Holunder (1. Teil)

Pinky

Mitglied
Vielleicht haarscharf am eigentlichen Thema vorbeigeschrammt, aber im Grunde doch genau das, was verlangt war. Sagen wir, eine kleine Erweiterung der Aufgabenstellung aufgrund schriftstellerischer Freiheiten ...


Es war einmal ein armer Mann, der hatte ungeachtet seines mangelnden Reichtums eine Frau, was man durchaus als Beweis für die Existenz von so etwas wie Liebe deuten könnte. Und diese Frau wurde schwanger ﷓ was man durchaus als Beweis für die Existenz von Sex in der Ehe deuten könnte. Und wie von schwangeren Frauen allgemein das Gerücht geht, es überfielen sie beizeiten sonderbare Gelüste, so mag diese Geschichte durchaus als Bestätigung solcher Gerüchte dienen ﷓ wenn auch nicht ausschließlich ﷓ denn die Frau des armen Mannes überfielen selbige. (Gelüste, nicht Gerüchte.)
"Mann!" sprach sie unter den großen Qualen der schweren Last, die sie mit sich trug. "Mich überfallen gar sonderbare Gelüste."
"Welcherart sollen die sein, mein Weib?" verlangte der Mann zu erfahren, denn es sorgte ihn gar sehr um das Wohlergehen seiner Gemahlin. Wer sonst hätte sich auch um den Haushalt kümmern sollen?
"Austern will ich schlürfen", bekannte sein Weib voll Verlangen. "Und dazu Kavier streichen auf Weißbrot aus der Provence. Krabben aus der Tiefsee will ich verschlingen und echte Trüffel in das zarte Perlen von Champagner tauchen. Und vielleicht ein Glas Tomatensaft."
Der arme Mann seufzte tief, denn er wusste wohl, dass er nie in seinem Leben auch nur genug Geld zusammenbekommen würde um auch nur eines der Dinge zu erstehen, die seine Frau da im Schwangerschaftswahn aufzählte. Aber er mochte ihr diesen Wunsch auch nicht abschlagen, denn immerhin trug sie sein Kind in sich und er liebte sie sehr, so beschloss er, eine Bank auszurauben.
Doch war der arme Mann nur ein einfacher Handwerker und hatte wenig Erfahrung darin, nachts in Banken einzusteigen ﷓ mochte er nachts schon nicht einmal in sein Auto einsteigen. So war es nicht verwunderlich, dass er, ratlos vorm Tresor stehend, vom Bankdirektor ertappt wurde.
"Was hast du hier verloren, Lump!" fuhr ihn der Direktor wütend an.
"Ach!" seufzte der arme Mann und drehte sich um. "Zu Hause geht mein geliebtes Weib mit meinem Kinde schwanger und gar sonderbare Gelüste überfielen sie, nach Austern und Krabben, Champagner und Weißbrot aus der Provence, und ich bin nur ein armer Mann und wusste nicht mehr ein noch aus, wollte ich ihr doch ihre Wünsche erfüllen. So dachte ich bei mir, hole ich mir etwas Geld von der Bank. Doch da ich wohl nur wenig kreditwürdig bin, blieb mir nur dieser Weg. Und nun bin ich ertappt und mein Kind wird ohne Vater aufwachsen."
Der Bankdirektor hatte Verständnis für den armen Mann, war er doch selber verheiratet und hatte drei Kinder und wusste somit gut, wovon dieser sprach. So sagte er:
"Ich will dir schon Geld geben, genug um die Wünsche deiner Frau zu erfüllen und dein Kind großzuziehen."
Der arme Mann mochte es kaum glauben. "Oh, Herr, Ihr seid zu gütig!"
"Doch nicht umsonst will ich das tun!"
"Was verlangt Ihr dafür?"
"Verkaufe mir den Namen deines Kindes. Ich will ihn auswählen dürfen."
"Das will ich gerne tun!" willigte der arme Mann ein, denn so schlimm konnte der Name ja nicht sein, dachte er bei sich.
So wurden sie sich also handelseins und der arme Mann kehrte, nun gar nicht mehr so arm, nach Hause zurück und dachte nicht weiter über die Folgen nach.
So vergingen die Monate und als die Zeit der Niederkunft gekommen war, gebar die Frau des armen Mannes einen gesunden, wunderschönen Knaben, auch wenn er sich nicht sonderlich von allen anderen Neugeborenen unterschied: verklebt und winzig.
Es geschah nur wenige Tage darauf, als der Bankdirektor auftauchte, um den Mann an ihre Abmachung zu erinnern. Dieser hatte seiner Frau bisher noch nichts davon erzählt und bekam nun natürlich ein fürchterliches Donnerwetter beschert, doch ein Handschlag war ein Handschlag und der Handel damit besiegelt, da half kein Schimpfen und kein Zetern.
"So soll der Junge von nun an den Namen meiner Bank tragen:" verkündete der Direktor. Und war es nun ein Akronym, die sonderbare Verbindung aus den Namen früherer Besitzer oder einfach eine unglückliche Laune der Natur, von diesem Tag an rief man den Jungen nur noch: "Holunder!"
Nur wenig konnten die unglücklichen Eltern mit diesem Namen anfangen, doch noch weit unglücklicher wurden sie, als sie erfuhren, was der gerissene Bankdirektor in den vergangenen Monaten getan hatte: Schlau wie er war ﷓ sonst hätte er es vermutlich kaum zum Direktor gebracht ﷓ hatte er den Namen seiner Bank als geschütztes Markenzeichen eintragen lassen, weshalb der Sohn des armen Mannes nun jedes Mal Gebühr hätte zahlen müssen, wenn er eine Unterschrift leistete (von dem hochgestellten TM hinter seinem Namen ganz zu schweigen). Die Kosten dafür wären im Laufe seines Lebens unerschwinglich geworden, und so gehörte das unschuldige Neugeborene nun mehr oder weniger offiziell der Bank. Da half den bedauernswerten Eltern kein Jammern und kein Klagen, denn einerseits war das Recht auf seiten des Bankdirektors (auch wenn es sich dabei mehr um Unrecht handelte) und andererseits besaß dieser mehr Geld und konnte sich damit mehr und teurere Anwälte leisten, während die armen Eltern nicht einmal genug für einen einzigen hatten. Und da es für solche Fälle nun einmal keinen Pflichtverteidiger gab, war auch ein Prozess bereits verloren bevor er noch hätte begonnen werden können.
Die Augen von einem triumphierenden Leuchten erfüllt, nahm der Bankdirektor das Kind an sich und schritt hämisch lachend davon.
...
(Fortsetzung folgt)
 
K

Kadra

Gast
Hallo Pinky!

Ich bitte sogar um Fortsetzung. Deine moderne Version der Rapunzel ist überaus gelungen und sinnvoll. Dir ist es gut gelungen, das Märchen in unsere Welt und die moderne Zeit zu transferieren und dabei den Sinn zu erhalten bzw. ihn mit neuen Inhalten zu füllen. Sehr schön!
Bin mal gespannt wie du die Kurve zu dem Geschlechterwechsel hinkriegst und wie es dem Jungen Holunder weiter ergeht...

Lieben Gruss von
Kadra
 



 
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