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Sie konnte sich partout nicht an ihn erinnern. Sabine hatte eben ihr samstägliches Ritual - französisches Frühstück und ausgiebige Lektüre der „Zeit“ - beendet und sich aus ihrem Lieblingssessel im Cafe Welser erhoben um zu zahlen. Da streckte ihr nun dieser schlaksige Brillenträger mit weinrotem Schal und grauem Fischgrätmustermantel seine Hand zum Gruß entgegen: „Sabine, bist du das? Was machst du denn hier - wie geht’s dir?“ Aus seiner Stimme klang aufrichtig erfreute Überraschung. Das gewinnende Lächeln wurde von schütterem Haar über hoher Stirn eingerahmt.
Sabine gehörte nicht zu den Menschen, denen es unangenehm war, wenn sie sich an Namen oder Personen nicht erinnern konnten. Sie sah den Mann neugierig an und hob fragend eine Augenbraue. Da sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, ließ der Schlaks diese langsam sinken. Für einen Moment zuckte sein linker Mundwinkel unsicher, dann hatte er sich wieder gefangen: „Ich bin Horst Bäumer – Horsti, erinnerst Du dich nicht?“ Sabine erinnerte sich nicht. „Wir waren zusammen auf dem Schopenhauer-Gymnasium. Achte bis zehnte Klasse bei Frau Schoch, Von `76 bis `78. Na, klingelt jetzt was bei dir?“
Sabine war immer beeindruckt, aber auch stets ein wenig abgestoßen, wenn jemand vergangene Ereignisse augenblicklich mit den dazugehörigen Jahreszahlen verknüpfen konnte. Ihr selbst ging diese Fähigkeit komplett ab. Um sich zeitlich zu orientieren, versuchte sie, wichtige Daten ihres Lebens prägnanten politischen Ereignissen oder, wenn das nicht möglich war, wenigstens dezidierten musikalischen Epochen zuzuordnen. Ihre Eltern ließen sich beispielsweise im Jahr der Watergate-Affäre scheiden. Ihre eigene Ehe ging zu Bruch, als Gerhard Schröder Kanzler wurde. Und ihre Tochter verließ Deutschland in Richtung Argentinien als sich die Spice Girls auflösten.
Sabines Abneigung gegen jahreszahlenmäßige Kategorisierungen ging zweifellos auf eine Affäre mit Michael, dem Mathematiker aus der Finanzbuchhaltung, zurück. Ihre Ehe lag da schon in den letzten Zügen, mit ihrem Mann Robert sprach sie zu der Zeit kaum noch ein Wort (im Radio lief ständig „I don´t want to miss a thing“ von Aerosmith). Beim Weihnachtsessen der verschiedenen Abteilungen stellte sie dann überrascht fest, dass dieser im Alltag eher zugeknöpfte Hüne mit der Nickelbrille und dem blonden Vollbart überaus witzig und charmant sein konnte. Und in unvorsichtigen Momenten verrieten ihr seine Blicke klar und deutlich, dass er ihren Busen wirklich begehrenswert fand und sich redlich bemühte, Zugang zu ihrem BH zu erlangen. Es folgten heimliche Verabredungen nach Dienstschluss, und nachdem ihr von Treffen zu Treffen weniger Gründe einfielen, weshalb sie seine aufopferungsvollen Eroberungsbemühungen nicht genießen sollte, nahmen die Dinge in einer betäubend schönen Nacht kurz vor Heilig Abend ihren Lauf. Der Sex war schon beim ersten Mal überraschend sinnlich und zu berauschend, um es dabei bewenden zu lassen, außerdem recht unkompliziert zu organisieren, denn Robert war im Januar und Februar viel auf Dienstreisen (sagte er zumindest) und Michael wohnte nur ein paar Straßen entfernt. Das schlechte Gewissen ließ sich mit genügend Rotwein auf ein erträgliches Maß herunterpegeln. Da aber Michael offenbar den Ehrgeiz entwickelt hatte, ihr auch seine geistige Potenz mit Hilfe seines phänomenalen Zahlengedächtnisses zu demonstrieren, beendete sie das Ganze einen Tag nach dem Amoklauf an der Columbine Highshool.
Sabines Blick fiel auf die cognac-farbenen Schnürschuhe ihres Gegenübers, die kaum merklich, aber dennoch in ständiger Bewegung über den Boden scharten. Seine Stimme zwang sie, ihm wieder in die Augen zu sehen, die beinah unablässig zwinkerten. „Du – ich meine, Sie waren doch... also, natürlich waren wir zusammen auf dem Schopenhauer. Daran musst du dich doch erinnern, Sabine.“ Auf solch unbedachte Phrasen reagierte Sabine stets etwas gereizt. „Was ich muss oder nicht muss, das überlassen Sie doch bitte mir, mein Herr“, zischte sie eine Spur schärfer als beabsichtigt. Eigentlich war ihr der Mann nicht unsympathisch. Darum fuhr sie versöhnlich fort: „Ich war tatsächlich auf einem Gymnasium, allerdings keinem mit Namen Schopenhauer. Ich war auf der Droste-Hülshoff-Oberschule. Und da dies eine reine Mädchenschule war, werden wir uns dort kaum begegnet sein können.“ Im Gesicht des Brillenträgers zerbröckelte das Lächeln, was Sabine bedauerte. Er riss sich zusammen und versuchte zu retten, was noch zu retten war. „Ich könnte schwören, dass wir uns schon mal begegnet sind. Vielleicht war es ja woanders? Ich war auf der Uni in Hannover - Medizin. Wo haben Sie studiert?“ Sabine musterte ihn kurz von oben bis unten. Er sah nicht nach Mediziner aus, fand sie, eher nach 16 Semestern Kunstgeschichte ohne Abschluss. „Von Hannover kenne ich nur den Bahnhof als Zwischenhalt des ICE. Studiert habe ich in Trier – Verwaltungsrecht.“ Horst Bäumers Gesicht verlor zusehends an Farbe. „Das ist mir aber... also, nein, ich kann das nicht glauben. Wir sind uns bestimmt schon mal... Waren Sie nicht mit Martina befreundet, also meiner Frau, pardon, Ex-Frau, Martina Kusche?“ Er zuppelte dabei nervös an den Fransen seines Schals. „Herr Bäumer, es tut mir wirklich leid, aber ich bin offensichtlich nicht die Frau, die sie zu kennen glauben.“
Horsti startete einen letzten verzweifelten Versuch: „Wissen Sie, meine Frau und ich, wir sind nach dem Studium nach Osnabrück gezogen. Dort haben wir gebaut, in der Nähe, also Hassbergen, falls Ihnen das etwas sagt - waren Sie schon mal in Osnabrück? Es ist eigentlich ganz schön da. Es hieß ja sogar mal, dass dort die glücklichsten Deutschen wohnen. „Ich komm zum Glück aus Osnabrück“, das haben Sie vielleicht schon mal gehört...“ Er stockte kurz und sah sich um, befürchtete wohl, dass er unangenehm auffallen könnte, so stehend mitten im Cafe Welser. Die Gäste an den umliegenden Tischen schienen sich jedoch nicht dafür zu interessieren. Dennoch senkte er nun die Stimme und fuhr im Verschwörerton fort: „Wissen Sie, für uns war es leider keine Glücksstadt. Scheidung nach acht Jahren. Sie bekam das alleinige Sorgerecht. Markus, meinen Sohn, habe ich damals zum letzten Mal gesehen, das war 1986...“ Der schmale Mann hob mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig seine Brille und rieb mit der anderen Hand seine Nasenflügel. „1986... mein Gott, das ist ja wirklich schon sehr lange her“, entfuhr es Sabine unwillkürlich. Das Gesicht des Mannes verlor für Momente die Spannung, die Mundwinkel sackten wie von Gewichten beschwert nach unten. Sabine wandte ihr Gesicht zur Seite und ließ den Blick über die sorglosen Gäste an den zahlreichen Tischen schweifen. Die ersten Akkorde von Simply Red´s „Holding back the years“ mischten sich mit dem wabernden Klangteppich der lachenden Plauderer, denen es einfach nur gut ging. „30 Jahre werden es im Sommer“, hauchte Herr Bäumer so leise, dass sie es mehr ahnte als hörte. Und dieses Hauchen löste etwas in ihrem Gedächtnis, eine Erinnerung, die schon bei dem Wort „Osnabrück“ in leichte Bewegung geraten war und nun wie eine Lawine unaufhaltsam an Fahrt gewann. Intuitiv hatte sie jede Regung vermieden, die hätte verraten können, dass sie diese Stadt sehr gut kannte. Vor ihrem innerem Auge wurde nun ein Dienstzimmer im Verwaltungsgebäude am Heger Tor wieder lebendig. An dem Schreibtisch ihr gegenüber saß eine blasse Frau mit strähnigen Haaren und ausgemergelten Wangen: „Ich habe Angst vor meinem Mann. Ich will, dass er Markus und mich in Ruhe lässt. Wenn das hier vorbei ist, verlasse ich mit meinem Sohn das Land. Und ich hoffe, dass wir Horst dann nie mehr wiedersehen müssen.“ Bei diesem letzten Satz wurde die Stimme faserig und brach schließlich ganz. Sabine wollte die Frau jetzt nicht ansehen und tat so, als ob sie die eng beschriebenen Vordrucke las, während ihre blassrosa lackierten Fingernägel über die Blätter in dem grauen Leitz-Ordner strichen. „Frau Bäumer, ich werde sehen, was ich tun kann. In bestimmten Fällen ist es möglich, nach Aktenlage zu entscheiden. Wenn die Beweislage so eindeutig ist wie in Ihrem Fall, können wir vielleicht auf ein direktes Aufeinandertreffen vor Gericht verzichten.“
Sabine wusste nun wieder, woher sie Horst Bäumer und seine Ex-Frau Martina kannte. In Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit bei Städtischen Jugendämtern konnte sie sich einfach nicht alle Beteiligten von Sorgerechtsstreitfällen merken – schon gar nicht aus dieser Anfangszeit in Osnabrück, ihrer ersten Stelle, die nun schon so lange zurücklag (hörte man damals nicht Musik von BAP oder Klaus Lage?). Da sie lediglich Stellungnahmen zu verfassen hatte, blieb es oft bei einem einmaligen Kontakt. Ihr Gespräch mit Herrn Bäumer war nur kurz gewesen. Nachdem sie ihm die Sachlage, wie sie sich für Frau Bäumer darstellte, geschildert hatte, war er wortlos aufgestanden und gegangen. Er wirkte damals fülliger und hatte volleres Haar, außerdem trug er noch keine Brille, genauso wenig wie sie selbst, daran erinnerte sich Sabine jetzt wieder. „Es tut mir leid, Herr Bäumer. Offenbar haben Sie mich tatsächlich mit jemandem verwechselt. Ich möchte jetzt bitte gehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob sie sich an ihm vorbei Richtung Tresen. Im Gehen fingerte Sie einen Zwanzig-Euro-Schein aus Ihrem Portmonnaie und drückte ihn der dunkelblonden Bedienung zusammen mit ihrem Kassenbon in die Hand. Beim Gang durch die Tür vermied sie es, zurück zu blicken, obgleich sie wusste, dass er ihr hinterher sah. Draußen in der Fußgängerzone zwang sie sich, nicht zu rennen, ruhig und entschlossen bahnte sie sich ihren Weg zwischen einkaufenden Ehepaaren hindurch in Richtung Parkhaus. Als sie hinter dem Lenkrad saß, faltete sie die Hände und ließ ihre Stirn auf die vor Anspannung weißen Knöchel sinken. Mit geschlossenen Augen atmete sie mehrmals aus und ein, so tief es ihr möglich war. Sie fuhr zusammen, als jemand gegen das Seitenfenster klopfte. Ein Mann blickte sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, hörte sie die gedämpfte Stimme jenseits der Scheibe. Sie bemühte sich zu lächeln und nickte mechanisch, dann startete sie den Motor.
Die Bedienung kam auf Herrn Bäumer zu, der immer noch verloren im Gang stand und anderen Gästen den Weg versperrte, ohne es zu merken. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie einen Tisch? Für wie viele Personen?“ Er schien sie zunächst nicht wahrzunehmen, stand einfach nur da und schüttelte kaum merklich den Kopf. Der fragende Blick der Kellnerin holte ihn schließlich zurück in die Gegenwart. „Dann eben nicht“, murmelte er, grüßte ruckartig mit einem Nicken des Kopfes und verließ das Lokal.
Sabine gehörte nicht zu den Menschen, denen es unangenehm war, wenn sie sich an Namen oder Personen nicht erinnern konnten. Sie sah den Mann neugierig an und hob fragend eine Augenbraue. Da sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, ließ der Schlaks diese langsam sinken. Für einen Moment zuckte sein linker Mundwinkel unsicher, dann hatte er sich wieder gefangen: „Ich bin Horst Bäumer – Horsti, erinnerst Du dich nicht?“ Sabine erinnerte sich nicht. „Wir waren zusammen auf dem Schopenhauer-Gymnasium. Achte bis zehnte Klasse bei Frau Schoch, Von `76 bis `78. Na, klingelt jetzt was bei dir?“
Sabine war immer beeindruckt, aber auch stets ein wenig abgestoßen, wenn jemand vergangene Ereignisse augenblicklich mit den dazugehörigen Jahreszahlen verknüpfen konnte. Ihr selbst ging diese Fähigkeit komplett ab. Um sich zeitlich zu orientieren, versuchte sie, wichtige Daten ihres Lebens prägnanten politischen Ereignissen oder, wenn das nicht möglich war, wenigstens dezidierten musikalischen Epochen zuzuordnen. Ihre Eltern ließen sich beispielsweise im Jahr der Watergate-Affäre scheiden. Ihre eigene Ehe ging zu Bruch, als Gerhard Schröder Kanzler wurde. Und ihre Tochter verließ Deutschland in Richtung Argentinien als sich die Spice Girls auflösten.
Sabines Abneigung gegen jahreszahlenmäßige Kategorisierungen ging zweifellos auf eine Affäre mit Michael, dem Mathematiker aus der Finanzbuchhaltung, zurück. Ihre Ehe lag da schon in den letzten Zügen, mit ihrem Mann Robert sprach sie zu der Zeit kaum noch ein Wort (im Radio lief ständig „I don´t want to miss a thing“ von Aerosmith). Beim Weihnachtsessen der verschiedenen Abteilungen stellte sie dann überrascht fest, dass dieser im Alltag eher zugeknöpfte Hüne mit der Nickelbrille und dem blonden Vollbart überaus witzig und charmant sein konnte. Und in unvorsichtigen Momenten verrieten ihr seine Blicke klar und deutlich, dass er ihren Busen wirklich begehrenswert fand und sich redlich bemühte, Zugang zu ihrem BH zu erlangen. Es folgten heimliche Verabredungen nach Dienstschluss, und nachdem ihr von Treffen zu Treffen weniger Gründe einfielen, weshalb sie seine aufopferungsvollen Eroberungsbemühungen nicht genießen sollte, nahmen die Dinge in einer betäubend schönen Nacht kurz vor Heilig Abend ihren Lauf. Der Sex war schon beim ersten Mal überraschend sinnlich und zu berauschend, um es dabei bewenden zu lassen, außerdem recht unkompliziert zu organisieren, denn Robert war im Januar und Februar viel auf Dienstreisen (sagte er zumindest) und Michael wohnte nur ein paar Straßen entfernt. Das schlechte Gewissen ließ sich mit genügend Rotwein auf ein erträgliches Maß herunterpegeln. Da aber Michael offenbar den Ehrgeiz entwickelt hatte, ihr auch seine geistige Potenz mit Hilfe seines phänomenalen Zahlengedächtnisses zu demonstrieren, beendete sie das Ganze einen Tag nach dem Amoklauf an der Columbine Highshool.
Sabines Blick fiel auf die cognac-farbenen Schnürschuhe ihres Gegenübers, die kaum merklich, aber dennoch in ständiger Bewegung über den Boden scharten. Seine Stimme zwang sie, ihm wieder in die Augen zu sehen, die beinah unablässig zwinkerten. „Du – ich meine, Sie waren doch... also, natürlich waren wir zusammen auf dem Schopenhauer. Daran musst du dich doch erinnern, Sabine.“ Auf solch unbedachte Phrasen reagierte Sabine stets etwas gereizt. „Was ich muss oder nicht muss, das überlassen Sie doch bitte mir, mein Herr“, zischte sie eine Spur schärfer als beabsichtigt. Eigentlich war ihr der Mann nicht unsympathisch. Darum fuhr sie versöhnlich fort: „Ich war tatsächlich auf einem Gymnasium, allerdings keinem mit Namen Schopenhauer. Ich war auf der Droste-Hülshoff-Oberschule. Und da dies eine reine Mädchenschule war, werden wir uns dort kaum begegnet sein können.“ Im Gesicht des Brillenträgers zerbröckelte das Lächeln, was Sabine bedauerte. Er riss sich zusammen und versuchte zu retten, was noch zu retten war. „Ich könnte schwören, dass wir uns schon mal begegnet sind. Vielleicht war es ja woanders? Ich war auf der Uni in Hannover - Medizin. Wo haben Sie studiert?“ Sabine musterte ihn kurz von oben bis unten. Er sah nicht nach Mediziner aus, fand sie, eher nach 16 Semestern Kunstgeschichte ohne Abschluss. „Von Hannover kenne ich nur den Bahnhof als Zwischenhalt des ICE. Studiert habe ich in Trier – Verwaltungsrecht.“ Horst Bäumers Gesicht verlor zusehends an Farbe. „Das ist mir aber... also, nein, ich kann das nicht glauben. Wir sind uns bestimmt schon mal... Waren Sie nicht mit Martina befreundet, also meiner Frau, pardon, Ex-Frau, Martina Kusche?“ Er zuppelte dabei nervös an den Fransen seines Schals. „Herr Bäumer, es tut mir wirklich leid, aber ich bin offensichtlich nicht die Frau, die sie zu kennen glauben.“
Horsti startete einen letzten verzweifelten Versuch: „Wissen Sie, meine Frau und ich, wir sind nach dem Studium nach Osnabrück gezogen. Dort haben wir gebaut, in der Nähe, also Hassbergen, falls Ihnen das etwas sagt - waren Sie schon mal in Osnabrück? Es ist eigentlich ganz schön da. Es hieß ja sogar mal, dass dort die glücklichsten Deutschen wohnen. „Ich komm zum Glück aus Osnabrück“, das haben Sie vielleicht schon mal gehört...“ Er stockte kurz und sah sich um, befürchtete wohl, dass er unangenehm auffallen könnte, so stehend mitten im Cafe Welser. Die Gäste an den umliegenden Tischen schienen sich jedoch nicht dafür zu interessieren. Dennoch senkte er nun die Stimme und fuhr im Verschwörerton fort: „Wissen Sie, für uns war es leider keine Glücksstadt. Scheidung nach acht Jahren. Sie bekam das alleinige Sorgerecht. Markus, meinen Sohn, habe ich damals zum letzten Mal gesehen, das war 1986...“ Der schmale Mann hob mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig seine Brille und rieb mit der anderen Hand seine Nasenflügel. „1986... mein Gott, das ist ja wirklich schon sehr lange her“, entfuhr es Sabine unwillkürlich. Das Gesicht des Mannes verlor für Momente die Spannung, die Mundwinkel sackten wie von Gewichten beschwert nach unten. Sabine wandte ihr Gesicht zur Seite und ließ den Blick über die sorglosen Gäste an den zahlreichen Tischen schweifen. Die ersten Akkorde von Simply Red´s „Holding back the years“ mischten sich mit dem wabernden Klangteppich der lachenden Plauderer, denen es einfach nur gut ging. „30 Jahre werden es im Sommer“, hauchte Herr Bäumer so leise, dass sie es mehr ahnte als hörte. Und dieses Hauchen löste etwas in ihrem Gedächtnis, eine Erinnerung, die schon bei dem Wort „Osnabrück“ in leichte Bewegung geraten war und nun wie eine Lawine unaufhaltsam an Fahrt gewann. Intuitiv hatte sie jede Regung vermieden, die hätte verraten können, dass sie diese Stadt sehr gut kannte. Vor ihrem innerem Auge wurde nun ein Dienstzimmer im Verwaltungsgebäude am Heger Tor wieder lebendig. An dem Schreibtisch ihr gegenüber saß eine blasse Frau mit strähnigen Haaren und ausgemergelten Wangen: „Ich habe Angst vor meinem Mann. Ich will, dass er Markus und mich in Ruhe lässt. Wenn das hier vorbei ist, verlasse ich mit meinem Sohn das Land. Und ich hoffe, dass wir Horst dann nie mehr wiedersehen müssen.“ Bei diesem letzten Satz wurde die Stimme faserig und brach schließlich ganz. Sabine wollte die Frau jetzt nicht ansehen und tat so, als ob sie die eng beschriebenen Vordrucke las, während ihre blassrosa lackierten Fingernägel über die Blätter in dem grauen Leitz-Ordner strichen. „Frau Bäumer, ich werde sehen, was ich tun kann. In bestimmten Fällen ist es möglich, nach Aktenlage zu entscheiden. Wenn die Beweislage so eindeutig ist wie in Ihrem Fall, können wir vielleicht auf ein direktes Aufeinandertreffen vor Gericht verzichten.“
Sabine wusste nun wieder, woher sie Horst Bäumer und seine Ex-Frau Martina kannte. In Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit bei Städtischen Jugendämtern konnte sie sich einfach nicht alle Beteiligten von Sorgerechtsstreitfällen merken – schon gar nicht aus dieser Anfangszeit in Osnabrück, ihrer ersten Stelle, die nun schon so lange zurücklag (hörte man damals nicht Musik von BAP oder Klaus Lage?). Da sie lediglich Stellungnahmen zu verfassen hatte, blieb es oft bei einem einmaligen Kontakt. Ihr Gespräch mit Herrn Bäumer war nur kurz gewesen. Nachdem sie ihm die Sachlage, wie sie sich für Frau Bäumer darstellte, geschildert hatte, war er wortlos aufgestanden und gegangen. Er wirkte damals fülliger und hatte volleres Haar, außerdem trug er noch keine Brille, genauso wenig wie sie selbst, daran erinnerte sich Sabine jetzt wieder. „Es tut mir leid, Herr Bäumer. Offenbar haben Sie mich tatsächlich mit jemandem verwechselt. Ich möchte jetzt bitte gehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob sie sich an ihm vorbei Richtung Tresen. Im Gehen fingerte Sie einen Zwanzig-Euro-Schein aus Ihrem Portmonnaie und drückte ihn der dunkelblonden Bedienung zusammen mit ihrem Kassenbon in die Hand. Beim Gang durch die Tür vermied sie es, zurück zu blicken, obgleich sie wusste, dass er ihr hinterher sah. Draußen in der Fußgängerzone zwang sie sich, nicht zu rennen, ruhig und entschlossen bahnte sie sich ihren Weg zwischen einkaufenden Ehepaaren hindurch in Richtung Parkhaus. Als sie hinter dem Lenkrad saß, faltete sie die Hände und ließ ihre Stirn auf die vor Anspannung weißen Knöchel sinken. Mit geschlossenen Augen atmete sie mehrmals aus und ein, so tief es ihr möglich war. Sie fuhr zusammen, als jemand gegen das Seitenfenster klopfte. Ein Mann blickte sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, hörte sie die gedämpfte Stimme jenseits der Scheibe. Sie bemühte sich zu lächeln und nickte mechanisch, dann startete sie den Motor.
Die Bedienung kam auf Herrn Bäumer zu, der immer noch verloren im Gang stand und anderen Gästen den Weg versperrte, ohne es zu merken. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie einen Tisch? Für wie viele Personen?“ Er schien sie zunächst nicht wahrzunehmen, stand einfach nur da und schüttelte kaum merklich den Kopf. Der fragende Blick der Kellnerin holte ihn schließlich zurück in die Gegenwart. „Dann eben nicht“, murmelte er, grüßte ruckartig mit einem Nicken des Kopfes und verließ das Lokal.