Hochvernarbt

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WackyWorld

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Unser Gerd war gerade mal 15 Jahre jung, als wir die ersten Anzeichen seiner Hochbegabung bemerkten – er begann plötzlich, mehrsprachige Sätze zu murmeln und mathematische Rätsel zu lösen, die weit über das Niveau eines normalen Abendessen-Gesprächs hinausgingen. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten offenbarten sich uns allerdings schon viel früher, praktisch pränatal. Im Mutterleib war er der lebende Taschenrechner meiner Frau, die jeden Supermarkt-Einkauf akkurat per Fußtritt in ihrem Bauch zusammenrechnete. Gab es einen Einkauf über 100 Euro, hagelte es Tritte wie bei einem Heavy-Metal-Konzert.

Im Kindergarten hatte die Erzieherin noch gemeint, Hochbegabung käme oft mit ADHS daher. Gerd allerdings zeigte mehr das Temperament eines meditierenden Mönchs als das eines unruhigen Springinsfelds. Doch wir waren überzeugt, dass nur ein wenig Ansporn nötig sei, um sein wahres Potential zu entfesseln. In einem unkonventionellen elterlichen Eifer erstand meine Frau daher – inspiriert von einem dubiosen Wohltäter am Bahnhof – eine kleine Menge Amphetamine und streute sie diskret auf Gerds Pausenbrote. Das Ergebnis? Unser Gerd wurde zum Flummi der Klasse, zeigte mehr Energie als ein Duracell-Hase.

Trotz allem, seine schulischen Leistungen sprachen eine andere Sprache: eine 6 in Mathe, eine 5 in Deutsch, eine 4 in Englisch – und eine glänzende 1 in Religion. Von letzterem schwieg seine Lehrerin, eine Pädagogin mit selektiver Wahrnehmung, die in Gerds lebhafter Ader keinen Beweis für Intelligenz sehen wollte.

Entschlossen, die Wahrheit zu beweisen, schickten wir ihn zu einem IQ-Test. Leider war das Schicksal uns nicht gewogen; Gerd litt unter akutem Durchfall und verlor dadurch auf dem Weg zu einem möglichen Genie-Status 100 IQ-Punkte, übrig blieben 50. Trotz der turbulenten Umstände waren wir stolz auf unseren Sohn, der nun auch wissenschaftlich nachweisbar zeigte, dass ein hoher IQ und eine explosive Verdauung durchaus Hand in Hand gehen können.

Auf der Rückfahrt stellte meine Frau Gerd die unschuldige Frage, ob er schon mal darüber nachgedacht hätte, Mandarin zu lernen. Wie ein echtes Wunderkind, das den Witz schneller schnappt als ein Taschenrechner eine Rechnung, konterte er: "Warum sollte ich? Ich habe keine Lust, mich mit Obst zu unterhalten." Gerd eben! Wir haben die ganze Heimfahrt vor Stolz und Belustigung gelacht.

Gerds Humor konnte manchmal etwas an der Grenze wandeln, was anscheinend eine Standardausstattung bei Hochbegabten ist. Wie zum Beispiel die Zeit, als er sich sein eregiertes Glied mit einer Salbe gegen Mückenstiche einrieb. Ich konnte darüber nicht lachen, aber vielleicht war ich auch einfach nicht klug genug, um die subtile Komik dahinter zu verstehen.

Als er 16 war, offenbarte er uns, dass er sich eine Karriere als Zugführer vorstellen könnte. Das war der erste Moment, in dem meine Frau und ich richtig sauer wurden. „Zugführer? Mit deinem IQ?“ schrien wir, „Du gehörst in die Quantenphysik an die Uni!“ Er blieb stur: „Ich will nicht an die Uni.“ Erst nach 18 Monaten Stubenarrest – eine sanfte Überzeugungsmethode, wie wir fanden – erkannte er sein „himmlisches Geschenk“ und erklärte schließlich, er würde Fußphysik studieren wollen. Wir lachten vor Freude, diesmal wirklich nicht wegen seines Humors.

Dann kam das wahre Drama: Gerd flog von der Schule, und das sogar ohne Abitur. Ein vermeintliches Genie, ausgestattet mit einem IQ, der die Wolken kratzen könnte, und doch stolperte er über die letzte Hürde des Bildungssystems. Ironie des Schicksals? Vielleicht. Ein Grund mehr, auf seine schelmische Art und Weise zu setzen – wer braucht schon ein Abitur, wenn man der König der unkonventionellen Weisheiten ist?

Als wir Gerd dazu rieten, irgendetwas Wissenschaftliches zu veröffentlichen – Selfpublishing macht's möglich –, hatten wir sicherlich etwas anderes im Sinn als das, was er letztendlich auf Amazon einstellte. Sein Werk trug den bezaubernden Titel „Sackläuse unterm Mikroskop“. Meine Frau und ich waren zunächst sprachlos. Wie konnte unser hochbegabtes Kind auf solch eine abstruse Idee kommen?

Ich fragte ihn, ob er das Ganze für einen Scherz hielt. Doch Gerd erklärte ernsthaft, dass er tatsächlich etwas „im Gestrüpp“ hatte, das nachts umherwanderte, und er dies mit einer Mikroskop-App untersucht hätte. Obwohl wir von seiner kreativen Herangehensweise beeindruckt waren – immerhin hatte er eine Art von Forschung betrieben, die meisten Menschen wohl ewig verborgen bliebe – waren wir uns einig, dass dies wohl kaum die Eintrittskarte nach Oxford sein würde.

Doch vielleicht, dachten wir, könnte dies eine Nische für ihn sein. Schließlich gibt es auf der Welt viele ungewöhnliche und unerforschte Themen, die eines wissenschaftlichen Blicks bedürfen. Vielleicht war „Sackläuse unterm Mikroskop“ einfach der Beginn einer glänzenden Karriere als Spezialist für die mikroskopische Welt des Unerwarteten. Wer weiß, vielleicht würde eines Tages das Gerdsche Institut für unkonventionelle Mikrobiologie seine Pforten öffnen.

Aber wir wollten sicher sein, dass er mehrere Content Marketing Kanäle bespielten. Wir rieten ihn zu einem YouTube Kanal, auf dem er über Wissenschaft redete. Nur, dass mit den Sackläusen sollte dem Printmedien vorbehalten sein.

Nach 2 Monaten kam sein erstes Video raus. Es war komplett schwarz. 2 Stunden lang. Er hatte vergessen, den Sichtschutz abzunehmen. Aber man hörte ihn. Und das war klasse, was er da erzählte. Wir verstanden es nicht, aber es klang super.

Alle 2 Monate drehte er ein neues Video und wir waren sicher, dass er bald als Spitzenakademiker seinen Weg machen würde, bis er Ute nach Hause brachte. Seine erste Freundin.

Grüngefärbte Haare, Piercings und keine Hochbegabung. Wir haben sie von Anfang an gehasst. Aber unser Sohn war ihr verfallen. Bald hörten wir oben ein Gejauchze, das uns schlecht wurde. Am liebsten hätten wir sie des Hauses verwiesen, aber Gerd war ihr hörig.

Nachdem meine Frau überzeugt war, dass Gerds Interesse an Ute eher von seinem Trieb angeheizt wurde als von seinem Herzen, entschieden wir, dass wir handeln mussten. In einer Nacht, unterstützt von einigen Tropfen Benzodiazepam und der handwerklichen Geschicklichkeit unseres Nachbarn, dem Meistermetzger, sorgten wir dafür, dass unten erstmal Ruhe herrschte.

Gerd landete unerwarteterweise auf der Intensivstation – das war natürlich nicht unser Plan, aber zum Glück brachten die Ärzte ihn wieder in Ordnung. Als er nach Hause kam, war er allerdings alles andere als dankbar. Er war richtig sauer auf uns, und zu unserer Verwunderung schien er nicht zu verstehen, dass unsere Maßnahmen nur seinem eigenen Wohl galten.

Dann kam Ute nicht mehr zu Besuch. Für uns ein klares Zeichen, dass wir das Richtige getan hatten. Doch das nächste Unglück ließ nicht lange auf sich warten. Horst tauchte auf, ein alter Schulkamerad von Gerd, in den er sich angeblich verliebt hatte. Das gleiche Drama begann von vorne: Gejauchze von oben und Tränen bei uns unten. Meine Frau heulte als sie ihm hinten als zunähte. Zumal Gerd danach einen künstlichen Darmausgang benötigte.

Horst war danach aus Gerds Leben verschwunden. Gerd begann daraufhin, elendig lange zu joggen. Teilweise mehrere Stunden rannte er durch die Gegend. Wir waren erneut verzweifelt. Immer noch begriff er nicht, was er für einen Segen im Kopf hatte. Wir musste handeln, es ging echt nicht anders. Wir haben ihm, dieses Mal aber von einem Chirurgen, die Beine abgenommen. Und als er aus der Klinik rauskam, weinte mein Frau vor Glück: Er sah aus wie Stephen Hawking. Endlich sah man ihm seine hohe Intelligenz an.

Gerd aber wurde depressiv. Die Beine schienen ihm zu fehlen, vielleicht auch Ute und Horst. Aber er würde es verstehen, sobald er alt genug wäre, da waren wir sicher.

Wir versuchten alles, um ihn aufzuheitern. Meine Frau zog sich mittags eine lustige Clownsnase auf und ich setzte mich zum Spaß auf ein Furzkissen aber Gerd war kein Lächeln mehr zu entlocken.

Aber es sollte noch schlimmer kommen: Er fing an, Gangsta-Rap zu machen. Meine Frau hörte seinen übelsten Song „Meine Eltern sollen in der Hölle schmoren.“.

Wir wussten, dass uns Gerd liebte und er andere Eltern meinen musste, aber trotzdem fanden wir den Titel verstörend.

Aber Zunge rausnehmen, war keine Option. Denn er musst ja Vorträge halten. Also haben wir in ein Bibelinternat geschickt. 14 Stunden beten und den Rest des Tages Rosenkranzrasseln bis die Knöchel hervortraten.

Als wir ihn nach etlichen Jahren da abholten, da sprach er gar nicht mehr.

Da wussten wir es: Er konnte mittlerweile ohne Sprache kommunizieren. Bei dem IQ kein Wunder. Wir waren so stolz.

Aber wir merkten auch etwas, das wir falsch gemacht hatten. Gerd war jetzt fast 60. Wir hatten gar nicht gemerkt wie schnell die Zeit im Kloster vergangen war.

Was wir auch nicht wussten, das war ein Shaolin-Kloster. Spezialisiert auf die Ausbildung von Kampfmönchen, die im Rollstuhl saßen.

Etwas mehr als 3 Stunden zeigte er uns sein Können. Meine Frau dankte dabei ab und ich verlor alle Gliedmaßen, erlitt ne Hodenquetschung, nen Herzinfarkt und nen Darmriss.

Aber ich war stolz. 60 Jahre und sein ADHS war jetzt auch ohne Amphetamine da. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er endlich in den Akademikerhimmel aufstieg.

Mein Arzt, den ich am nächsten Tag aufsuchte, meinte, dass ich das wohl nicht mehr erleben würde bei der Dosis Arsen im Blut.
 
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