Hotel California

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Klaus K.

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Hotel California

Ich komme mir vor wie auf dem amerikanischen Highway, der an der kalifornischen Westküste von LA bis weit in den Norden reicht. Tatsächlich befinde ich mich auf einer deutschen Bundesstraße, die irgendwann dann zur Autobahn führt. Einspurig, Gegenverkehr, durchgezogene weiße Mittellinie, siebzig Stundenkilometer sind derzeit erlaubt.
Ich bin achtundvierzig, ich fahre genau diese Strecke beruflich hin und zurück seit zwanzig Jahren. Es ist kurz vor drei, nachmittags. Noch nie, noch nie vorher habe ich dieses Verkehrsaufkommen erlebt, es ist aber kontinuierlich schlimmer geworden, so befahren wie noch niemals vorher. Gleich, zu welcher Uhrzeit tagsüber. Die Dörfer, diese Nester im Hinterland müssen bevölkerungstechnisch explodiert sein, anders ist das nicht zu erklären. Alles nur wegen der relativen Nähe zur Großstadt?

Da! Eine Lücke im Gegenverkehr, der Typ hinter mir mit seinem Luxusschlitten schert aus, überholt mich und drückt sich vor mir wieder in die Spur! Ich muß bremsen, damit das möglich wird. Am Steuer ein aus dem Augenwinkel geschätzt achtzehn Jahre alter Rotzlöffel, mit der linken Hand das Smartphone am Ohr, die rechte Hand am Steuer. Einhändig überholt er, er fährt einen Jaguar, neuestes Modell. Blinker? Fehlanzeige, oder es fehlte ihm die dritte Hand. Freisprechanlage? Ich reiße mich zusammen, es ändert ja nichts. Nicht hupen, nicht gestikulieren. Die Welt ist verkehrt, aber sie ändert sich nicht. Ruhig bleiben. Unsere einspurige Kolonne zuckelt jetzt weiter, immerhin kein Stau. So ein Idiot, dieses Kerlchen vor mir. Was hat es ihm gebracht? Seine Wildkatze hat Beute gemacht, ach so. Danke für die Demonstration. Ich halte wie immer Abstand zu meinem neuen Vordermann, große Lücke, dicht aufzufahren bringt ja nichts.

Das Motorrad habe ich kaum gesehen. Der Typ hat das Überholverbot ebenfalls einfach ignoriert. Kaum vorbei an mir überholt er den Wildkatzen-Freund vor mir, dann noch ein weiteres Fahrzeug davor. Haarscharf vor einer Kollision mit dem dann erkennbaren Gegenverkehr, Lichthupengewitter für ihn. Mir bleibt nur der taube Eindruck in beiden Ohren, der jetzt wieder abklingt. Das Auspuffgeräusch der Maschine nachdem der Kamikaze-Fan vorbei war, unglaublich ist dieser Lärm, aber ohne ihn geht es offenbar nicht.

Der Jaguar vor mir überholt erneut seinen Vordermann, im Überholverbot. Aber das ist nicht alles, denn soeben versucht ein Kombi mit Anhänger an mir vorbeizuziehen. Ich erkenne zwei Personen, einen bärtigen Fahrer und auf dem Beifahrersitz eine Frau, ein über den Kopf gezogener Kapuzenpulli, dunkle Sonnenbrille und eine lange blonde Haarsträhne seitlich über dem Gesicht. Nur der Fahrer dreht den Kopf kurz zu mir, aus welchen Gründen auch immer. Ich bemerke das und tippe mit dem linken Zeigefinger an meine Stirn, ihn dabei kurz anschauend. Vollidiot! Überholverbot! Der Anhänger hat die Größe für einen Pferdetransport, ist aber erheblich flacher, ein geschlossener Kasten. Auf seiner Seite kann ich jetzt den Aufdruck "Hotel California" erkennen. Dann wird es anscheinend eng für den Fahrer, er beschleunigt, und das Ende dieses Anhängers beginnt ruckartig zu schaukeln. Die hintere rechte Ecke des Kastens streift dabei meinen Außenspiegel und reißt ihn krachend ab. Anhalten ist zwecklos, es ist unmöglich, und jetzt wird es richtig kritisch, denn der Wahnsinnige muß vor mir einscheren. Ich bremse notgedrungen ab, hoffe, daß mein Hintermann das registriert. Gerade noch mal gutgegangen, ich bin schweißgebadet. Mein neuer Vordermann setzt erneut zum Überholen an, ich fasse es nicht. Irgendwann ist er dann zum Glück nicht mehr sichtbar. Dieses Schicksal teilt aber leider auch mein linker Außenspiegel, der liegt zertrümmert irgendwo weit hinter mir.
Zehn Minuten später ein Stau, Schritttempo. Rechts am Straßenrand zwei Autos und einige Menschen. Eine Frau winkt uns vorbei, sie deutet gestikulierend an, schnell vorbeizufahren.
Ich erkenne mehrere Personen, ein völlig demoliertes Motorrad am rechten Fahrbahnrand und einen Mann, der über einem Zaun hängt, der eine Wiese begrenzt. Dieser liegt bäuchlings über einem Zaunpfahl, der sich durch seinen Oberschenkel gebohrt hat. Die Spitze des Pfahls ist deutlich erkennbar. Den Motorradhelm hat er noch auf. Ob es der Raser von vorhin ist, kann ich nicht sagen. Die Personengruppe um ihn herum telefoniert mit ihren Smartphones, die Frau vorne winkt unverändert hektisch die Fahrzeuge vorbei.

Dann erreiche ich die einzige Tankstelle auf der Strecke und halte dort an. Auf dem kleinen Parkplatz sehe ich den Kombi mit dem Anhänger, aber weder den Fahrer noch die Beifahrerin. Ich gehe zur rechten Seite des Anhängers um mir die Stelle dort anzusehen, die meinen Spiegel vernichtet hat. Vielleicht läßt sich noch etwas machen, etwas beweisen. Offiziell darf ich mit meinem Wagen ja wohl jetzt kaum noch fahren, aber sicher bin ich mir nicht. Ich beuge mich vor, um besser sehen zu können.
Die Schritte hinter mir habe ich noch gehört. Den Schlag selbst habe ich nicht mehr mitbekommen. Ich befinde mich jetzt auf dem Boden des Anhängers und bin gerade wieder zu mir gekommen. Wir fahren, und ich bin in diesem Kasten gefangen. Stehen kann ich nicht, der Boden des Anhängers ist auch wegen der Geschwindigkeit zu instabil und außerdem ist der Kasten dafür zu niedrig. An meinem Hinterkopf ertaste ich Blut an meinen Haaren. Was ist hier los?
Nach einer Stunde wird die Fahrt immer langsamer, die Strecke immer holpriger. Dann bleiben wir stehen. Ich höre Schritte und bevor ich etwas sagen kann wird die hintere Klappe bereits geöffnet. Der Bärtige steht vor mir, ein Bär von einem Mann.
"Komm' raus!"
"Was soll das? Wo sind wir?"
"Komm' mit!"
Ich habe keine Wahl. Ein älteres, alleinstehendes Haus auf einer Lichtung. Er stößt mich in den Rücken, öffnet dann vor mir die Tür, und wir gehen hinein. Ich stehe in einer Art Eingangshalle, rechts führt eine Treppe nach oben. Kaum Licht, eine eigenartige Atmosphäre, wenige Sonnenstrahlen aus der offenen Tür zu einem Nebenraum.
"Elvira!"
Der Bärtige ruft, oben auf dem Treppenabsatz erscheint die Frau mit dem Kapuzenpulli und der Sonnenbrille.
"Meine Schwester!" sagt er, und dann zu ihr "Komm' mal runter!"
"Uijuihui..." kommt von ihr.
"Nimm' mal die Kapuze und die Sonnenbrille ab, du weißt schon..."

Ich habe schon viel gesehen. Auch Horrorfilme, die ich dann aber sofort immer abgeschaltet habe. Die Frau streifte die Kapuze nach hinten, nahm die Sonnenbrille ab, die sie in der Hand behielt. Ich sah sofort, daß ein großer Teil ihres Kopfes völlig kahl war und nur ein Teil von den blonden Haaren bedeckt war. Der kahle Teil war rötlich verfärbt und wirkte deformiert. Und ihr Gesicht!
Das war kein Gesicht mehr, es war eine Fratze. Eine leere rechte Augenhöhle, ein von unzähligen Narben völlig entstelltes Stück eines ehemals normalen Gesichtes, mit einem überdimensionierten, jetzt schräg verlaufenden Mund. Dazu eine extrem verformte Nase mit zwei nach außen verlaufenden schmalen Flügeln.
"Meine Schwester Elvira. Sie hat vor Jahrzehnten einen Autounfall überlebt, bei dem sie mit dem Kopf voran durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde, damals vor der Gurtpflicht, und ohne heutiges Sicherheitsglas. Ihr Verlobter saß am Steuer und ist bei diesem Unfall gestorben. Ich kümmere mich um sie, stimmt's, Elvira?"
"Uijuihui...!"
"Ihr Sprachzentrum wurde dabei auch zerstört. Sie versteht alles, kann aber nur wenige Laute antworten!"
"Sehr schlimm, entsetzlich....Und was hat das jetzt mit mir zu tun?" frage ich, noch ahnungslos.
Der Bärtige blickt mich an. Ich ahne jetzt doch etwas, ich erinnere mich an den Aufdruck auf dem Anhänger. Hotel California! Wie endet das Lied? "You can check-out any time you like, but you can never leave"....Hoffentlich irre ich......
"Es ist sehr schwer, für sie überhaupt einen Partner zu finden. Ihr werdet jetzt erst einmal viel Spaß miteinander haben, nicht wahr, Elvira?"
"Uijuihui!"
 
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G

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Gast
Ein männlicher Sex-Sklave, uijuihui...!
Na, wenn das keine Geschwisterliebe ist, lieber Klaus. Heutzutage findet man so was ja kaum noch.;)
Und so, wie du deinen Helden gestaltet hast, wird er zwar schimpfen und fluchen, aber er wird versuchen, seine "Sache" ordentlich zu machen. Bis...
ja bis.....vielleicht verliebt er sich in die inneren Werte von Elvira?
Herrlich schräge Geschichte. Gern gelesen.
Ich wünsch dir ein schönes Wochenende
Judith
 

Klaus K.

Mitglied
@ Lord Nelson

Leider kann ich Dir auch nicht helfen, ich verstehe Dein Problem eigentlich auch nicht. Dein Namensgeber Admiral Nelson hat es sicher vor Calvi und später dann vor Trafalgar einfacher gehabt, denn er wußte ja bereits immer vorher, was er dort und auch generell zu tun hatte.- Bei unserem "Held" oben ist das nicht der Fall, da er ja erst einmal die Situation insgesamt erfassen und vor allem die traurige Leidensgeschichte einordnen muß.
Mit bestem Gruß, Klaus K.
 
Hallo Klaus K.,

klasse Geschichte mit einfallsreichem Schluss. Eigentlich vermutete ich, es würde in eine andere Richtung gehen - aber dem Protagonisten wollen sie ja gar nichts Böses...
Nur am Anfang ist mir die Geschichte ein wenig zu lang geraten mit der ausführlichen Beschreibung, was auf der Straße so los ist. Allerdings, gerade, als ich überlegte, was jetzt noch kommt, wurde es spannend.

LG SilberneDelfine
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

vielen Dank! Ja, der Verfall einer Gesellschaft, exemplarisch am Verkehrsverhalten festgemacht - m.E. ein passendes Beispiel - bis hin zum verunglückten Motorradfahrer als Einstimmung auf die daraus resultierenden Folgen, die ja dann mit der Schwester noch gruselig werden. Erst in Sicherheit wiegen (den Leser), dann "huuh"! Mit bestem Gruß, und bitte immer defensiv fahren! Klaus K.
 



 
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