. In der Nähe der Fischstände. Ich suche mir eine geeignete Stelle, platziere meine Tasche und entsichere den Zünder. Wenn das erledigt ist, bleiben mir zehn Minuten, um die Halle zu verlassen.

Als ich reingehe, genieße ich den kühlen Luftzug der Klimaanlage nach der Hitze draußen. Ich rieche ein Gemisch aus Kräutern und süßem Obst, während ich an den ersten Ständen vorbei gehe und das aufgetürmte Obst betrachte. Die Erdbeeren sind ebenso rot und glänzend wie die Brombeeren und Himbeeren, als wären sie poliert. Ich stelle mir vor, Erdbeeren mit Sahne zu vermischen und mir in den Mund zu stopfen. Oder sie gleich ungewaschen zu vertilgen, wie ich es als Kind auf dem Feld gemacht habe. Von allem Obst kommen mir Erdbeeren am Eigentümlichsten vor. Jede Beere schmeckt anders. Am Aussehen lässt sich nicht beurteilen wie süß oder aromatisch eine Beere schmeckt. Die Überraschung beginnt im Mund. Manch unscheinbare Erdbeere schmeckt aromatisch und zuckersüß. Andere leuchten in tiefem Rot und schmecken nach Wasser.

Frauen und Männer in grünen Schürzen stehen hinter den Ständen. Ich beobachte eine kleine, alte Frau mit weißen Haaren und unsicherem, hinkendem Gang. Für einen Moment schaut sie mir direkt in die Augen und lächelt, häuft Äpfel auf und stapelt die Früchte. Wenige Leute kommen mir entgegen. Wie ich es erwartet habe. Pärchen sind dabei, die sich an den Händen halten. Ich stelle mir vor, wie sie zusammen Gemüse schneiden, kochen, mit Weingläsern anstoßen, sich anlächeln und glücklich sind. Romantische Gedanken im Halbdunkel.

Ich bleibe entschlossen und konzentriert. Ich muss nicht überlegen, jede Einzelheit ist durchdacht. Eine Treppe führt mitten in der Halle zur Empore. Dorthin führt mein Weg. Hochgehen, die Tasche ohne Zögern abstellen und die Halle verlassen. Ich gehe los und bin vorbereitet. Oben auf der Empore angelangt, schaue ich mir die Stände mit Fisch und Kaviar an. Kaum was los, die Verkäufer schauen gelangweilt ins Leere. Die Köstlichkeiten sind teuer, der Lohn eines ganzen Tages für das Prekariat. An einer Stelle finde ich eine Lücke zwischen aufgestapelten Kisten und Eimern. Die anderen Plätze sind unbrauchbar, weil dort überhaupt nichts steht und ein herumstehender Gegenstand auffiele. Ich beschließe die Tasche in die oberste der gestapelten Kisten zu legen. Die ausgewählte Lücke zwischen den Ständen befindet sich vor einem der letzten Fischbuden. Langsam nähere ich mich, vorsichtig schaue ich mich um, ob jemand sich hinter mir befindet. Eine Frau und ein Mann überholen mich. Ein junges Pärchen, das sich an den Händen hält, in beständigem Austausch von Worten, Gesten und Berührungen. Sie sind vor mir und stehen an einem Fischstand. Vielleicht feiern sie das Jubiläum ihres Kennenlernens. Sie sollten sich mit ihrem Einkauf beeilen.
Es riecht nach Fisch und Meer. Feuer wird den Geruch vertreiben. Hinter mir befindet sich eine ältere Frau, die sich ziellos umschaut. Ich bemerke sie, als ich nur noch wenige Meter von der Lücke mit den Kisten entfernt bin und mich an die Balustrade lehne, um auf den Moment zu warten, die Tasche abzustellen. Ich fühle mich unbeobachtet. Wenn ich fliehen muss, werde ich die Mütze überziehen, die ich mir zurechtgeschnitten habe. Meine Kleidung ist unauffällig. Jeans, schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck. Mein Blick wandert von der Balustrade über die Stände im Erdgeschoss. Menschen. Manche mit gefüllten Tüten voller Obst und Gemüse. Andere schlendern ziellos und genießen die Kühle der Halle.

Ich bin entspannt, hellwach und absolut konzentriert. Was werden die Leute machen, wie werden sie sich bewegen, sobald sie den Brandsatz bemerken? Panik? Das Paket sieht wie ein sehr großer Kaugummi aus und wird ein Loch in den Boden reißen, wahrscheinlich die Balustrade beschädigen. Die Fische werden in der Luft tanzen und das Gemüse wird fliegen.

An die Menschen darf ich nicht denken, das Ziel zählt. Der Moment ist gekommen. Mit festen Schritten, ohne mich zu beeilen, gehe ich zu der Lücke zwischen den Ständen, wo die Kisten stehen und lege die Tasche in die oberste Kiste, als wäre sie mir zu schwer, als wollte ich sie nach meinen Einkäufen wieder abholen. Ich wende mich ab und gehe langsam und mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen kann, zur Treppe. Auf der Treppe bleibe ich stehen und hole das Handy mit dem installierten Zeitzünder aus der Tasche. Ich brauche nur ein Signal senden und die Bombe ist aktiviert, programmiert von Brüdern. Das Handy habe ich von Anton. Ich drücke hastig auf den Knopf und sende das Signal.

Mir bleiben zehn Minuten. Bis dahin will ich auf der Zeil sein und mich in der Menge auflösen. Aus der Ferne werde ich Sirenen hören, Blaulicht sehen, den Knall der Bombe hören, Unruhe wird sich in der Stadt ausbreiten und ich werde weitergehen, einfach weitergehen. Ich bin kein Märtyrer und will nicht sterben, obwohl ich keine Angst vor dem Tod habe. Solange ich lebe, kann ich größere Aufgaben übernehmen, die Welt verändern. Es geht ohnehin nicht um mich, es geht um Würde und ein Leben im Einklang mit Gott. Es geht um Wahrheit in einer Welt, die von Geld und falscher Propaganda beherrscht wird. Sie lügen, wenn sie sagen, wir seien dumm, fanatisch und verblendet. Wir sind das Licht. Die Propheten, unter ihnen Jeus, sprachen vom Licht Gottes. Die Wahrheit muss durch die Dunkelheit hindurch sichtbar werden.

Schnell die Treppe hinab, ohne dass es nach einer Flucht aussieht. Einer, der es eilig hat. Dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. An einem der Stände mit Blumen, nicht weit vom Ausgang, stehen Muriel und Hicham, meine Tante und mein Onkel. Sie riechen an Blumen und kichern wie Kinder. Ich muss eine Entscheidung treffen. Entweder gehe ich an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gesehen und sie bleiben hier, wenn das Feuer und das Chaos ausbricht, oder ich versuche sie so schnell es geht, nach draußen zu locken. Meine Tante backt die besten Kuchen der Welt. Sie lieben Kinder, obwohl sie keine eigenen haben. Sie streiten nie, lächeln immer und sind wunderbar. Als Kind habe ich sie oft gesehen, in den vergangenen Jahren selten. Ich bin erwachsen und halte mich von der Familie fern. Ausgerechnet jetzt sehe ich sie hier, heute, in dieser Stunde. Die Zeit verrinnt. Ich muss sie ansprechen und wegbringen. Als ich bei ihnen ankomme, bemerken sie mich anfangs nicht. Dann wendet meine Tante ihren Kopf und sieht mich. Ihr Lachen zieht sich über das ganze Gesicht.

„Asik, Junge, bist du das wirklich? Wir haben dich lange nicht gesehen,“ sagt sie. Schulterklopfen und eine stumme Umarmung meines Onkels folgen. Ich versuche ruhig zu bleiben. Minuten verrinnen.
„Kommt ihr mit mir nach draußen ? Ich habe es eilig, draußen könnte ich noch eine Zigarette mit euch rauchen.“
„Du musst wirklich gleich los?“
„Lasst uns raus gehen, da können wir besser reden.“
„Ja, gleich. Du siehst gut aus“, sagt mein Onkel.

Er ist ein stämmiger, kleiner Mann. Wir gehen zusammen los. Es sind nur wenige Schritte bis zum Ausgang. Die beiden sind langsam und betrachten mich immer wieder. Wir kommen an dem Stand mit den Rindswürsten vorbei, vor dem eine lange Schlange Menschen ein heißes Stück Wurst ergattern will. Die Tür öffnet sich automatisch und die gleißende Helligkeit blendet uns, Hitze schlägt uns entgegen, stärker und spürbarer als vor dem Betreten der Halle. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt, bleiben wir an einer Stelle stehen, die Schatten bietet. Meine Tante hat sich bei mir eingehakt und sich auf dem Weg an mich gedrückt.

Gleich wird es losgehen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich zünde mir die Zigarette an, meine Tante fragt mich, wie es mit dem Studium läuft. Da hören wir den Knall- Eine Scheibe zerbricht über der Stelle, an der wir stehen. Rauch spuckt heraus, grauer, dunkler Rauch. Meine Ohren dröhnen. Schrecken bricht aus. Tante Muriel zittert, klammert sich an mich und den Onkel. Menschen rennen schreiend aus der Halle. Onkel Hicham schaut mich an, fragend, mit starren Augen. Er nimmt seine Frau an der Hand und drängt von der Halle weg. Dicht hinter ihn folge ich. Meine Kehle schnürt sich zu. Angst. Beschleunigung. Alles wird schneller. Die Ruhe des Sommertags ist vorbei, wie ich es wollte, genau wie ich es wollte.

Immer mehr Menschen drängen aus der Halle. Wie ein Sturm. Sie treiben in alle Richtungen, weg von der Halle, weg von der Angst. Meine Zigarette ist längst auf den Boden gefallen. Wir gehen weiter, schneller. Ich weiß, dass ich mich verabschieden muss, obwohl ich Tante und Onkel nicht allein lassen will, auf deren Gesichtern die Furcht das Lächeln gelöscht hat.

Eine zweite Explosion folgt. Schreie. Leute, die an uns an uns vorbei rennen. In der Nähe höre ich Martinshörner. Ich drehe mich um und blicke zum Eingang der Halle zurück. Rauch. Verletzte. Einige wanken, werden gestützt. Genau kann ich es nicht sehen. Ich muss weg. Aus dem Fenster im Obergeschoss wurden Gegenstände herausgeschleudert. Fische darunter. Sie liegen neben Bruchstücken von Plastik und Holz. Die Bombe muss eine viel stärkere Wirkung entfaltet haben, als ich es vermutet habe. Ich bereue nichts, überhaupt nichts bereue ich. Die Fische flogen in den Himmel empor und liegen jetzt auf dem Asphalt, mit glänzendgrauen Schuppen, glitschigem Leib. Mein Werk gefällt mir, die Schreie gefallen mir.
Ich höre die leise Stimme Onkel Hichams: „Wir gehen weg von hier, mein Junge.“ Er sagt es ins Nichts. Ohne noch auf mich zu warten, nimmt er die Hand meiner Tante und geht los. Langsam und energisch. Er achtet nicht darauf, ob ich mitkomme. Mag sein, dass er mich vergessen hat. Ich folge ich ihnen. Wir begegnen. Menschen, die vom Geschehen weg eilen, anderen, die sich hin drängen. Mein Onkel wird schneller. Wie von alleine gehen meine Beine, wie in einem Traum. Der Römerplatz ist leergefegt.

„Wer mag das angerichtet haben? In der Halle war es so friedlich“, sagte Tante Muriel.
„Die Welt ist grausam. Hauptsache euch ist nichts passiert.“
Es klingt wie eine Lüge. Ich muss gehen, weg von ihnen, weg von dem Rauch, der hinter mir aufsteigt. Ich suche nach der Stelle, wo die junge Bettlerin war. Sie ist verschwunden.
Ich umarme Tante und Onkel und verabschiede mich. Auf meiner Wange bleibt eine Träne von Tante Muriel zurück.
„Ich muss gehen.“
Mein Blick geht nicht zurück.
 

Isegrims

Mitglied
Ich habe den monierten Anfang geändert:

Der Sommertag brennt. Dunst liegt über der Stadt. Menschen fließen durch die die Einkaufsstraße. Am Rande der Straße, unter einem müden Baum mit verblichenen Blättern sitze ich auf einer Bank und beobachte die Menschen.

Ich sehe starre, gierige Augen.
 

Isegrims

Mitglied
Hallo @FrankK

ist ein schwieriges Unterfangen die Denkweise eines solchen Menschen darzustellen. Fassungslosigkeit, Entsetzen und Sprachlosigkeit reichen nicht aus. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir verstehen müssen - auch um die Wurzel des Übels anpacken zu können. Das heißt ja nicht, dass wir Verständnis aufbringen, ein schmaler Grat.
Sympathisant bin ich keineswegs, muss aber mit leben, dass simplifizierende Leser das so auffassen könnten. Wutbürger bin ich ebenso wenig. (die glauben übrigens auch, dass sie im Recht sind, auch darüber lohnte es sich, eine Geschichte zu schreiben.)

Hätten die Kreuzritter (wieso werden die eigentlich Ritter und nicht Terroristen genannt?) der damaligen Zeit MGs und Sprengsätze mit Zeitzünder zur Verfügung gehabt - sie hätten es eingesetzt
Die Amerikaner haben Drohnen und Guantanamo, auch so ne Sache...

Lieben Dank für deinen Kommentar und die Aufmunterung
Isegrims

P.S. votet! :)
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Isegrim,

Du hättest keine Jenseitserwartungen mehr beschreiben müssen, er hoffte, das zu sehen woran er glaubte, wäre genug gewesen.

Hallo Wipfel,

Redakteursentscheidungen sind nicht öffentlich anzuzweifeln, siehe Regeln.

VG,
DS
 

Ji Rina

Mitglied
Was ich an diesem Text gruselig finde: Seine leere.
Im Vergleich zu einem Krimi, in etwa wie: “Ich hab sie immer geliebt, aber sie hat mich immer abgewiesen und nun bring ich sie um, und zerstückel sie”.
Der Text sagt uns nichts, was wir nicht bereits wüssten: Wir, die schlechten weil die Frauen so freizügig, weil wir ungläubig; weil wir Materialisten, etc…Hinzu noch ein wenig “Tiefenpsychologie” (Turnschuhe für 200 Euro, die Brüste und Hintern der Frauen, die der Prot so gern auch mal anfassen würde wollen,)... und ab die Post.
Für mich klingts ein wenig wie eine Schulaufgabe: “Ich, ein Terrorist”.
 

Isegrims

Mitglied
Hallo Ji Rina

vielen Dank für die Anmerkung...
Muss es denn etwas Neues sein, das du in einem solchen Text erfährst? Was erwartest du? Sensationsmeldungen? Das ist nicht die Motiovation des Textes...
Gerade in Krimis, sind die Motive doch ebenso absehbar...
 

Isegrims

Mitglied
Liebe Ji Rina

die Motivation des Textes? So einen Text zu schreiben schmerzt, gerade weil ich etwas berühre, das ich nicht gut heiße...
Da hin gehen, wo es schmerzt, näher an die Realität, das Bittere beschreiben...
Gibt doch genug und viel zu viel Wohlfühlliteratur von Gutbürgern, oder?
 

Isegrims

Mitglied
Der Sommertag brennt. Dunst liegt über der Stadt. Menschen fließen durch die die Einkaufsstraße. Am Rande der Straße, unter einem müden Baum mit verblichenen Blättern sitze ich auf einer Bank und beobachte die Menschen.

Ich sehe starre, gierige Augen. Frauen, die ihre Haut zur Schau stellen. Männer, die ihre Frauen präsentieren. Ungeschützte Schönheit. Dazwischen meine Brüder, als Bettler verkleidet, gebückt im Dreck. Jeder geht an dem anderen vorbei und reiht sich ein in die große Schlange, in das Wogen der Masse.

Meine Augen sind klar und mein Herz fülle ich mit Liebe. Ich bin berufen, das Licht in die Welt zu bringen und werde Blut zwingen, die Augen zu öffnen. Das Blut wird leuchten und die Jagenden, die Suchenden, werden die Plastiktüten mit ihren Einkäufen vergessen. Ich helfe ihren Seelen und sie werden schmerzhaft ihre Augen öffnen.

Kichernd gehen junge Frauen an mir vorbei, kaum jünger als ich. Sie erkennen und beachten mich nicht, obwohl ich auf den Ansatz ihrer Brüste schaue und ihre schwellenden Hintern in den engen Hosen oder Röcken entdecke. Sie sind fröhlich, leicht wie Vögel und ich wünsche mir, ihre Haut zu berühren. Haut wie Milch, die schmeckt wie Honig. Hinter ihnen junge Männer, Knaben eher, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie lachen, zeigen ihre Muskeln, recken ihre Brustkörbe und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Mit Stolz tragen sie dieselben Turnschuhe, nach denen ich mich sehnte. Markenschuhe, auf die ich sparte, für die ich meine Eltern anbettelte, bis ich die 200€ in den Händen hielt, die ich brauchte. Ich erinnere mich wie neu und makellos sie rochen, wie unbefleckt sie waren. Ich dachte, dass jeder sehen müsste, welche Schuhe ich trage, dass alle, an denen ich vorbeigehe, mich und meine Schuhe bewunderten. Ich täuschte mich. Gestern habe ich meine überzähligen Kleider und Schuhe den Bedürftigen der Gemeinde gespendet. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe mich entschieden.

Während ich hier sitze, gehen Hunderte an mir vorbei und sehen mich nicht. Die Sonne brennt auf den Asphalt. Die Erde darunter wünscht sich, befreit zu werden. Im Brennglas meiner Gedanken schwitze ich nicht. Ich bete für die Menschen, die an mir vorbei wandern. Ich bin vorbereitet und mache die Sonne heller, weil ich wie ein Blitz bin, der aufzuckt und den Tag erhellt. Eins muss mir noch gelingen: das Mitleid besiegen, hart sein, den Schmerz und das Blut ertragen, mich im Licht zeigen. Heute will ich meinen Mut testen und mich vorbereiten auf das Größere, das kommen wird. Nur ein Versuch. In meiner Tasche habe ich eine Wollmütze mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen. Und den Brandsatz nach einer Anleitung aus den Flüssigkeiten gemixt, die ich mir besorgt habe.

Ich lasse mich in die Menge gleiten, gehe über die Zeil, biege ab, in Richtung Paulskirche und Römer. Als ich in der Schule war, besuchten wir die Paulskirche. Lehrergerede über Freiheitskampf. Nichts hat sich geändert. Was ist das für eine Freiheit kommen, solange es erlaubt ist, Geld zu scheffeln, andere mit den Mitteln des Rechts zu betrügen und sich dabei wohl zu fühlen?
An eine Wand gelehnt, sehe ich eine junge Frau. Sie trägt Jeans und einen zerschlissenen Pullover und um den Hals ein Pappschild. Darauf steht: „Ich bin alleinerziehend und arm, Bitte helfen Sie mir.“ Vor sich hat sie eine Plastikschale auf den Asphalt gestellt. Münzen darin, Centbeträge, mehr nicht. Schnell und ohne sie zu beachten, gehen Leute mit gefüllten Beuteln an ihr vorbei. Die Frau gefällt mir mit ihrer weißen Haut. Wenn sie nur aufstünde und ihren Körper aufrichtete, um ihn den Menschen entgegen zu strecken, die sie übersehen, die Augen vor ihr verschließen, sich wegdrehen. Früher hätte ich das genauso gemacht, weggeschaut. Meine Schritte werden langsamer, ich beuge mich zu ihr herab, hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Ich schütte alle Münzen, die sich darin befinden, in das Tellerchen und den 50€-Schein lege ich obendrauf. Sie schaut hoch zu mir, zu dem Mann mit dem schwarzen Bart und den dunklen Augen und ich erkenne wie hell und durchscheinend ihre Augen sind. Ein vorsichtiges, verkniffenes Lächeln. Für einige Augenblicke halten sich unsere Blicke.

„Danke.“
„Ich freue mich, dir zu helfen, Schwester.“

Ein stiller Blick von ihr, verwundert, ängstlich. Hastig richte ich mich auf und gehe weiter. Kein Blick zurück. Ich fühle mich leicht. Für einen Moment überlege ich mir, ob die Frau eine Ganovin ist, die sich verkleidet und abends in ihrer komfortablen Wohnung ihre Tageseinnahmen zählt. Ich unterdrücke den Gedanken, besser ist es, zu glauben und zu hoffen.

Mein Schädel brennt. Ich bin wenige Schritte vom Römerplatz entfernt. Ich mag diese Häuser, die aussehen, als stünden sie jahrhundertelang hier und kämen aus einer alten Welt, die ehrlicher war. Vor der Fassade des Rathauses bleibe ich stehen, mitten unter Touristen aus Asien. Mein Blick wandert hin und her, um die Menschen zu spüren, die sich gegenseitig fotografieren und anlachen. Eine ganze Gruppe in der ländlichen Kleidung ihrer Heimat geht an mir vorbei. Sie sehen nach Indern aus. Die Frauen tragen lange, bunte Kleider, in Farben, die hier keiner tragen würde, warme Töne, orange, ein helles Blau.
Der Anblick der Farben erinnert mich an einen Sommertag auf dem Land, an eine Sommerwiese mit vielfarbigen Blumen, an die Frau, die ich dort geküsst und begehrt habe, an ihre Haut, ihre Lippen, die sich geöffnet haben, an sie, die sich geöffnet hat. Unsere Küsse füllten unsere Münder aus und wir vergaßen, was um uns war. Erst als wir die Augen wieder aufmachten, bemerkten wir, wie schön das Meer der Blumen war. Vollendeter war kein Sommertag. Heute ist ein Tag wie damals. Ich habe genug gewartet und gehe zurück zur Einkaufsstraße, weg von den idyllischen Häusern des historischen Zentrums. Als ich an die Stelle komme, wo die Bettlerin sitzt, wende ich meinen Blick ab, um sie nicht anschauen zu müssen.
Ich will mich auf meine Aufgabe konzentrieren und denke an diejenigen, die mir die Augen geöffnet haben, höre die wohlklingende Stimme von Anton in mir, der mir erklärte, dass Satan die Welt beherrsche und wie schön diese Welt wäre, wenn sie gereinigt sei. Wir Kinder des Lichtes atmeten anschließend freier und die Angst verschwände, das Gift für die Seelen. Nachdem er von Satan gesprochen hatte, begann ich, die Gesichter des Teufels auf den Straßen zu suchen und fand sie in den Blicken meiner Eltern, die aufblitzenden Augen, wenn sie davon sprachen, was sie sich unbedingt haben wollten, sei es ein Auto oder Schmuck. Der Satan war im Blick meines Vaters, der eines Abends sagte, er gehe mit Freunden etwas trinken, obwohl er mit einer anderen Frau ins Restaurant ging. Er saß da und lächelte die Fremde an, während meine Mutter ihm zu Hause die Wäsche bügelte. Ich lief schnell an ihm vorbei. Für alle sichtbar hatte er einen Platz am Fenster gewählt. Die Frau mit ihren dunklen Haaren und dem harten Gesicht war nicht besonders hübsch. Mein Vater lachte und gestikulierte dennoch mit ihr. Am nächsten Tag war ich bei Anton und habe ihm von meinem Vater erzählt. Er hat mich an das Lachen Satans erinnert. Wir müssen die Welt reinigen, dem Satan entgegen treten. Ich hab verstanden, was Anton meint und werde handeln. Heute ist der richtige Tag.

Langsam nähere ich mich meinem Ziel, der geschäftigen Kleinmarkthalle. Wo man Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch kaufen kann, die angefüllt ist mit Gerüchen. Bei meinem letzten Besuch holte ich mir ein französisches Maishühnchen und Fisch, der ein Tag zuvor glücklich im Ozean schwamm, habe ich mir dort erst vor ein paar Tagen geholt. An diesem frühen Nachmittag wird es nicht voll sein in der Halle. Mein Plan ist einfach: eine unbelebte Stelle auf der Empore suchen, meine Tasche platzieren und den Zünder entsichern. Wenn das erledigt ist, bleiben mir zehn Minuten, um die Halle zu verlassen.

Als ich reingehe, genieße ich den kühlen Luftzug der Klimaanlage nach der Hitze draußen. Ich rieche ein Gemisch aus Kräutern und süßem Obst, während ich an den ersten Ständen vorbei gehe und das aufgetürmte Obst betrachte. Die Erdbeeren sind ebenso rot und glänzend wie die Brombeeren und Himbeeren, als wären sie poliert. Ich stelle mir vor, Erdbeeren mit Sahne zu vermischen und mir in den Mund zu stopfen. Oder sie gleich ungewaschen zu vertilgen, wie ich es als Kind auf dem Feld gemacht habe. Von allem Obst kommen mir Erdbeeren am Eigentümlichsten vor. Jede Beere schmeckt anders. Am Aussehen lässt sich nicht beurteilen wie süß oder aromatisch eine Beere schmeckt. Die Überraschung beginnt im Mund. Manch unscheinbare Erdbeere schmeckt aromatisch und zuckersüß. Andere leuchten in tiefem Rot und schmecken nach Wasser.

Frauen und Männer in grünen Schürzen stehen hinter den Ständen. Ich beobachte eine kleine, alte Frau mit weißen Haaren und unsicherem, hinkendem Gang. Für einen Moment schaut sie mir direkt in die Augen und lächelt, häuft Äpfel auf und stapelt die Früchte. Wenige Leute kommen mir entgegen. Wie ich es erwartet habe. Pärchen sind dabei, die sich an den Händen halten. Ich stelle mir vor, wie sie zusammen Gemüse schneiden, kochen, mit Weingläsern anstoßen, sich anlächeln und glücklich sind. Romantische Gedanken im Halbdunkel.

Ich bleibe entschlossen und konzentriert. Ich muss nicht überlegen, jede Einzelheit ist durchdacht. Eine Treppe führt mitten in der Halle zur Empore. Dorthin führt mein Weg. Hochgehen, die Tasche ohne Zögern abstellen und die Halle verlassen. Ich gehe los und bin vorbereitet. Oben auf der Empore angelangt, schaue ich mir die Stände mit Fisch und Kaviar an. Kaum was los, die Verkäufer schauen gelangweilt ins Leere. Die Köstlichkeiten sind teuer, der Lohn eines ganzen Tages für das Prekariat. An einer Stelle finde ich eine Lücke zwischen aufgestapelten Kisten und Eimern. Die anderen Plätze sind unbrauchbar, weil dort überhaupt nichts steht und ein herumstehender Gegenstand auffiele. Ich beschließe die Tasche in die oberste der gestapelten Kisten zu legen. Die ausgewählte Lücke zwischen den Ständen befindet sich vor einem der letzten Fischbuden. Langsam nähere ich mich, vorsichtig schaue ich mich um, ob jemand sich hinter mir befindet. Eine Frau und ein Mann überholen mich. Ein junges Pärchen, das sich an den Händen hält, in beständigem Austausch von Worten, Gesten und Berührungen. Sie sind vor mir und stehen an einem Fischstand. Vielleicht feiern sie das Jubiläum ihres Kennenlernens. Sie sollten sich mit ihrem Einkauf beeilen.
Es riecht nach Fisch und Meer. Feuer wird den Geruch vertreiben. Hinter mir befindet sich eine ältere Frau, die sich ziellos umschaut. Ich bemerke sie, als ich nur noch wenige Meter von der Lücke mit den Kisten entfernt bin und mich an die Balustrade lehne, um auf den Moment zu warten, die Tasche abzustellen. Ich fühle mich unbeobachtet. Wenn ich fliehen muss, werde ich die Mütze überziehen, die ich mir zurechtgeschnitten habe. Meine Kleidung ist unauffällig. Jeans, schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck. Mein Blick wandert von der Balustrade über die Stände im Erdgeschoss. Menschen. Manche mit gefüllten Tüten voller Obst und Gemüse. Andere schlendern ziellos und genießen die Kühle der Halle.

Ich bin entspannt, hellwach und absolut konzentriert. Was werden die Leute machen, wie werden sie sich bewegen, sobald sie den Brandsatz bemerken? Panik? Das Paket sieht wie ein sehr großer Kaugummi aus und wird ein Loch in den Boden reißen, wahrscheinlich die Balustrade beschädigen. Die Fische werden in der Luft tanzen und das Gemüse wird fliegen.

An die Menschen darf ich nicht denken, das Ziel zählt. Der Moment ist gekommen. Mit festen Schritten, ohne mich zu beeilen, gehe ich zu der Lücke zwischen den Ständen, wo die Kisten stehen und lege die Tasche in die oberste Kiste, als wäre sie mir zu schwer, als wollte ich sie nach meinen Einkäufen wieder abholen. Ich wende mich ab und gehe langsam und mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen kann, zur Treppe. Auf der Treppe bleibe ich stehen und hole das Handy mit dem installierten Zeitzünder aus der Tasche. Ich brauche nur ein Signal senden und die Bombe ist aktiviert, programmiert von Brüdern. Das Handy habe ich von Anton. Ich drücke hastig auf den Knopf und sende das Signal.

Mir bleiben zehn Minuten. Bis dahin will ich auf der Zeil sein und mich in der Menge auflösen. Aus der Ferne werde ich Sirenen hören, Blaulicht sehen, den Knall der Bombe hören, Unruhe wird sich in der Stadt ausbreiten und ich werde weitergehen, einfach weitergehen. Ich bin kein Märtyrer und will nicht sterben, obwohl ich keine Angst vor dem Tod habe. Solange ich lebe, kann ich größere Aufgaben übernehmen, die Welt verändern. Es geht ohnehin nicht um mich, es geht um Würde und ein Leben im Einklang mit Gott. Es geht um Wahrheit in einer Welt, die von Geld und falscher Propaganda beherrscht wird. Sie lügen, wenn sie sagen, wir seien dumm, fanatisch und verblendet. Wir sind das Licht. Die Propheten, unter ihnen Jeus, sprachen vom Licht Gottes. Die Wahrheit muss durch die Dunkelheit hindurch sichtbar werden.

Schnell die Treppe hinab, ohne dass es nach einer Flucht aussieht. Einer, der es eilig hat. Dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. An einem der Stände mit Blumen, nicht weit vom Ausgang, stehen Muriel und Hicham, meine Tante und mein Onkel. Sie riechen an Blumen und kichern wie Kinder. Ich muss eine Entscheidung treffen. Entweder gehe ich an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gesehen und sie bleiben hier, wenn das Feuer und das Chaos ausbricht, oder ich versuche sie so schnell es geht, nach draußen zu locken. Meine Tante backt die besten Kuchen der Welt. Sie lieben Kinder, obwohl sie keine eigenen haben. Sie streiten nie, lächeln immer und sind wunderbar. Als Kind habe ich sie oft gesehen, in den vergangenen Jahren selten. Ich bin erwachsen und halte mich von der Familie fern. Ausgerechnet jetzt sehe ich sie hier, heute, in dieser Stunde. Die Zeit verrinnt. Ich muss sie ansprechen und wegbringen. Als ich bei ihnen ankomme, bemerken sie mich anfangs nicht. Dann wendet meine Tante ihren Kopf und sieht mich. Ihr Lachen zieht sich über das ganze Gesicht.

„Asik, Junge, bist du das wirklich? Wir haben dich lange nicht gesehen,“ sagt sie. Schulterklopfen und eine stumme Umarmung meines Onkels folgen. Ich versuche ruhig zu bleiben. Minuten verrinnen.
„Kommt ihr mit mir nach draußen ? Ich habe es eilig, draußen könnte ich noch eine Zigarette mit euch rauchen.“
„Du musst wirklich gleich los?“
„Lasst uns raus gehen, da können wir besser reden.“
„Ja, gleich. Du siehst gut aus“, sagt mein Onkel.

Er ist ein stämmiger, kleiner Mann. Wir gehen zusammen los. Es sind nur wenige Schritte bis zum Ausgang. Die beiden sind langsam und betrachten mich immer wieder. Wir kommen an dem Stand mit den Rindswürsten vorbei, vor dem eine lange Schlange Menschen ein heißes Stück Wurst ergattern will. Die Tür öffnet sich automatisch und die gleißende Helligkeit blendet uns, Hitze schlägt uns entgegen, stärker und spürbarer als vor dem Betreten der Halle. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt, bleiben wir an einer Stelle stehen, die Schatten bietet. Meine Tante hat sich bei mir eingehakt und sich auf dem Weg an mich gedrückt.

Gleich wird es losgehen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich zünde mir die Zigarette an, meine Tante fragt mich, wie es mit dem Studium läuft. Da hören wir den Knall- Eine Scheibe zerbricht über der Stelle, an der wir stehen. Rauch spuckt heraus, grauer, dunkler Rauch. Meine Ohren dröhnen. Schrecken bricht aus. Tante Muriel zittert, klammert sich an mich und den Onkel. Menschen rennen schreiend aus der Halle. Onkel Hicham schaut mich an, fragend, mit starren Augen. Er nimmt seine Frau an der Hand und drängt von der Halle weg. Dicht hinter ihn folge ich. Meine Kehle schnürt sich zu. Angst. Beschleunigung. Alles wird schneller. Die Ruhe des Sommertags ist vorbei, wie ich es wollte, genau wie ich es wollte.

Immer mehr Menschen drängen aus der Halle. Wie ein Sturm. Sie treiben in alle Richtungen, weg von der Halle, weg von der Angst. Meine Zigarette ist längst auf den Boden gefallen. Wir gehen weiter, schneller. Ich weiß, dass ich mich verabschieden muss, obwohl ich Tante und Onkel nicht allein lassen will, auf deren Gesichtern die Furcht das Lächeln gelöscht hat.

Eine zweite Explosion folgt. Schreie. Leute, die an uns an uns vorbei rennen. In der Nähe höre ich Martinshörner. Ich drehe mich um und blicke zum Eingang der Halle zurück. Rauch. Verletzte. Einige wanken, werden gestützt. Genau kann ich es nicht sehen. Ich muss weg. Aus dem Fenster im Obergeschoss wurden Gegenstände herausgeschleudert. Fische darunter. Sie liegen neben Bruchstücken von Plastik und Holz. Die Bombe muss eine viel stärkere Wirkung entfaltet haben, als ich es vermutet habe. Ich bereue nichts, überhaupt nichts bereue ich. Die Fische flogen in den Himmel empor und liegen jetzt auf dem Asphalt, mit glänzendgrauen Schuppen, glitschigem Leib. Mein Werk gefällt mir, die Schreie gefallen mir.
Ich höre die leise Stimme Onkel Hichams: „Wir gehen weg von hier, mein Junge.“ Er sagt es ins Nichts. Ohne noch auf mich zu warten, nimmt er die Hand meiner Tante und geht los. Langsam und energisch. Er achtet nicht darauf, ob ich mitkomme. Mag sein, dass er mich vergessen hat. Ich folge ich ihnen. Wir begegnen. Menschen, die vom Geschehen weg eilen, anderen, die sich hin drängen. Mein Onkel wird schneller. Wie von alleine gehen meine Beine, wie in einem Traum. Der Römerplatz ist leergefegt.

„Wer mag das angerichtet haben? In der Halle war es so friedlich“, sagte Tante Muriel.
„Die Welt ist grausam. Hauptsache euch ist nichts passiert.“
Es klingt wie eine Lüge. Ich muss gehen, weg von ihnen, weg von dem Rauch, der hinter mir aufsteigt. Ich suche nach der Stelle, wo die junge Bettlerin war. Sie ist verschwunden.
Ich umarme Tante und Onkel und verabschiede mich. Auf meiner Wange bleibt eine Träne von Tante Muriel zurück.
„Ich muss gehen.“
Mein Blick geht nicht zurück.
 

Isegrims

Mitglied
Hallo DocSchneider

ja: mit dem Ende und einem Sprengstoffgürtel, den er zündet, das wäre eine Lösung, muss ich drüber nachdenken, vielleicht ließe sich das idyllische Bild der Sommertags mit seiner Geliebten verwenden, das er sieht, bevor er den Sprehnsstoffgürtel zündet.

P.S. an alle: ein paar Stellen am Anfang habe ich gekürzt und überarbeitet...
ach: Votet :) !
 

Ji Rina

Mitglied
Lieber Isegrims,
Als erstes würde ich Deine Geschichte gern verstehen.
Was willst Du mit Deinem Prot. denn im endeffekt mitteilen? Er läuft durch die Stadt und beobachtet seine Umgebung: Sieht Jungs mit Muskeln und Frauen. Auf der einen Seite scheint er die Frauen zu verdammen, die ihre Schönheit zur Schau stellen, auf der anderen Seite, will er sie berühren. Er kauft sich Turnschuhe für 200 Euro, in der hoffend, jeder würde sie ihm ansehen, doch da täuscht er sich – und dann entscheidet er sich, den Marktplatz in die Luft zu sprengen.
Ich würd den Prot. gern verstehen, das bittere, – um irgendetwas von diesem Schmerz, den Du erwähnst, zu kapieren.
Im Voraus dankend für die Hilfe,
Ji
 

Isegrims

Mitglied
Liebe Ji

wenn du den Text aufmerksam liest, findest du Antworten. Es geht nicht darum, was ein Autor mitteilen will, eher darum, was im Text steht. Der Entschluss des Prot war ein Prozess und an diesem Sommertag zieht er los. Er entscheidet sich nicht die Markthalle in die Luft zu sprengen, als er an die Schuhe denkt oder dergleichen.

viele Grüße
Isegrims
 

Isegrims

Mitglied
Der Sommertag brennt. Dunst liegt über der Stadt. Menschen fließen durch die die Einkaufsstraße. Am Rande der Straße, unter einem müden Baum mit verblichenen Blättern sitze ich auf einer Bank und beobachte die Menschen.

Ich sehe starre, gierige Augen. Frauen, die ihre Haut zur Schau stellen. Männer, die ihre Frauen präsentieren. Ungeschützte Schönheit. Dazwischen meine Brüder, als Bettler verkleidet, gebückt im Dreck. Jeder geht an dem anderen vorbei und reiht sich ein in die große Schlange, in das Wogen der Masse.

Meine Augen sind klar und mein Herz fülle ich mit Liebe. Ich bin berufen, das Licht in die Welt zu bringen und werde Blut zwingen, die Augen zu öffnen. Das Blut wird leuchten und die Jagenden, die Suchenden, werden die Plastiktüten mit ihren Einkäufen vergessen. Ich helfe ihren Seelen und sie werden schmerzhaft ihre Augen öffnen.

Kichernd gehen junge Frauen an mir vorbei, kaum jünger als ich. Sie erkennen und beachten mich nicht, obwohl ich auf den Ansatz ihrer Brüste schaue und ihre schwellenden Hintern in den engen Hosen oder Röcken entdecke. Sie sind fröhlich, leicht wie Vögel und ich wünsche mir, ihre Haut zu berühren. Haut wie Milch, die schmeckt wie Honig. Hinter ihnen junge Männer, Knaben eher, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie lachen, zeigen ihre Muskeln, recken ihre Brustkörbe und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Mit Stolz tragen sie dieselben Turnschuhe, nach denen ich mich sehnte. Markenschuhe, auf die ich sparte, für die ich meine Eltern anbettelte, bis ich die 200€ in den Händen hielt, die ich brauchte. Ich erinnere mich wie neu und makellos sie rochen, wie unbefleckt sie waren. Ich dachte, dass jeder sehen müsste, welche Schuhe ich trage, dass alle, an denen ich vorbeigehe, mich und meine Schuhe bewunderten. Ich täuschte mich. Gestern habe ich meine überzähligen Kleider und Schuhe den Bedürftigen der Gemeinde gespendet. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe mich entschieden.

Während ich hier sitze, gehen Hunderte an mir vorbei und sehen mich nicht. Die Sonne brennt auf den Asphalt. Die Erde darunter wünscht sich, befreit zu werden. Im Brennglas meiner Gedanken schwitze ich nicht. Ich bete für die Menschen, die an mir vorbei wandern. Ich bin vorbereitet und mache die Sonne heller, weil ich wie ein Blitz bin, der aufzuckt und den Tag erhellt. Eins muss mir noch gelingen: das Mitleid besiegen, hart sein, den Schmerz und das Blut ertragen, mich im Licht zeigen. Heute will ich meinen Mut testen und mich vorbereiten auf das Größere, das kommen wird. Nur ein Versuch. In meiner Tasche habe ich eine Wollmütze mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen. Und den Brandsatz nach einer Anleitung aus den Flüssigkeiten gemixt, die ich mir besorgt habe.

Ich lasse mich in die Menge gleiten, gehe über die Zeil, biege ab, in Richtung Paulskirche und Römer. Als ich in der Schule war, besuchten wir die Paulskirche. Lehrergerede über Freiheitskampf. Nichts hat sich geändert. Was ist das für eine Freiheit kommen, solange es erlaubt ist, Geld zu scheffeln, andere mit den Mitteln des Rechts zu betrügen und sich dabei wohl zu fühlen?
An eine Wand gelehnt, sehe ich eine junge Frau. Sie trägt Jeans und einen zerschlissenen Pullover und um den Hals ein Pappschild. Darauf steht: „Ich bin alleinerziehend und arm, Bitte helfen Sie mir.“ Vor sich hat sie eine Plastikschale auf den Asphalt gestellt. Münzen darin, Centbeträge, mehr nicht. Schnell und ohne sie zu beachten, gehen Leute mit gefüllten Beuteln an ihr vorbei. Die Frau gefällt mir mit ihrer weißen Haut. Wenn sie nur aufstünde und ihren Körper aufrichtete, um ihn den Menschen entgegen zu strecken, die sie übersehen, die Augen vor ihr verschließen, sich wegdrehen. Früher hätte ich das genauso gemacht, weggeschaut. Meine Schritte werden langsamer, ich beuge mich zu ihr herab, hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Ich schütte alle Münzen, die sich darin befinden, in das Tellerchen und den 50€-Schein lege ich obendrauf. Sie schaut hoch zu mir, zu dem Mann mit dem schwarzen Bart und den dunklen Augen und ich erkenne wie hell und durchscheinend ihre Augen sind. Ein vorsichtiges, verkniffenes Lächeln. Für einige Augenblicke halten sich unsere Blicke.

„Danke.“
„Ich freue mich, dir zu helfen, Schwester.“

Ein stiller Blick von ihr, verwundert, ängstlich. Hastig richte ich mich auf und gehe weiter. Kein Blick zurück. Ich fühle mich leicht. Für einen Moment überlege ich mir, ob die Frau eine Ganovin ist, die sich verkleidet und abends in ihrer komfortablen Wohnung ihre Tageseinnahmen zählt. Ich unterdrücke den Gedanken, besser ist es, zu glauben und zu hoffen.

Mein Schädel brennt. Ich bin wenige Schritte vom Römerplatz entfernt. Ich mag diese Häuser, die aussehen, als stünden sie jahrhundertelang hier und kämen aus einer alten Welt, die ehrlicher war. Vor der Fassade des Rathauses bleibe ich stehen, mitten unter Touristen aus Asien. Mein Blick wandert hin und her, um die Menschen zu spüren, die sich gegenseitig fotografieren und anlachen. Eine ganze Gruppe in der ländlichen Kleidung ihrer Heimat geht an mir vorbei. Sie sehen nach Indern aus. Die Frauen tragen lange, bunte Kleider, in Farben, die hier keiner tragen würde, warme Töne, orange, ein helles Blau.

Der Anblick der Farben erinnert mich an einen Sommertag auf dem Land, an eine Sommerwiese mit vielfarbigen Blumen, an die Frau, die ich dort geküsst und begehrt habe, an ihre Haut, ihre Lippen, die sich geöffnet haben, an sie, die sich geöffnet hat. Unsere Küsse füllten unsere Münder aus und wir vergaßen, was um uns war. Erst als wir die Augen wieder aufmachten, bemerkten wir, wie schön das Meer der Blumen war. Vollendeter war kein Sommertag. Heute ist ein Tag wie damals. Ich habe genug gewartet und gehe zurück zur Einkaufsstraße, weg von den idyllischen Häusern des historischen Zentrums. Als ich an die Stelle komme, wo die Bettlerin sitzt, wende ich meinen Blick ab, um sie nicht anschauen zu müssen.

Ich will mich auf meine Aufgabe konzentrieren und denke an diejenigen, die mir die Augen geöffnet haben, höre die wohlklingende Stimme von Anton in mir, der mir erklärte, dass Satan die Welt beherrsche und wie schön diese Welt wäre, wenn sie gereinigt sei. Wir Kinder des Lichtes atmeten anschließend freier und die Angst verschwände, das Gift für die Seelen. Nachdem er von Satan gesprochen hatte, begann ich, die Gesichter des Teufels auf den Straßen zu suchen und fand sie in den Blicken meiner Eltern, die aufblitzenden Augen, wenn sie davon sprachen, was sie unbedingt haben wollten, sei es ein Auto oder Schmuck. Der Satan war im Blick meines Vaters, der eines Abends sagte, er gehe mit Freunden etwas trinken, obwohl er mit einer anderen Frau ins Restaurant ging. Er saß da und lächelte die Fremde an, während meine Mutter ihm zu Hause die Wäsche bügelte. Ich lief schnell an ihm vorbei. Für alle sichtbar hatte er einen Platz am Fenster gewählt. Die Frau mit ihren dunklen Haaren und dem harten Gesicht war nicht besonders hübsch. Mein Vater lachte und gestikulierte dennoch mit ihr. Am nächsten Tag war ich bei Anton und habe ihm von meinem Vater erzählt. Er hat mich an das Lachen Satans erinnert. Wir müssen die Welt reinigen, dem Satan entgegen treten. Ich hab verstanden, was Anton meint und werde handeln. Heute ist der richtige Tag.

Langsam nähere ich mich meinem Ziel, der geschäftigen Kleinmarkthalle. Wo man Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch kaufen kann, die angefüllt ist mit Gerüchen. Bei meinem letzten Besuch holte ich mir ein französisches Maishühnchen und Fisch, der ein Tag zuvor glücklich im Ozean schwamm, habe ich mir dort erst vor ein paar Tagen geholt. An diesem frühen Nachmittag wird es nicht voll sein in der Halle. Mein Plan ist einfach: eine unbelebte Stelle auf der Empore suchen, meine Tasche platzieren und den Zünder entsichern. Wenn das erledigt ist, bleiben mir zehn Minuten, um die Halle zu verlassen.

Als ich reingehe, genieße ich den kühlen Luftzug der Klimaanlage nach der Hitze draußen. Ich rieche ein Gemisch aus Kräutern und süßem Obst, während ich an den ersten Ständen vorbei gehe und das aufgetürmte Obst betrachte. Die Erdbeeren sind ebenso rot und glänzend wie die Brombeeren und Himbeeren, als wären sie poliert. Ich stelle mir vor, Erdbeeren mit Sahne zu vermischen und mir in den Mund zu stopfen. Oder sie gleich ungewaschen zu vertilgen, wie ich es als Kind auf dem Feld gemacht habe. Von allem Obst kommen mir Erdbeeren am Eigentümlichsten vor. Jede Beere schmeckt anders. Am Aussehen lässt sich nicht beurteilen wie süß oder aromatisch eine Beere schmeckt. Die Überraschung beginnt im Mund. Manch unscheinbare Erdbeere schmeckt aromatisch und zuckersüß. Andere leuchten in tiefem Rot und schmecken nach Wasser.
Frauen und Männer in grünen Schürzen stehen hinter den Ständen. Ich beobachte eine kleine, alte Frau mit weißen Haaren und unsicherem, hinkendem Gang. Für einen Moment schaut sie mir direkt in die Augen und lächelt, häuft Äpfel auf und stapelt die Früchte. Wenige Leute kommen mir entgegen. Wie ich es erwartet habe. Pärchen sind dabei, die sich an den Händen halten. Ich stelle mir vor, wie sie zusammen Gemüse schneiden, kochen, mit Weingläsern anstoßen, sich anlächeln und glücklich sind. Romantische Gedanken im Halbdunkel.

Ich bleibe entschlossen und konzentriert. Ich muss nicht überlegen, jede Einzelheit ist durchdacht. Eine Treppe führt mitten in der Halle zur Empore. Dorthin führt mein Weg. Hochgehen, die Tasche ohne Zögern abstellen und die Halle verlassen. Ich gehe los und bin vorbereitet. Oben auf der Empore angelangt, schaue ich mir die Stände mit Fisch und Kaviar an. Kaum was los, die Verkäufer schauen gelangweilt ins Leere. Die Köstlichkeiten sind teuer, der Lohn eines ganzen Tages für das Prekariat. An einer Stelle finde ich eine Lücke zwischen aufgestapelten Kisten und Eimern. Die anderen Plätze sind unbrauchbar, weil dort überhaupt nichts steht und ein herumstehender Gegenstand auffiele. Ich beschließe die Tasche in die oberste der gestapelten Kisten zu legen. Die ausgewählte Lücke zwischen den Ständen befindet sich vor einem der letzten Fischbuden. Langsam nähere ich mich, vorsichtig schaue ich mich um, ob jemand sich hinter mir befindet. Eine Frau und ein Mann überholen mich. Ein junges Pärchen, das sich an den Händen hält, in beständigem Austausch von Worten, Gesten und Berührungen. Sie sind vor mir und stehen an einem Fischstand. Vielleicht feiern sie das Jubiläum ihres Kennenlernens. Sie sollten sich mit ihrem Einkauf beeilen.

Es riecht nach Fisch und Meer. Feuer wird den Geruch vertreiben. Hinter mir befindet sich eine ältere Frau, die sich ziellos umschaut. Ich bemerke sie, als ich nur noch wenige Meter von der Lücke mit den Kisten entfernt bin und mich an die Balustrade lehne, um auf den Moment zu warten, die Tasche abzustellen. Ich fühle mich unbeobachtet. Wenn ich fliehen muss, werde ich die Mütze überziehen, die ich mir zurechtgeschnitten habe. Meine Kleidung ist unauffällig. Jeans, schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck. Mein Blick wandert von der Balustrade über die Stände im Erdgeschoss. Menschen. Manche mit gefüllten Tüten voller Obst und Gemüse. Andere schlendern ziellos und genießen die Kühle der Halle.

Ich bin entspannt, hellwach und absolut konzentriert. Was werden die Leute machen, wie werden sie sich bewegen, sobald sie den Brandsatz bemerken? Panik? Das Paket sieht wie ein sehr großer Kaugummi aus und wird ein Loch in den Boden reißen, wahrscheinlich die Balustrade beschädigen. Die Fische werden in der Luft tanzen und das Gemüse wird fliegen.

An die Menschen darf ich nicht denken, das Ziel zählt. Der Moment ist gekommen. Mit festen Schritten, ohne mich zu beeilen, gehe ich zu der Lücke zwischen den Ständen, wo die Kisten stehen und lege die Tasche in die oberste Kiste, als wäre sie mir zu schwer, als wollte ich sie nach meinen Einkäufen wieder abholen. Ich wende mich ab und gehe langsam und mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen kann, zur Treppe. Auf der Treppe bleibe ich stehen und hole das Handy mit dem installierten Zeitzünder aus der Tasche. Ich brauche nur ein Signal senden und die Bombe ist aktiviert, programmiert von Brüdern. Das Handy habe ich von Anton. Ich drücke hastig auf den Knopf und sende das Signal.

Mir bleiben zehn Minuten. Bis dahin will ich auf der Zeil sein und mich in der Menge auflösen. Aus der Ferne werde ich Sirenen hören, Blaulicht sehen, den Knall der Bombe hören, Unruhe wird sich in der Stadt ausbreiten und ich werde weitergehen, einfach weitergehen. Ich bin kein Märtyrer und will nicht sterben, obwohl ich keine Angst vor dem Tod habe. Solange ich lebe, kann ich größere Aufgaben übernehmen, die Welt verändern. Es geht ohnehin nicht um mich, es geht um Würde und ein Leben im Einklang mit Gott. Es geht um Wahrheit in einer Welt, die von Geld und falscher Propaganda beherrscht wird. Sie lügen, wenn sie sagen, wir seien dumm, fanatisch und verblendet. Wir sind das Licht. Die Propheten - unter ihnen Jesus - sprachen vom Licht Gottes. Die Wahrheit muss durch die Dunkelheit hindurch sichtbar werden.

Schnell die Treppe hinab, ohne dass es nach einer Flucht aussieht. Einer, der es eilig hat. Dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. An einem der Stände mit Blumen, nicht weit vom Ausgang, stehen Muriel und Hicham, meine Tante und mein Onkel. Sie riechen an Blumen und kichern wie Kinder. Ich muss eine Entscheidung treffen. Entweder gehe ich an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gesehen und sie bleiben hier, wenn das Feuer und das Chaos ausbricht, oder ich versuche sie so schnell es geht, nach draußen zu locken. Meine Tante backt die besten Kuchen der Welt. Sie lieben Kinder, obwohl sie keine eigenen haben. Sie streiten nie, lächeln immer und sind wunderbar. Als Kind habe ich sie oft gesehen, in den vergangenen Jahren selten. Ich bin erwachsen und halte mich von der Familie fern. Ausgerechnet jetzt sehe ich sie hier, heute, in dieser Stunde. Die Zeit verrinnt. Ich muss sie ansprechen und wegbringen. Als ich bei ihnen ankomme, bemerken sie mich anfangs nicht. Dann wendet meine Tante ihren Kopf und sieht mich. Ihr Lachen zieht sich über das ganze Gesicht.

„Asik, Junge, bist du das wirklich? Wir haben dich lange nicht gesehen,“ sagt sie. Schulterklopfen und eine stumme Umarmung meines Onkels folgen. Ich versuche ruhig zu bleiben. Minuten verrinnen.
„Kommt ihr mit mir nach draußen ? Ich habe es eilig, draußen könnte ich noch eine Zigarette mit euch rauchen.“
„Du musst wirklich gleich los?“
„Lasst uns raus gehen, da können wir besser reden.“
„Ja, gleich. Du siehst gut aus“, sagt mein Onkel.

Er ist ein stämmiger, kleiner Mann. Wir gehen zusammen los. Es sind nur wenige Schritte bis zum Ausgang. Die beiden sind langsam und betrachten mich immer wieder. Wir kommen an dem Stand mit den Rindswürsten vorbei, vor dem eine lange Schlange Menschen ein heißes Stück Wurst ergattern will. Die Tür öffnet sich automatisch und die gleißende Helligkeit blendet uns, Hitze schlägt uns entgegen, stärker und spürbarer als vor dem Betreten der Halle. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt, bleiben wir an einer Stelle stehen, die Schatten bietet. Meine Tante hat sich bei mir eingehakt und sich auf dem Weg an mich gedrückt.

Gleich wird es losgehen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich zünde mir die Zigarette an, meine Tante fragt mich, wie es mit dem Studium läuft. Da hören wir den Knall. Eine Scheibe zerbricht über der Stelle, an der wir stehen. Rauch spuckt heraus, grauer, dunkler Rauch. Meine Ohren dröhnen. Schrecken bricht aus. Tante Muriel zittert, klammert sich an mich und den Onkel. Menschen rennen schreiend aus der Halle. Onkel Hicham schaut mich an, fragend, mit starren Augen. Er nimmt seine Frau an der Hand und drängt von der Halle weg. Dicht hinter ihnen folge ich. Meine Kehle schnürt sich zu. Angst. Beschleunigung. Alles wird schneller. Die Ruhe des Sommertags ist vorbei, wie ich es wollte, genau wie ich es wollte.

Immer mehr Menschen drängen aus der Halle. Wie ein Sturm. Sie treiben in alle Richtungen, weg von der Halle, weg von der Angst. Meine Zigarette ist längst auf den Boden gefallen. Wir gehen weiter, schneller. Ich weiß, dass ich mich verabschieden muss, obwohl ich Tante und Onkel nicht allein lassen will, auf deren Gesichtern die Furcht das Lächeln gelöscht hat.

Eine zweite Explosion. Schreie. Leute, die an uns an uns vorbei rennen. In der Nähe höre ich Martinshörner. Ich drehe mich um und blicke zum Eingang der Halle zurück. Rauch. Verletzte. Einige wanken, werden gestützt. Genau kann ich es nicht sehen. Ich muss weg. Aus dem Fenster im Obergeschoss wurden Gegenstände herausgeschleudert. Fische darunter. Sie liegen neben Bruchstücken von Plastik und Holz. Die Bombe muss eine viel stärkere Wirkung entfaltet haben, als ich es vermutet habe. Ich bereue nichts, überhaupt nichts bereue ich. Die Fische flogen in den Himmel empor und liegen jetzt auf dem Asphalt, mit glänzendgrauen Schuppen, glitschigem Leib. Mein Werk gefällt mir, die Schreie gefallen mir.
Ich höre die leise Stimme Onkel Hichams: „Wir gehen weg von hier, mein Junge.“ Er sagt es ins Nichts. Ohne noch auf mich zu warten, nimmt er die Hand meiner Tante und geht los. Langsam und energisch. Er achtet nicht darauf, ob ich mitkomme. Mag sein, dass er mich vergessen hat. Ich bleibe dicht hinter ihnen. Wir begegnen Menschen, die vom Geschehen weg eilen, anderen, die sich hin drängen. Mein Onkel wird schneller. Wie von alleine gehe ich, als wären die Beine nicht mehr Teil von mir, wie in einem Traum. Der Platz vor dem Römer ist leergefegt.

„Wer mag das angerichtet haben? In der Halle war es so friedlich“, sagte Tante Muriel.
„Die Welt ist grausam. Hauptsache euch ist nichts passiert.“
Es klingt wie eine Lüge. Ich muss gehen, weg von ihnen, weg von dem Rauch, der hinter mir aufsteigt. Ich suche nach der Stelle, wo die junge Bettlerin war. Sie ist verschwunden.
Ich umarme Tante und Onkel und verabschiede mich. Auf meiner Wange bleibt eine Träne von Tante Muriel zurück.
„Ich muss gehen.“
Mein Blick geht nicht zurück.
 

Ji Rina

Mitglied
Ja. Ich hab den ganzen Text noch einmal sehr aufmerksam gelesen. Ein junger Mann erzählt über Frauen, die er gern berühren würde, über die Turnschuhe, die er jetzt nicht mehr braucht und den armen gegeben hat und über seinen Wunsch, das Licht in die Welt zu bringen. Bevor er sich auf “seine Aufgabe” konzentriert, gibt er einer alten Frau noch einen 50 Euro Schein. Als nächstes legt er seine Tasche ab und wenig später explodiert der Zündstoff. Dazwischen sind noch einige Zeilen über die Stadt, die Gebäude, das Wetter und anderes, was meiner Meinung nach, für die Geschichte nicht wichtig ist. Zeilen wie: Freiheit durch Geldscheffeln, dazwischen meine Brüder im Dreck, ausgenommen.
@Isegrims:
“””ist ein schwieriges Unterfangen die Denkweise eines solchen Menschen darzustellen. Fassungslosigkeit, Entsetzen und Sprachlosigkeit reichen nicht aus. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir verstehen müssen - auch um die Wurzel des Übels anpacken zu können. Das heißt ja nicht, dass wir Verständnis aufbringen, ein schmaler Grat.
Sympathisant bin ich keineswegs, muss aber mit leben, dass simplifizierende Leser das so auffassen könnten. Wutbürger bin ich ebenso wenig. (die glauben übrigens auch, dass sie im Recht sind, auch darüber lohnte es sich, eine Geschichte zu schreiben.)”””
Schwieriges Unterfangen? Es ist sehr leicht, die Ansichten solcher Menschen zu verstehen. Und ich denke, wir alle haben längst verstanden. So wie wir auch “verstehen”, warum Hitler sechs Millionen Juden umgelegt hat. Seit eh und jeh gibt es Kriege: weiss gegen schwarz, arm gegen reich, reich gegen arm, und immer wieder, wegen Religionen. Am Ende gewinnt die Gewalt, bis die Zeit alles kippt (History will teach us nothing!).

FrankK:
Hier wird uns mal die andere Perspektive gezeigt. Nicht immer diese Pauschalnummer "Diese Terroristen / Selbstmordattentäter sind doch alle krank im Hirn."
Das ist immer so einfach beurteilt - zu einfach beurteilt.
“Die andere Perspektive” haben die Terroristen uns bereits in Madrid, London und Paris gezeigt (hab ein paar Städte vergessen)….

In Deiner Geschichte, lese ich völlig kontradiktäre Dinge, über einen Mann, der die freizügigkeit der Frauen verabscheut, sie jedoch gern betätscheln würde; über Turnschuhe, die er umbedingt haben wollte, die aber niemand gesehen hat – “Wir müssen verstehen?”….Was soll das?
Ich verstehe nur Bahnhof. Und auch “das Übel, das Du an der Wurzel anpacken möchtest” wirst Du nie anpacken können: Nicht bei Menschen, die sich auf Bahnhöfe und Marktplätze schleichen, um scheinheilig Taschen zu deponieren (da bleibt nämlich kein Raum mehr zum “verstehen”, da werden einem die Zähne rausbombardiert, bevor man den Mund aufmacht). Deshalb sagt mir Deine Geschichte einfach, nichts.

Sorry über den ausschweifenden Ton, aber Du hast ein Thema gewählt, welches gerade der Alptraum unserer Gesellschaft ist. Ausserdem suchtest Du ja Auseinandersetzung.
 

Ji Rina

Mitglied
@Isegrims:
Hätten die Kreuzritter (wieso werden die eigentlich Ritter und nicht Terroristen genannt?) der damaligen Zeit MGs und Sprengsätze mit Zeitzünder zur Verfügung gehabt - sie hätten es eingesetzt
Die Amerikaner haben Drohnen und Guantanamo, auch so ne Sache...

Falls es darum geht, Gewalt nur an Gewalt zu messen - Gewalt, durch vorherige Gewalt, "zu verstehen", na dann, nur zu...Der stärkere gewinnt.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Isegrims,

soll mal einer meinen, es gäbe keine Tabus mehr.
Offensichtlich hast Du eines gefunden.

Und darum möchte ich mich FrankK anschließen - in allen drei Punkten - vor allem finde ich Dich mutig. Ich finde es auch mutiger - und sinnvoller - einen solchen Text zu schreiben, als Blumen und Teelichte aufzustellen, aber so lange Menschen solche Texte nach reinen Geschmackskriterien beurteilen, wird es wohl immer einen Wind geben, der in diesem Falle Dir ins Gesicht bläst.

Ich halte es für legitim, eine solche literarische Annäherung zu versuchen, die naturgemäß unbefriedigend bleiben muss.
Es gibt sicher viele Menschen, die genau diese Fragen umtreiben, wie sieht es in so einem aus, der Menschenleben einer Ideologie unterordnet - ist er sich dessen überhaupt bewusst? Wie intelligent sind diese Täter? Wo ist der Knacks möchte man mit Roger Willemsen fragen.

Diese ganzen Dämonisierungen haben nie geholfen, etwas zu verstehen oder etwas zu verhindern und diese Problematiken auszublenden, dient nur der eigenen Gewissenserleichterung - und der Rüstungsindustrie.

Ich empfinde diese Person, die Du schilderst, als 'rund' in ihrer Verblendung und ich finde es auch passend, dass er (noch) nicht sterben will. Dazu passt die Szene mit der alleinerziehenden Mutter/Bettlerin nicht, der er sein letztes/ganzes Geld gibt, zumindest wird der Eindruck erweckt - wobei ich die Szene an sich stark finde.
Ganz besonders gut finde ich die Begegnung mit seiner Familie, wo die weltabgewandte Haltung zwangsweise zu einer persönlichen wird und die ganze Unsicherheit und Unausgegorenheit hervortritt.

Wenn ich durch Wahrnehmen, Lächeln und Händeschütteln diese verirrten Menschen im richtigen Leben halten könnte, würde ich mit Freuden den Rest meines Lebens Hände schütteln, aber so einfach ist es leider nicht.

Liebe Grüße
Petra
 

FrankK

Mitglied
Ich glaube nicht, Ji Rina, dass es hier darum geht, dass der stärkere gewinnt.

Ich sehe diesen Text eher als Versuch, den Täter zu zeigen. @ali hat in seinem Eingangspost so herrlich und wunderbar die Standardknöpfe gedrückt.

ein Irrer, in dessen Hirn etwas herumschwappt, für das "Scheiße" ein noch viel zu freundliches Wort ist
Erst mal kräftig und laut genug ein Pamphlet anrühren, andere werden schon noch mitmachen. Hat immer geklappt. Hat es auch diesmal geklappt? Ich bin mir nicht sicher.

Nein, ich möchte den dargestellten Inhalt (Bombenattentat auf einen besuchten Markt) nicht gutheißen.
Ich habe mich aber bemüht, mich mit dem Text etwas differenzierter auseinanderzusetzen.

Sind diese Attentäter oder – sagen wir es beim Namen – Terroristen, wirklich „nur“ Irre? Nur „Scheiße“ im Kopp, wie @ali so scheinbar trefflich formuliert?
Ich denke mal: Nein.
Spätestens sei 9/11 wissen wir, dass da auch hochgebildete Menschen dazugehören.
Seit „New York“ erleben wir eine neue „Qualität“ des Terrorismus.

Aber wie setzen wir uns damit auseinander? Sie werden abgestempelt als Idioten. Beweggründe werden nicht hinterfragt.

Eine Hochzeitsgesellschaft stirbt unter Bomben.
Ein liegengebliebenes Auto wird zur Bombenfalle.

Nur zwei weitere Beispiele.
Aus Sicht der betroffenen Bevölkerung – ebenfalls Terrorismus?
Nein, wir nennen es (süffisant) Kollateralschaden.

Was, zur Hölle, ist der Auslöser für diese Gewaltakte?
Jede Seite glaubt sich im Recht.
Jede Seite ist der Überzeugung, das Richtige zu tun.
Jede Seite sieht - keinen anderen Lösungsweg.
Aber was, zur Hölle, ist (oder war) der Auslöser?

Wir (damit meine ich pauschal Deutschland / Europa / die westliche Welt) schotten uns ab, versperren uns vor den Greuel in der „anderen Welt“, versuchen es, zu ignorieren. Aber wir sind daran beteiligt. Nicht nur mit Waffen und Rüstungsexporten. Wir bildeten diese Leute aus, unterstützten sie logistisch, lieferten Informationen.

Und wenn es dann doch hierher kommt, sind wir entsetzt. Warum? Wir leben in einer globalisierten Welt, da ist es doch nur logisch.

Im ersten Golfkrieg (1990-91) ging es faktisch um wirtschaftliche Interessen. Kuwait war ein wichtiger Öllieferant. Aktivisten skandierten: „Kein Blut für Öl“. Nutzlos, es wurde doch vergossen.

Aus dieser „Region“ stammen vorgeblich die Terroristen, die für 9/11 (2001) verantwortlich zeichnen.
Innerhalb von drei Tagen wurde der „Patriot-Act“ durch sämtliche Instanzen der USA gepeitscht und zum Gesetz gemacht. Das Guantanamo-Lager entstand 2002.
Rechtsstaatlichkeit – ausgeblendet.
(Zum Vergleich: Präsident Obama hat es in Acht Jahren nicht geschafft, ein gesetzliches Gesundheitssystem zu etablieren)

Durch gefälschte Beweise zettelten die US-Machthaber 2003 den zweiten Golfkrieg an.
Opferzahlen in der Zivilbevölkerung wurden nie wirklich bekannt gegeben, schätzungen schwanken zwischen 150.000 und über 1 Million.

Kann man da noch zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheiden?

In Afghanistan starben um 2010 deutsche Soldaten bei ihren Einsätzen. Andere Soldaten posierten mit Totenschädeln. Horst Köhler tritt zurück, als herauskommt, das am Hindukusch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen.

Und nun, nach all diesen Verflechtungen, sehen wir uns mit Terrorismus konfrontiert. Und wir lassen uns erzählen, die Leute, die diesen Terrorismus betreiben, seien alle Vollidioten. Und wir gehen hin, und glauben, vor lauter Angst, denen, die die Ängste schüren.

Da werden Asylheime angesteckt, Flüchtlingsunterkünfte gehen in Flammen auf, private Wachschutzleute prügeln Asylanten Krankenhausreif.

Und wir stehen hier, und zerreißen uns gegenseitig bei einer Diskussion um einen Text, in dem uns der Autor zeigt: Dieser Attentäter ist auch nur ein – Mensch.
Ist es das, was uns hier so entsetzt? Diese Feststellung – diese mögliche Erkenntnis?

In diesem Text wird uns ein Mensch gezeigt, der aus irgendeinem Grund (den ich nicht als „Entschuldigung“ sehen will) etwas grauenhaftes tut (welches ich nicht gutheißen will).
Warum machen wir uns nicht die Mühe, die dargestellten Argumentationsketten zu hinterfragen? Warum fällt es uns so sehr viel leichter, Terroristen als Schwachköpfe mit „Scheiße im Hirn“ abzufertigen?
Leider gibt uns dieser Text auf diese Fragen keine Antworten.
Gibt dieser Text auch keine Antworten auf die Frage, wie man sich gegen den Terrorismus erfolgreich zur Wehr setzt? Wie man den Terror „ausmerzt“?
Wir schmeißen doch Bomben um Bomben auf die Keimzellen dieser „Terrorbruten“, warum nutzt das nichts?

Weil Bomben nicht die Lösung sind?
Weil dort Menschen leben, auf die die Bomben geschmissen werden?
Weil es egal ist, ob wir die Bomben selber schmeißen, oder sie an die Bombenwerfer verkaufen?
Weil diese Menschen sich zu „wehren“ glauben?
Dies wäre das entsetzlichste Resummee diese Textes. Wäre das vorstellbar? Wäre das eine mögliche Erklärung?
Das würde ja bedeuten – wir sind selber schuld?

Aber nein, das kann nicht sein. Wir sind doch die „guten“.
Wir schicken Flüchtlingskinder doch nicht aus Boshaftigkeit wieder zurück in ihre Länder.
Wir zerschießen Flüchtlingsboote, um den Schleppern das Handwerk zu legen.
Nun ja, brennende Asylheime sind halt ein Ausdruck unserer Willkommenskultur und gehören im Zuge der freien Meinungsäußerung zum Grundgesetz.

Manch einer wird sich jetzt fragen:
Was hat das alles mit diesem Text zu tun?

Alles. Es ist fast eine vorprogrammierte Denkschablone. Texte, in denen ein Terrorist eine Hauptrolle spielt, „dürfen“ einfach nichts taugen.
Es sei denn, es kommt plötzlich ein Superheld, der alle rettet und den Terroristen tötet.

Hmm, Tötungsbefehl – hatten wir auch schon.
Wer jetzt gerade an Salman Rushdie denkt, dessen „Kopfgeld“ (seit 1988 ausgesetzt) bei mittlerweile fast 4 Million Dollar liegt, täte gut daran, sich auch noch an den Tötungsbefehl für Osama bin Laden zu erinnern.
Nein, ich weine dem Typen nicht nach – aber „Rechtsstaatlichkeit“ geht etwas anders.

Käme irgendjemand auf die Idee, die Amerikaner würden uns „terrorisieren“, indem sie „Bedingungen“ diktieren? Beim Besuch des Präsidenten – es werden Gulli-Deckel zugeschweißt, niemand darf hinter der Gardine stehen, überall sind Scharfschützen postiert ... und wir werden auch weiterhin abgehört. Und warum machen sie das? Weil sie es können.

Vorratsdatenspeicherung. Schlagwort für „zur Terrorabwehr“. Hatten die Franzosen seit Jahren und hat ihnen nichts genutzt.


Uff – ich will mal langsam zum Ende kommen.

Texte wie dieser sind kritisch. Hier werden gewohnte Denkschablonen angeregt – hier wird der Leser angeregt, über die Denkschablonen nachzudenken.

Nein, ich will hier keine Lanze für den Terrorismus brechen.
Ich verabscheue Gewaltanwendungen in jeglicher Form.

Aber im dargestellten Text geht es weniger um den Gewaltakt, es geht mehr darum, das derjenige, der diesen Terrorakt ausführt, ein ganz normaler Mensch ist.
Dies löst nach reiflicher Überlegung bei mir aus oben aufgeführten, querverketteten Argumenten den Wunsch aus, mein bisheriges Denkmuster zu hinterfragen.

Ein Terrorist ist kein Terrorist weil er dumm ist. Er ist es aus einer uns unverständlichen Überzeugung.
Die Ursprünge für diese Welle der Gewalt ist wesentlich vielfältiger und lässt sich nicht durch einfache „Gut und Böse“-Litaneien erklären.
Mit Pauschalverurteilungen (alle Islamisten sind Terroristen) gehen wir den falschen Rattenfängern auf den sprichwörtlichen Leim.
Die Lösung für das Problem des Terrorismus muss eine andere sein, als alles, was nach „böse“ aussieht, niederzubomben.

Damit schließt sich wieder der Kreis zu Dir, Ji Rina:
Falls es darum geht, Gewalt nur an Gewalt zu messen - Gewalt, durch vorherige Gewalt, "zu verstehen", na dann, nur zu...Der stärkere gewinnt.
Möge Gott, welcher auch immer, uns beistehen, führen und leiten, damit wir endlich diese Schablonen aus Hass und Gewalt, die sich gegenseitig aufrechterhalten, abstreifen und niederlegen.

Wir brauchen keine neue braune Leitkultur des Schreckens.
Ich habe Angst um die, die nach mir kommen. Ich habe keine eigenen Kinder, aber ich habe Nichten und Neffen.
Und wenn ich mich in diesem, unserem Lande, umschaue, dann sehe ich eher den braunen, gewalttätigen Mob als Gefahr für uns. Diese Hassprediger, dies Un-Menschen.

Dazu zähle ich auch jene, die fordern, derartige Texte zu entfernen, zum Wohle von – was auch immer – Heuchelei.


Jetzt habe ich auch ein Pamphlet verzapft, bin mal neugierig, wen es alles sauer aufstösst.

Und ja, es sieht oberflächlich so aus, als hätte es nichts mit dem Text zu tun. Aber all diese Dinge kamen mir genau durch diesen Text in den Sinn.

Ich habe keine Patentlösung gegen Terrorismus.
Ich heiße Gewalt in keiner Form „gut“.
Ich bringe kein Verständnis für Terroristen auf.


  • Ich danke @aligaga für seine wundervolle Demonstration von Vorurteilen.
  • Ich danke DocSchneider, die als erste eine tollerantere Haltung zum Text eingenommen hat.
  • Ich danke Wipfel, der zwar vom Text an sich abgestossen ist, sich aber dennoch die Mühe machte, die schriftstellerische Qualität etwas unter die Lupe zu nehmen.
  • Ich danke Ji Rina, die sich mehrfach mit dem Text auseinandersetzte und sich redlich bemüht, ihn zu verstehen. Ich weiß nicht, ob meine ellenlangen Ausführungen Dir behilflich sind.
  • Und jetzt sehe ich auch noch Petra, deren Kommentar aufbaut. Ich ahne, dass sie den Text ähnlich betrachtet wie ich. Ich danke Dir.
  • Ein Danke gilt vor allem Isegrims, der sich diesen Text hat einfallen lassen und uns präsentiert. Vermutlich wohl ahnend, welch eine Lawine er damit lostritt. Daumen hoch.


Allen noch eine angenehme Nachtruhe
und schöne Träume von grünen Frühlingswiesen und Märchen-Prinzen und –Prinzessinnen.

Grüße aus Westfalen
Frank
 



 
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