Höhenangst

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Höhenangst



Vom oberen Burghof bot sich eine herrliche Aussicht auf das im lockeren Dunst des Septembernachmittags liegende Neckartal. Doch um wie viel weiter musste der Blick vom Turm aus schweifen können! Die meisten Mitglieder seiner Reisegruppe nahmen dieses Angebot wahr und strebten ausgelassen erzählend die Steinstufen des Bergfrieds nach oben. Für ihn allerdings stellte der Aufstieg ein nicht geringes Problem dar. Seine letzte Turmbesteigung war ihm noch in lebhafter Erinnerung - er hatte sich auf eine der Aussichtsplattformen gewagt, wie sie am Rand des Odenwalds zur Rheinebene hin häufig zu finden sind. Damals hatte ihm sein Knie zu schaffen gemacht; oben hatte er es wegen eines unangenehm scharfen Windes, der den Turm in leichte Schwankungen zu versetzen schien, nicht lange ausgehalten. Warum hatte er sich überhaupt auf diesen Betriebsausflug eingelassen? Jeder wusste doch um seine angeschlagene Gesundheit und hätte es ihm nachgesehen, wenn er entschuldigt ferngeblieben wäre. Ein halbes Leben, seit seiner Ausbildung zum Laboranten, arbeitete er im Forschungslabor eines mittelständischen Chemieunternehmens im Rhein- Neckar- Raum. Er gehörte zu einem kleinen, aber effizient arbeitenden Team und war wegen seines Fachwissens und seiner freundlich zurückhaltenden Art allgemein anerkannt. Engere Kontakte hatten sich allerdings nicht ergeben; vielleicht hatte er diese sich einfach nicht gestattet. Er konzentrierte sich lieber auf seine Arbeit, die ihm viel bedeutete. Die Teilnahme am Betriebsausflug abzulehnen hatte er nicht gewagt, obwohl die dort erwünschte Kollegialität und Zwanglosigkeit seinem Charakter nicht entsprach.
Von der Plattform hoch oben riefen und winkten schon die ersten Teilnehmer. Sollte er hier unten warten oder den Aufstieg wagen? Er musterte den Bergfried aus massiven Quadern, die Jahrhunderte und manche Angriffe überstanden hatten. So beruhigte er sich selbst und begann langsam die Steinstufen emporzusteigen, ständig auf der Hut, dass er sein Knie nicht überlastete oder verdrehte. In den Zwischengeschossen hielt er an und schaute beiläufig aus den Zinnen, auch um andere Besucher vorzulassen, die teils lautstark und zügig nach oben strebten. Allerdings war von unten nicht zu sehen, dass sich er Turm im letzten Drittel verjüngte. Nur über eine eiserne Wendeltreppe, eine schwankende, sich eng um die eigene Achse drehende Konstruktion, konnte man die Plattform erreichen. Unsicher geworden hielt er inne und wäre am liebsten umgekehrt. Doch in diesem Augenblick kam die Gruppe seiner Kollegen schon von oben zurück und ermunterte ihn mit den üblichen Sprüchen weiter zu steigen. Diese Blöße durfte er sich nicht geben; also begann er Schritt für Schritt den steilen Weg nach oben, hielt sich tapfer am Geländer fest, legte kleine Pausen ein und vermied nach unten zu schauen. Glücklicherweise kam ihm auf der engen Wendeltreppe niemand von oben entgegen, so dass er schließlich mit leicht zitternden Knien und ziemlich außer Atem die Plattform erreichte.
Die massive und recht hohe Brüstung mit einem Abschluss aus schweren Steinplatten strahlte Sicherheit aus. Zusätzlich bot eine darauf befestigte umlaufende Eisenstange die Möglichkeit sich festzuhalten. Er griff mit der linken Hand nach ihr, stützte sich bequem mit den Ellenbogen auf, lehnte sich an den von der Nachmittagssonne gewärmten Stein und genoss tief atmend die Stille und Einsamkeit. Vor ihm breitete sich das bewaldete Neckartal aus. Der Fluss schlängelte sich durch die grünen Talauen und an kleinen Dörfern vorbei, bis er sich im Westen zur Rheinebene hin im milchighellen Dunst verlor. Ein Schiff zog gemächlich eine Spur in die glatte Wasserfläche und zeichnete silberne Lichtblitze auf das im Gegenlicht schimmernde Band.
Überwältigt von der Großartigkeit des Schauspiels ließ er sich fallen in den Augenblick, schien zu verschmelzen mit der Natur, die sich vor ihm ausbreitete. So bemerkte er zunächst nicht, dass jemand fast lautlos neben ihn getreten war. Erst als seine auf dem Geländer ruhende linke Hand eine leichte, wie zufällige Berührung spürte und ihn ein seltsames Gefühl der Nähe zu durchfluten begann, schaute er verstohlen auf die zarte helle Hand, die wie selbstverständlich eng neben der seinen die eiserne Stange umfasste. Im ersten Schreck über die Ungeheuerlichkeit der Situation versuchte er seine Hand wegzuziehen, aber er war nicht fähig dazu. Ganz tief im Unbewussten schien er zu begreifen, dass dieser Augenblick einmalig war, ein unverdientes Geschenk, das von sich zu weisen ein Frevel gewesen wäre.
Also ließ er es geschehen, dass eine rätselhafte, kraftvolle Energie die beiden Körper in Schwingung versetzte, sie anfüllte und über sie hinausstrahlte. Seit langer Zeit unter Verschluss gehaltene Gefühle bahnten sich den Weg in das Bewusstsein. Wie hatte er über viele Jahre hinweg so konsequent verdrängen können, was an Zuneigung und Liebe in ihm gefangen war? Wie war es möglich gewesen, dass er in sich eine Mauer errichtet hatte, die an Starre und Schwere der des Bergfrieds nicht nachstand, auf dessen Plattform die beiden Menschen nebeneinander in die Ferne blickten? Je stärker sich seine Bedürfnisse nach Harmonie und Nähe gemeldet hatten, desto tiefer hatte er sie in das selbst errichtete Verlies hinabgestoßen, vielleicht aus Bestürzung über ihre elementare Gewalt, vor allem aber aus Angst vor Zurückweisung und tiefer Verletzung. Und nun brach in einem Augenblick unkontrollierten Entspanntseins all das über ihn herein, das er in tiefen Gewölben sicher verwahrt glaubte.
Immer noch ruhten beide Hände auf dem Geländer der Brüstung, so eng beieinander, dass die feinen Härchen der Haut miteinander spielen konnten. Langsam löste sich sein Blick vom Dunst der Ferne und richtete sich auf die mit Flechten überzogene Abdeckplatte des Turms. Seine linke , gebräunte Hand mit den langen, für einen Mann fast zu schlanken Fingern lag nun locker auf der sich wenig über den Stein erhebenden Eisenstange; eng daneben hielt sich ihre zierliche, etwas blasse Rechte noch ziemlich verkrampft fest. Auch beide Unterarme berührten sich leicht. Er hatte die Manschetten seines Hemdes hochgeschlagen; der locker nach oben geschobene Ärmel ihres rot karierten Flanellhemdes gab den schmalen Unterarm mit seinen blonden Härchen frei. Ganz leise sagte sie fast entschuldigend in die Stille: \"Ich habe doch Höhenangst!\" Dabei schwang noch etwas Angst mit, aber auch Erleichterung, vielleicht sogar ein wenig Stolz darüber, dass sie es bis zur Plattform geschafft hatte. \"Mir ist hier oben auch nicht ganz wohl!\" lächelte er und fühlte sich auf einmal leicht und sicher. Er schaute seiner Kollegin aus dem Labor nun direkt in ihr vom Aufstieg oder der Anspannung leicht gerötetes Gesicht. Wie viele Jahre kannte er dieses feine, kindhaft runde Antlitz, das so locker von kurzen blonden, manchmal leicht rötlich schimmernden Haaren eingerahmt war. Oft hatte er verstohlen danach gesucht, wenn sie sich in ihre Arbeit am Labortisch vertieft hatte. Er hatte ihre Mimik beobachtet, wenn sie mit ihm gemeinsame Projekte besprochen oder Arbeitsergebnisse verglichen hatte. Doch wenn er später ihre Gesichtszüge vor seinem geistigen Auge wieder erstehen lassen wollte, war es ihm nie gelungen. Auch jetzt trafen sich ihre Blicke nur wenige Sekunden; dann schweiften sie wieder über die Landschaft unter ihren Füßen.
Ihr Schweigen vereinte sich mit der Stille des Nachmittags hier oben weit über dem geschäftigen Leben im Tal. Im Gegensatz zu ihm gab sie sich im Alltag ausgesprochen kontaktfreudig und scheute sich auch nicht vor dem im Kollegenkreis üblichen \"Du\". Sie brachte sich mit neuen Ideen in die Arbeit ein und kämpfte engagiert und zäh, wenn sie von einer wichtigen Sache überzeugt war. Manchmal erschrak er sogar über ihre Kompromisslosigkeit gegenüber Kollegen und Vorgesetzten, gehörte er doch zu den Menschen, die sich bei Schwierigkeiten sofort unterwerfen oder in sich zurückziehen. Eigenartig, dass sie ihm ganz anders begegnete. Noch nie waren sie in den vielen Jahren aneinander geraten, auch wenn in Sachfragen ihre Meinungen schon auseinander liegen konnten. Sie schätzte sein fachliches Können und holte sich gern Rat; er ließ sich meist von ihren Ideen mitreißen und freute sich über gemeinsam erarbeitete Lösungen. Seine tiefgründige, ernste Lebenshaltung akzeptierte sie, ja manchmal schien sie ihn vielleicht unbewusst aufzufangen. Wenn er sich in der Frühstückspause schon leicht erschöpft hingesetzt hatte, um sein Vesperbrot zu verzehren, setzte sie sich zuweilen schräg auf den vor ihm stehenden Labortisch und erzählte leicht und unbefangen vom Ärger mit den Kollegen oder von ihrer Familie. Irgendwie bestand ein stetig gewachsenes Vertrauensverhältnis, ein geschützter Bereich geistiger Intimität zwischen ihnen, was sicher auch darauf beruhte, dass eine gewisse Distanz nie überschritten wurde. Dies kam auch darin zum Ausdruck, dass sie sich nach über zehn Jahren Zusammenarbeit noch mit \"Sie\" anredeten. Manchmal ergab sich während der Arbeit eine ungewollte Nähe, vor der beide aber sichtlich zurückschreckten, wenn sie beispielsweise ein Versuchsergebnis auf dem Bildschirm oder in der Apparatur begutachteten.
Doch nun standen sie allein zwischen Himmel und Erde und es fiel ihnen kein Thema zum Reden ein. Vielleicht ahnten sie, dass Worte die Einmaligkeit des Augenblicks entzaubern könnten. Wie in Trance nahm er wahr, dass ihr Körper sich zusehends entspannte und an seinen Oberarm lehnte. Normalerweise hätte er sich mit einer Geste der Entschuldigung aus der Situation zurückgezogen, aber jetzt hielt er dem leichten Druck stand und gab sich dem Fließen unbekannter Energien hin, die zwei Wesen außerhalb von Raum und Zeit zu vereinen schienen. Doch natürlich konnte dieser Zustand nicht ewig dauern. Die Sonne hatte sich schon weit in die Ebene gesenkt und färbte den milchigen Dunst in der Ferne behutsam orangerot; das Band des Flusses schimmerte golden herauf. Vom Burghof her rief jemand die Gruppe auf, sich zur Weiterfahrt zu sammeln. Sie versuchten sich wieder in die Realität zu finden, lösten sich von einander und von dem Panorama des frühen Abends.
Vorsichtig, Stufe für Stufe, stiegen sie zuerst die eiserne Wendeltreppe und dann die ausgetretenen Steinstufen in den Burghof hinab, wo sie sich in die Gruppe der Arbeitskollegen einreihten. Der Betriebsausflug klang aus mit einem Essen in einer gemütlichen Waldgaststätte. Wie zufällig nahm sie links neben ihm an dem großen ovalen Tisch Platz, an den alle passten. Man genoss Essen und Wein, redete und lachte viel. Die allgemeine Fröhlichkeit konnte ihn nicht so recht anstecken; zu sehr war er mit dem Vergangenen beschäftigt. Und als er eher aus Versehen oder wegen des nicht sonderlich bequemen Holzstuhls mit seinem linken Knie das ihre leicht berührte, erwiderte sie ganz sanft diese Bewegung, als habe sie darauf gewartet. Während sie sich an den Gesprächen der Runde mehr oder weniger beteiligten, fanden sich ihre Blicke nicht. Aber durch die Jeans spürten sie die Wärme ihrer leicht aneinander liegenden Oberschenkel.
In der kommenden Woche konzentrierten sie sich wie seit mehr als einem Jahrzehnt auf ihre Arbeit im gleichen Labor; ihre Blicke steiften sich beiläufig. Beide versagten sich, auch nur in belangloser Form das zurückliegende Erlebnis anzusprechen. Sie fanden nicht die Worte, vielleicht auch, weil es keine Worte dafür gab.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Bertl,

ein Moment der Annäherung, eine unerwartete Chance, die dann doch nicht genutzt wird - die Beiden können die Distanz im Alltag nicht überwinden. Wie schade, man hätte ihnen ein Happy End gegönnt.

Du hast diesen kurzen Augenblick des sich beinahe Näherkommens sehr einfühlsam beschrieben und eine gute Spannung aufgebaut.

Der Text würde sich ein wenig leichter lesen lassen, wenn Du die Schrägstriche entfernen könntest und die Absätze noch ein wenig entzerrst.

Aber das sind nur Kleinigkeiten, ansonsten habe ich nichts daran auszusetzen.

Gruß Ciconia
 
U

USch

Gast
Hallo Bertl,
mir hat die sehr detaillierte und einfühlsame Geschichte sehr gefallen. Ich merke, dass du Künstler bist, der sehr genau schauen kann - nach innen und nach außen.
Ein paar Kleinigkeiten, wenn du magst.

Allerdings war von unten nicht zu sehen, dass sich [blue]d[/blue]er Turm im letzten Drittel verjüngte.
Da fehlt ein [blue]d[/blue]

Und nun brach in einem Augenblick unkontrollierten Entspanntseins all das über ihn herein, [strike]das [/strike] [blue]was [/blue]er in tiefen Gewölben sicher verwahrt glaubte.
das doppelte [red]das [/red]klingt nicht.

\"Ich habe doch Höhenangst!\" Dabei schwang noch etwas Angst mit, aber auch Erleichterung, vielleicht sogar ein wenig Stolz darüber, dass sie es bis zur Plattform geschafft hatte. \"Mir ist hier oben auch nicht ganz wohl!\" lächelte er und fühlte sich auf einmal leicht und sicher.
die Doppelung von angst/Angst klingt nicht und ist auch nicht notwendig. Vorschlag:
[blue]„Ich habe doch Höhenangst!" Dabei schwang aber auch Erleichterung mit, vielleicht sogar ein wenig Stolz darüber, dass sie es bis zur Plattform geschafft hatte. „Mir ist hier oben auch nicht ganz wohl", lächelte er und fühlte sich auf einmal leicht und sicher.[/blue]
Die Schrägstiche stören natürlich wie schon von ciconia erwähnt. Vielleicht auch noch etwas mehr Absätze.
LG USch
 
Hallo USch,

ich freue mich sehr über das dicke Lob für meine kleine Geschichte. Gern nehme ich die Verbesserungsvorschläge an und werde morgen meine Erzählung überarbeiten. Was die seltsamen Schrägstriche angeht, so stammen sie nicht von mir. Vielleicht hat sie der Computer eingefügt. Allerdings habe ich beobachtet, dass in manchen anderen Texten ebenfalls vor den Anführungszeichen Schrägstriche auftauchen. Leider habe ich zu wenig Erfahrung mit der Technik. Vielleicht habe ich einen Fehler beim Übermitteln des Textes gemacht.
Dies sind aber Kleinigkeiten. Wichtig ist mir als "Neuling" in diesem Forum, dass meine Erzählungen auf Resonanz stoßen. Dafür nochmals danke.

LG Bertl.
 
Hallo Ciconia,
ich freue mich sehr darüber, dass dir die kleine Begebenheit beim Betriebsausflug gefällt. Meine Geschichten halten sich oft eng an das Leben; und auch da gibt es nicht immer ein Happy End. Gerade deshalb erscheint es mir wichtig, dass die kleinen Zeichen von Nähe und Harmonie nicht übersehen werden.
Die seltsamen Schrägstriche stammen nicht von mir, vielleicht von einem technischen Problem. Ich werde sie morgen entfernen.
LG Bertl
 
Höhenangst



Vom oberen Burghof bot sich eine herrliche Aussicht auf das im lockeren Dunst des Septembernachmittags liegende Neckartal. Doch um wie viel weiter musste der Blick vom Turm aus schweifen können! Die meisten Mitglieder seiner Reisegruppe nahmen dieses Angebot wahr und strebten ausgelassen erzählend die Steinstufen des Bergfrieds nach oben. Für ihn allerdings stellte der Aufstieg ein nicht geringes Problem dar. Seine letzte Turmbesteigung war ihm noch in lebhafter Erinnerung - er hatte sich auf eine der Aussichtsplattformen gewagt, wie sie am Rand des Odenwalds zur Rheinebene hin häufig zu finden sind. Damals hatte ihm sein Knie zu schaffen gemacht; oben hatte er es wegen eines unangenehm scharfen Windes, der den Turm in leichte Schwankungen zu versetzen schien, nicht lange ausgehalten. Warum hatte er sich überhaupt auf diesen Betriebsausflug eingelassen? Jeder wusste doch um seine angeschlagene Gesundheit und hätte es ihm nachgesehen, wenn er entschuldigt ferngeblieben wäre. Ein halbes Leben, seit seiner Ausbildung zum Laboranten, arbeitete er im Forschungslabor eines mittelständischen Chemieunternehmens im Rhein- Neckar- Raum. Er gehörte zu einem kleinen, aber effizient arbeitenden Team und war wegen seines Fachwissens und seiner freundlich zurückhaltenden Art allgemein anerkannt. Engere Kontakte hatten sich allerdings nicht ergeben; vielleicht hatte er diese sich einfach nicht gestattet. Er konzentrierte sich lieber auf seine Arbeit, die ihm viel bedeutete. Die Teilnahme am Betriebsausflug abzulehnen hatte er nicht gewagt, obwohl die dort erwünschte Kollegialität und Zwanglosigkeit seinem Charakter nicht entsprach.

Von der Plattform hoch oben riefen und winkten schon die ersten Teilnehmer. Sollte er hier unten warten oder den Aufstieg wagen? Er musterte den Bergfried aus massiven Quadern, die Jahrhunderte und manche Angriffe überstanden hatten. So beruhigte er sich selbst und begann langsam die Steinstufen emporzusteigen, ständig auf der Hut, dass er sein Knie nicht überlastete oder verdrehte. In den Zwischengeschossen hielt er an und schaute beiläufig aus den Zinnen, auch um andere Besucher vorzulassen, die teils lautstark und zügig nach oben strebten. Allerdings war von unten nicht zu sehen, dass sich der Turm im letzten Drittel verjüngte. Nur über eine eiserne Wendeltreppe, eine schwankende, sich eng um die eigene Achse drehende Konstruktion, konnte man die Plattform erreichen. Unsicher geworden hielt er inne und wäre am liebsten umgekehrt. Doch in diesem Augenblick kam die Gruppe seiner Kollegen schon von oben zurück und ermunterte ihn mit den üblichen Sprüchen weiter zu steigen. Diese Blöße durfte er sich nicht geben; also begann er Schritt für Schritt den steilen Weg nach oben, hielt sich tapfer am Geländer fest, legte kleine Pausen ein und vermied nach unten zu schauen. Glücklicherweise kam ihm auf der engen Wendeltreppe niemand von oben entgegen, so dass er schließlich mit leicht zitternden Knien und ziemlich außer Atem die Plattform erreichte.

Die massive und recht hohe Brüstung mit einem Abschluss aus schweren Steinplatten strahlte Sicherheit aus. Zusätzlich bot eine darauf befestigte umlaufende Eisenstange die Möglichkeit sich festzuhalten. Er griff mit der linken Hand nach ihr, stützte sich bequem mit den Ellenbogen auf, lehnte sich an den von der Nachmittagssonne gewärmten Stein und genoss tief atmend die Stille und Einsamkeit. Vor ihm breitete sich das bewaldete Neckartal aus. Der Fluss schlängelte sich durch die grünen Talauen und an kleinen Dörfern vorbei, bis er sich im Westen zur Rheinebene hin im milchighellen Dunst verlor. Ein Schiff zog gemächlich eine Spur in die glatte Wasserfläche und zeichnete silberne Lichtblitze auf das im Gegenlicht schimmernde Band.
Überwältigt von der Großartigkeit des Schauspiels ließ er sich fallen in den Augenblick, schien zu verschmelzen mit der Natur, die sich vor ihm ausbreitete. So bemerkte er zunächst nicht, dass jemand fast lautlos neben ihn getreten war. Erst als seine auf dem Geländer ruhende linke Hand eine leichte, wie zufällige Berührung spürte und ihn ein seltsames Gefühl der Nähe zu durchfluten begann, schaute er verstohlen auf die zarte helle Hand, die wie selbstverständlich eng neben der seinen die eiserne Stange umfasste. Im ersten Schreck über die Ungeheuerlichkeit der Situation versuchte er seine Hand wegzuziehen, aber er war nicht fähig dazu. Ganz tief im Unbewussten schien er zu begreifen, dass dieser Augenblick einmalig war, ein unverdientes Geschenk, das von sich zu weisen ein Frevel gewesen wäre.

Also ließ er es geschehen, dass eine rätselhafte, kraftvolle Energie die beiden Körper in Schwingung versetzte, sie anfüllte und über sie hinausstrahlte. Seit langer Zeit unter Verschluss gehaltene Gefühle bahnten sich den Weg in das Bewusstsein. Wie hatte er über viele Jahre hinweg so konsequent verdrängen können, was an Zuneigung und Liebe in ihm gefangen war? Wie war es möglich gewesen, dass er in sich eine Mauer errichtet hatte, die an Starre und Schwere der des Bergfrieds nicht nachstand, auf dessen Plattform die beiden Menschen nebeneinander in die Ferne blickten? Je stärker sich seine Bedürfnisse nach Harmonie und Nähe gemeldet hatten, desto tiefer hatte er sie in das selbst errichtete Verlies hinabgestoßen, vielleicht aus Bestürzung über ihre elementare Gewalt, vor allem aber aus Angst vor Zurückweisung und tiefer Verletzung. Und nun brach in einem Augenblick unkontrollierten Entspanntseins all das über ihn herein, was er in tiefen Gewölben sicher verwahrt glaubte.

Immer noch ruhten beide Hände auf dem Geländer der Brüstung, so eng beieinander, dass die feinen Härchen der Haut miteinander spielen konnten. Langsam löste sich sein Blick vom Dunst der Ferne und richtete sich auf die mit Flechten überzogene Abdeckplatte des Turms. Seine linke , gebräunte Hand mit den langen, für einen Mann fast zu schlanken Fingern lag nun locker auf der sich wenig über den Stein erhebenden Eisenstange; eng daneben hielt sich ihre zierliche, etwas blasse Rechte noch ziemlich verkrampft fest. Auch beide Unterarme berührten sich leicht. Er hatte die Manschetten seines Hemdes hochgeschlagen; der locker nach oben geschobene Ärmel ihres rot karierten Flanellhemdes gab den schmalen Unterarm mit seinen blonden Härchen frei. Ganz leise sagte sie fast entschuldigend in die Stille: "Ich habe doch Höhenangst!" In ihrer Stimme schwang noch etwas Unsicherheit, aber auch Erleichterung, vielleicht sogar ein wenig Stolz darüber, dass sie es bis zur Plattform geschafft hatte. "Mir ist hier oben auch nicht ganz wohl!", lächelte er und fühlte sich auf einmal leicht und sicher. Er schaute seiner Kollegin aus dem Labor nun direkt in ihr vom Aufstieg oder der Anspannung leicht gerötetes Gesicht. Wie viele Jahre kannte er dieses feine, kindhaft runde Antlitz, das so locker von kurzen blonden, manchmal leicht rötlich schimmernden Haaren eingerahmt war. Oft hatte er verstohlen danach gesucht, wenn sie sich in ihre Arbeit am Labortisch vertieft hatte. Er hatte ihre Mimik beobachtet, wenn sie mit ihm gemeinsame Projekte besprochen oder Arbeitsergebnisse verglichen hatte. Doch wenn er später ihre Gesichtszüge vor seinem geistigen Auge wieder erstehen lassen wollte, war es ihm nie gelungen. Auch jetzt trafen sich ihre Blicke nur wenige Sekunden; dann schweiften sie wieder über die Landschaft unter ihren Füßen.

Ihr Schweigen vereinte sich mit der Stille des Nachmittags hier oben weit über dem geschäftigen Leben im Tal. Im Gegensatz zu ihm gab sie sich im Alltag ausgesprochen kontaktfreudig und scheute sich auch nicht vor dem im Kollegenkreis üblichen "Du". Sie brachte sich mit neuen Ideen in die Arbeit ein und kämpfte engagiert und zäh, wenn sie von einer wichtigen Sache überzeugt war. Manchmal erschrak er sogar über ihre Kompromisslosigkeit gegenüber Kollegen und Vorgesetzten, gehörte er doch zu den Menschen, die sich bei Schwierigkeiten sofort unterwerfen oder in sich zurückziehen. Eigenartig, dass sie ihm ganz anders begegnete. Noch nie waren sie in den vielen Jahren aneinander geraten, auch wenn in Sachfragen ihre Meinungen schon auseinander liegen konnten. Sie schätzte sein fachliches Können und holte sich gern Rat; er ließ sich meist von ihren Ideen mitreißen und freute sich über gemeinsam erarbeitete Lösungen. Seine tiefgründige, ernste Lebenshaltung akzeptierte sie, ja manchmal schien sie ihn vielleicht unbewusst aufzufangen. Wenn er sich in der Frühstückspause schon leicht erschöpft hingesetzt hatte, um sein Vesperbrot zu verzehren, setzte sie sich zuweilen schräg auf den vor ihm stehenden Labortisch und erzählte leicht und unbefangen vom Ärger mit den Kollegen oder von ihrer Familie. Irgendwie bestand ein stetig gewachsenes Vertrauensverhältnis, ein geschützter Bereich geistiger Intimität zwischen ihnen, was sicher auch darauf beruhte, dass eine gewisse Distanz nie überschritten wurde. Dies kam auch darin zum Ausdruck, dass sie sich nach über zehn Jahren Zusammenarbeit noch mit "Sie" anredeten. Manchmal ergab sich während der Arbeit eine ungewollte Nähe, vor der beide aber sichtlich zurückschreckten, wenn sie beispielsweise ein Versuchsergebnis auf dem Bildschirm oder in der Apparatur begutachteten.

Doch nun standen sie allein zwischen Himmel und Erde und es fiel ihnen kein Thema zum Reden ein. Vielleicht ahnten sie, dass Worte die Einmaligkeit des Augenblicks entzaubern könnten. Wie in Trance nahm er wahr, dass ihr Körper sich zusehends entspannte und an seinen Oberarm lehnte. Normalerweise hätte er sich mit einer Geste der Entschuldigung aus der Situation zurückgezogen, aber jetzt hielt er dem leichten Druck stand und gab sich dem Fließen unbekannter Energien hin, die zwei Wesen außerhalb von Raum und Zeit zu vereinen schienen. Doch natürlich konnte dieser Zustand nicht ewig dauern. Die Sonne hatte sich schon weit in die Ebene gesenkt und färbte den milchigen Dunst in der Ferne behutsam orangerot; das Band des Flusses schimmerte golden herauf. Vom Burghof her rief jemand die Gruppe auf, sich zur Weiterfahrt zu sammeln. Sie versuchten sich wieder in die Realität zu finden, lösten sich von einander und von dem Panorama des frühen Abends.

Vorsichtig, Stufe für Stufe, stiegen sie zuerst die eiserne Wendeltreppe und dann die ausgetretenen Steinstufen in den Burghof hinab, wo sie sich in die Gruppe der Arbeitskollegen einreihten. Der Betriebsausflug klang aus mit einem Essen in einer gemütlichen Waldgaststätte. Wie zufällig nahm sie links neben ihm an dem großen ovalen Tisch Platz, an den alle passten. Man genoss Essen und Wein, redete und lachte viel. Die allgemeine Fröhlichkeit konnte ihn nicht so recht anstecken; zu sehr war er mit dem Vergangenen beschäftigt. Und als er eher aus Versehen oder wegen des nicht sonderlich bequemen Holzstuhls mit seinem linken Knie das ihre leicht berührte, erwiderte sie ganz sanft diese Bewegung, als habe sie darauf gewartet. Während sie sich an den Gesprächen der Runde mehr oder weniger beteiligten, fanden sich ihre Blicke nicht. Aber durch die Jeans spürten sie die Wärme ihrer leicht aneinander liegenden Oberschenkel.

In der kommenden Woche konzentrierten sie sich wie seit mehr als einem Jahrzehnt auf ihre Arbeit im gleichen Labor; ihre Blicke steiften sich beiläufig. Beide versagten sich, auch nur in belangloser Form das zurückliegende Erlebnis anzusprechen. Sie fanden nicht die Worte, vielleicht auch, weil es keine Worte dafür gab.
 



 
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