Hunderttausend Pfund

Bo-ehd

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„Hunderttausend Pfund! Sie könnten Ihnen gehören“, sagte William Morris von Anderson & Morris mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Sie machen Scherze.“
„Keineswegs.“
„Und wen soll ich dafür umbringen?“
„Ich sagte es Ihnen bereits am Telefon. Sie müssen nichts anderes tun, als das neueste Modell unserer Safes zu knacken.“
„Hören Sie, Sir, ich war acht Jahre im Gefängnis, weil ich genau das gemacht habe. Seit knapp zwei Jahren bin ich draußen, und kein Mensch der Welt bringt mich wieder dazu, noch einmal hinter Gittern zu schlafen. Ich bin inzwischen auf anderen Geschäftsfeldern tätig, und es geht mir wirtschaftlich relativ gut. Warum sollte ich wieder anfangen, Safes zu knacken?“ Brian Coates gab sich ablehnend, obwohl ihn die hunderttausend Pfund nicht mehr aus dem Kopf gingen. „Warum kommen Sie ausgerechnet auf mich, Sir?“
„Sie haben den Ruf als unangefochtene No. 1 in England. Wenn einer es schafft, so versicherte man uns, ist es Brian Coates.“
Brian lachte. „Wusste gar nicht, dass man in diesem Job so populär werden kann. Sie wissen aber schon, dass ich früher jeden Safe geknackt habe. Auch Ihre!“ Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort. „Gesetzt den Fall, ich würde zustimmen, wie liefe das Ganze ab?“
„Warten Sie einen Moment.“ Morris griff zum Telefon und verlangte, dass Jeff Newman in sein Büro kommen soll. Der erschien auch kurz darauf. „Jeff, klären Sie Mr. Coates darüber auf, was wir vorhaben.“
Jeff setzte sich Brian gegenüber. „Mr. Coates, ich bin der Chef der Werbeabteilung des Konzerns Marsalis, zu dem auch der Tresor- und Automatenbauer Anderson & Morris gehört. Wir planen eine landesweit verbreitete Werbekampagne, in der es darum geht, ob die beiden renommiertesten Fachleute dieses Landes es schaffen, das neueste Modell unserer Serie „The Taurus Safe“ zu knacken. Anders ausgedrückt: Wir wollen unsere Safes promoten und demonstrieren, dass sie absolut sicher sind.“
Brian lachte laut. „Und wer soll der zweite Teilnehmer sein?“
„Sid Forshaw.“
Brian schüttelte den Kopf. “Da werden Sie wohl kein Glück haben. Sid sitzt im Gefängnis in Newcastle.“
„Er ist letzte Woche entlassen worden.“
„Oh!“ Sid und er kannten sich flüchtig, und jeder respektierte den anderen. Es hatte nie Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegebenen, was darauf zurückzuführen war, dass sie auf unterschiedlichem Terrain tätig waren. Brian hatte den Süden inklusive London „bearbeitet“, und Sid gehörten die Midlands und alles, was nördlich davon lag. „Und wie soll das Ganze vonstatten gehen?“
„Wir stellen zwei Taurus Safes Rückseite an Rückseite auf. An diesen Seiten befindet sich genau in der Mitte ein etwa 40x30cm großes Loch, das normalerweise für die Befestigung einer Stahlkonstruktion vorgesehen ist, die eingemauert wird. In dieses Loch legen wir einen Umschlag mit 100.000 Pfund, der von beiden Seiten erreichbar ist. Wer seine Tür zuerst öffnet, darf sich den Umschlag nehmen. Damit endet der Wettbewerb. Der Verlierer bekommt 2.500 Pfund Aufwandsentschädigung. Gibt es nach 60 Minuten keinen Gewinner, erhalten beide diese Summe.
Da dies eine Werbeveranstaltung ist, müssen beide Kombattanten danach für Interviews und Fotos zur Verfügung stehen.“
Bevor Brian etwas sagen konnte, ergriff William Morris das Wort. „Dass wir zu unserem Wort stehen, möchte ich Ihnen gern beweisen. Schauen Sie, was ich gleich in der Hand halte.“ Er nahm eine unverschlossene braune Versandtasche aus stabilem Karton aus einer Schublade seines Schreibtisches, griff hinein und holte zwei dicke Bündel Geldscheine hervor. „Hier ist das Geld. Es ist für Sie reserviert.“ Dann steckte er die Scheine wieder in den Umschlag, deponierte ihn in derselben Schublade und schloss sie ab
Beim Anblick der Scheine musste Brian tief durchatmen. Er erkannte sofort, dass die Chance, sie zu erlangen, gar nicht größer sein könnte. „Hört sich nicht schlecht an, Mr. Morris. Okay, meine Zusage haben Sie.“
„Gut“, zeigte sich Jeff Newman zufrieden. „Dann sehen wir uns am 24. 7. um 14 Uhr auf dem Firmenparkplatz. Dort können Sie den Taurus inspizieren und sich vorbereiten. Es sind übrigens alle Werkzeuge und Mittel erlaubt, um die Tür zu öffnen. Ausgenommen Sprengstoff. Das Ganze wird von einem Notar und dem Chef der hiesigen Polizei überwacht. Einige Kunden und Interessierte werden ebenfalls da sein. Und die Presse, aber das wissen Sie ja schon. Einen Tag später, also am 25. Juli um Punkt 16 Uhr, beginnt für Sie der Countdown.“ Das war in genau zwei Wochen.

*
Am 24. 7., einem Freitag, erschienen Brian und Sid zur Inspektion der Safes. Sie stellten sofort fest, dass in der Zeit, in der sie einsaßen, die Schlösser weiterentwickelt worden waren: Die Verriegelung war zweifach gesichert, mechanisch, wie sie es gewohnt waren, und zusätzlich elektronisch. Dazu befand sich außen ein Bedienfeld mit den Zahlen 0 bis 9 und ein weiteres mit den Buchstaben des Alphabets. Beide klopften mit kleinen Hämmern die Türen von oben bis unten ab, legten ein Stethoskop an das Metall und machten sich Notizen. Danach lauschte jeder dem weichen Klicken des Zahlenschlosses. Mehr war ihnen an diesem Tag nicht gestattet. Es folgte die Vertragsunterzeichnung.
Einen Tag später eröffnete William Morris mit einer kurzen Ansprache das Spektakel. Er stellte die beiden Kombattanten vor, berichtete von ihren Erfolgen und ihrer Erfahrung und erklärte dem Publikum, es waren etwa 80 Personen erschienen, noch einmal kurz die Regeln. Dann packten Brian und Sid ihre Werkzeuge aus. Es waren Spezialzangen, Hebelwerkzeuge mit unterschiedlichen Krümmungen, Hochleistungs-Bohrmaschinen, Metallfräsen und ein Schneidbrenner. Sid klappte zusätzlich seinen Laptop auf. Dann gingen sie an die Arbeit. Brian versuchte, die Stahltür mit konventioneller Technik aufzubrechen, während Sid das Zahlenschloss abhörte, im 10-Sekunden-Takt Daten in seinen Laptop eingab und mit zwei KI-Programmen versuchte, hinter die Zahlenkombination zu kommen.
Die Minuten verrannen, und das Publikum schaute interessiert zu, wie die beiden Profis mit höchst unterschiedlicher Herangehensweise das Problem zu lösen versuchten. Nach einer Viertelstunde wurde Sekt gereicht, und je mehr Zeit verging, desto mehr erlangte die Veranstaltung den Charakter einer unterhaltsamen Show.
Als die Hälfte der Zeit abgelaufen war, waren bereits alle Geräte zum Einsatz gekommen, ohne dass eine Aussicht auf die Öffnung der Türen bestand. Verzweifelt traten die beiden einen Schritt zurück und überlegten, welche Möglichkeiten ihnen noch zur Verfügung standen. Sogar die KI, auf die Sid so sehr gesetzt hatte, war nicht in der Lage, die spärlichen Daten erfolgreich zu verarbeiten. Sie gaben schließlich nach einer dreiviertel Stunde auf, ließen sich aber nichts anmerken und taten so, als würden sie fieberhaft nachdenken, was die Schlösser so „unknackbar“ machte. Minuten später kam der erlösende Abpfiff.
Die Reporter der heimischen Presse hatten während des Versuchs schon ihre Beiträge geschrieben – eine Version, wie sie es schafften, eine zweite, wie sie erfolglos blieben. Da fehlten nur noch zwei Portraitfotos und eine Aufnahme, wie sie die Aufwandsentschädigung in Empfang nahmen. Das Bild zeigte sie mit einem Glas Sekt in der Hand. Ihre Gesichter strahlten trotz des Misserfolges eine gewisse Zufriedenheit aus. Der Stundenlohn von 2.500 Pfund war ja so schlecht nun auch wieder nicht.
Am Nachbartisch fanden sich Morris, der Polizeipräsident sowie der Notar ein, um die Sache rechtlich abzuschließen. Morris zitierte Newman herbei, und als dieser neben ihm stand, wies er den Werbechef an, die 100.000 Pfund in einem Safe im Gebäude zu deponieren. Er ergriff mit zwei Fingern die perforierte Leiste zum Öffnen des Umschlags, zog sie auf und griff hinein, um die banderolierten Scheine zu entnehmen. Und noch während sich seine Hand in dem Umschlag befand, sagte er mit kreideweißem Gesicht: „Das kann nicht sein!“
Was er hervorholte, waren keine Geldscheine, sondern die zerschnittenen Seiten der Zeitschrift „Hof und Garten“, Ausgaben 3, 4, und 5 des vergangenen Jahres.
 
Hallo Bo-ehd,
wie erwartet, originelle Grundidee, sauber ins Finale gebracht. Ich hätte mir für die Schlusspointe eine kräftigere 'Prise Bo-ehd' gewünscht.
Herzliche Grüße.
Horst
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Horst,
ich gebe dir Recht: die Pointe ist nicht spektakulär, und man hätte sie nicht einmal auffälliger machen können, weil der Stoff das nicht zulässt. Was man unbedingt mit einbeziehen muss, ist Brians Aussage
Ich bin inzwischen auf anderen Geschäftsfeldern tätig, und es geht mir wirtschaftlich relativ gut.
Diese Ankündigung gibt der Sache noch eine besondere Würze.
Gruß Bo-ehd
 



 
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