Hochschule auf dem Prüfstand

Tino

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„Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. Sie können sich nun bei mir ihre Scheine unterschreiben lassen.“ Noch ehe Professor Clark den letzten Satz seiner Vorlesung beendet hatte, stürmten an die 140 Medizinstudenten ohne Rücksicht auf Verluste auf sein Rednerpult los, ähnlich einer Bisonstampede auf einem mittelamerikanischen Hochplateau.
Außer mir schien niemand den oberbayrischen Stipendiaten bemerkt zu haben, der an einer Treppenstufe des Hörsaals gestrauchelt war, wodurch es nun nur noch eine Frage der Zeit war, wann die trampelnde Hochschulmeute seinen Exitus hervorrufen würde.
Getrieben von einem übermenschlichen spontanen Beihilfsbedürfnis warf ich mich über zwei der hochgeklappten Stuhlreihen direkt neben den locus facti und zog den Verletzten aus der zona maxima periculi, während ich den Schmerz zu unterdrücken versuchte, der entstanden war, als sich mein Oberkiefer stante pede in die bucca ani einer meiner Kommilitoninnen schraubte.
Wie durch ein Wunder verlief mein Vorhaben äußerst erfolgreich, da ich sowohl das studentische Opfer als auch einen Großteil meines Gebisses wieder in die Sicherheit der hinteren Stuhlreihen zurückretten konnte. Nun, was die zwei Zähne anging, die nicht mehr zu retten waren, so führe ich ihren Verlust auf die Tatsache zurück, dass das Fleisch, in das sie sich gebohrt hatten, zu dem Körper einer Feministin gehörte.
Haben sie jemals näher über die genaue Bedeutung des Adjektivs „zäh“ nachgedacht ?
Doch die Möglichkeit, die sich scheinbar ewig hinziehenden letzten Momente zu verarbeiten, bot sich mir selbst jetzt nicht. Als der Stipendiat aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, fokussierte sich seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Kugelschreiber des Dozenten, aus dem die erlösende Tinte kam, die ihm die Teilnahme an dem gerade zu Ende gegangenen sechsstündigen Pathologie-Seminar bescheinigen würde. So war er dann auch drei Sekunden später wieder ohne ein Wort des Dankes im studentischen Gewühl verschwunden.

Warum ich dieses Erlebnis erzähle ? Nun, so ungewöhnlich und unbegreifbar es sich dem Leser auch darstellen mag, fügt es sich doch in eine verdächtig lange Reihe ähnlich skurriler Ereignisse ein, die ich während meiner Einführungswoche als Student unmöglich länger ignorieren konnte. Die beobachteten Vorkommnisse reichten von den mehr als seltsamen Eßgewohnheiten der Akademiker, bei denen ich weder Kau- noch Schluckbewegungen feststellen konnte, bis hin zu der merkwürdigen Begegnung mit dem Senior-Studenten, der gerade sein 65. Semester absolvierte. Ich hatte ihm gegenüber nur beiläufig das Wort BaföG erwähnt, da löste er sich plötzlich laut vor Schmerzen kreischend in einer Rauchwolke auf. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen.
Die Liste könnte ich noch beliebig weiter verfolgen: Die Explosion im überfüllten Wartezimmer des leitenden Oberarztes der Pädiatrie, nach der dann später ausschließlich Bürokaufmannazubis wieder aus dem Zimmer heraus kamen; der Urologe, der sich für eine biologische Massenvernichtungswaffe hielt und sich im Stickstofflager selbst einfrierte; die grüne Blutkonserve mit dem Zimtaroma; und nicht zuletzt der Post-Doc, dessen Körper aus halbflüssigem und doch zähem Schleim zu bestehen schien.

Doch kommen wir zurück zu meinem anfänglichen Bericht. Nachdem die wild trabende Herde den Stall komplett verlassen hatte, machte auch ich mich bereit, den benötigten Schein ausfüllen zu lassen, um mich danach so schnell wie möglich wieder in die eigenen vier Wände zurückzuziehen, den einzigen Ort, an dem die Dinge noch so liefen, wie ich es gewohnt war. Meine Oase der Normalität.
Doch als ich mich dem Rednerpult näherte, gab Professor Clark plötzlich einige Äußerungen von sich, die mir die Augen öffneten. Mit einem Mal war mir alles klar. Alle seltsamen und paranormalen Ereignisse der letzten Woche wurden nun begreifbar; alle Verhaltensauffälligkeiten und –abnormalitäten der Akademiker erhielten nun einen offensichtlichen Ursprung.
Mir wurde klar, wer die Macht in den Universitäten besaß, wem wir die Studentenschwemme, die Hippie-Studenten, alle durchgedrehten Professoren sowie weitere gesellschaftlichen Mißstände innerhalb der Hochschulen zu verdanken haben.
Der eine Satz, der Professor Clark leise und vorsichtig über die Lippen glitt, war augenscheinlich nicht für meine Ohren bestimmt. Der Professor schien zu einem kleinen Knopf zu reden, der an seiner Jackentasche festgenäht war. Ein verstecktes Mikrofon, wie ich vermutete.
Seine Worte waren: „OK. Wir haben die Gesellschaft unterwandert und bilden die soziologische und pädagogische; wer nicht bei uns einer langjährigen Gehirnwäsche unterzogen wurde und den von uns eingeführten, völlig nutzlosen Namenszusätzen wie «Doktor» oder «Professor» „, an dieser Stelle lachte er kurz aber eindringlich, „wie ein Verrückter nachläuft, wer sich nicht den Großteil seines Lebens mit langweiligen, stupiden Seminaren beschäftigt, hat keine Überlebenschance mehr in der oberen Gesellschaftsschicht; alle Leistungsträger haben sich alle so spezialisiert auf ein – meist belangloses – Thema innerhalb ihres Fachgebietes, dass keiner mehr weiß, wovon der andere redet. Diese Methode ist noch effektiver als die Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel.
Zusammenfassend kann ich ihnen melden, Exzellenz, dass unser Auftrag, die Eroberung der Erde sowie die totale Kontrolle und Macht über alle Erdlinge, erfüllt ist. Ich bitte um Erlaubnis, mit dem nächsten Transport wieder auf unseren Heimatplaneten zurückkehren zu dürfen.“
 



 
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