Husarenherz Eins

… Das ist der beknackteste Titel, den ich je gehört habe“, sage ich. Aber lasst mich von vorn beginnen.
Ich war noch niemals in New York. Das muss nachgeholt werden. Und schnell. Also Notebook aufgeklappt – eigentlich ist es ja nie zugeklappt – New York bei YouTube eingegeben, und los geht es.
So fangen die schlechten Storys an.
Und wenn sich jetzt hier einer aufregt, dass ich über New York schreibe, ohne je da gewesen zu sein, da werfe ich einfach mal einen Namen in die Runde. Karl May. Ebenfalls nie Amerika betreten und das Land nur anhand Meyers Konversationslexikon bereist und sich trotzdem getraut, darüber Bücher zu schreiben. Viele Jahre später war er dann aber doch mal da.

Und wenn sich einer wundert, warum ich die Zitate so sehr eingedampft habe, erwidere ich darauf: „So packend sind die „Wanderungen“ nun auch wieder nicht.“

Big Apple
Der Po von dem Mädchen ist mollig. Kein Wunder, bei der engen Leggins. Sie hat eine schwarze Hautfarbe, so wie fast alle auf dieser Straße. Ich hatte „Bronx“ bei You-Tube eingegeben und dieses Video erwischt. Das Mädchen strahlt Selbstbewusstsein aus, wie viele der jungen Frauen hier auf der Straße. Sie will es besser machen als ihre Mutter, die fünf Kinder von fünf Männern hat, von denen noch nicht eines seinen Vater gesehen hat.

Plötzlich wird mir klar, dass ich ihr Leben nicht haben möchte. Um mich in dem Leben von ihr durchzusetzen, fehlt mir das Know How. Ihr Dasein ist bestimmt geprägt von Gewalt durch die Männer.
Von denen sitzen in einem anderen Video haufenweise an den Straßenecken rum. Die Kapuzen tief in die Stirn gezogen. Sie sehen nach Drogen aus.
Ich frage mich, wie wohl die Filmaufnahme entstanden ist. Die Leute auf der Straße hier machen nicht den Eindruck, als wenn sie Bock darauf hätten, gefilmt zu werden. Das kann ja nur mit einer getarnten Kamera passiert sein. Vielleicht eine winzig kleine, die in die flache Hand passt. Ich beame mich da mal kurzerhand in die Straßenszene rein.

Wozu habe ich früher sonst immer mit meinem besten Kumpel Star Trek sehen müssen? Gruselig. Ich kann immer noch nicht verstehen, wie es sein kann, dass da irgendjemand was dran findet. Aber er arbeitet damit ein frühes Trauma ab, dass in der Schulzeit entstanden ist, wo er der einzige in der Klasse war, der bei dem Thema Star Trek nicht mitreden konnte. Sein Vater verbot, Westen zu kucken. Er kommt aus der Gegend um Eberswalde, auch in der Mark gelegen, wo seine Eltern, beide Lehrer wie meine, an einer Internatsschule für die Kinder der Diplomaten arbeiteten, deren Eltern im Ausland waren.
Er hatte eine harte Kindheit mit viel körperlicher Gewalt wie ich auch. Wahrscheinlich waren wir deshalb Freunde.

Ich bin die einzige Weiße hier. Keiner, auch die Hellhäutigen, hat nicht wenigstens einen winzigen Stich ins Schokoladige.
Ein Bleichgesicht aus dem Ausland, dass sich hier nicht auskennt, dass sehen mir die Jungs auf der Street sofort an. Sie rufen Slang Ausdrücke. Das klingt nicht freundlich. Mit ihnen ist nicht zu spaßen. Hier fehlt mir Streetcreditibilty. Jetzt, allein im kalten New York, kommt Sehnsucht nach dem heimischen Spreeathen bei mir auf.

Die mich kennen werden sagen: „Mach mal ´nen Punkt. Du bist doch gar nicht aus der Gegend hier, lässt aber den Lokalpatrioten raushängen.“
Denn Berlin ist gar nicht meine Heimat. Ich stamme aus Mecklenburg Vorpommern. Wenn mich einer fragt: „Wo bist du her?“, sage ich aber immer: „Ich bin aus Berlin“. Meine Kindheit und Jugend im Norden habe ich kurzerhand verdrängt.
Das ich nicht die Einzige bin, die das so handhabt, erfuhr ich erstaunt aus der Autobiographie von Jennifer Weist, einer Popsängerin, die seit langem Berlinerin ist. Auch sie schlechte Erfahrungen mit der norddeutschen Heimat, übrigens Zinnowitz.
Eigentlich sollte ich ja aus maritimem Liedgut wie diesem hier Überlebensmut in der Wildnis, die New York für mich ist, ziehen:

Wie blau ist das Meer, wie groß kann der Himmel sein,

ich schau' hoch vom Mastkorb weit in die Welt hinein.
nach vorn geht mein Blick, zurück darf kein Seemann schau'n,

Kap Horn liegt auf Lee, jetzt heißt es auf Gott vertrau'n

Aus La Paloma
Filmsong in „Große Freiheit Nr.7“

Wer das annimmt, liegt daneben. Anstatt mich mit Versen zu erden, die sich um die christliche Seefahrt drehen, murmele ich jetzt - allein im feindlichen New York, Auge in Auge mit einer Gang - gebetsmühlenartig vor mich hin:

Karwe gehört den Knesebecks, Wustrau dagegen ist berühmt geworden als Wohnsitz des alten Zieten. Sein Sohn, der letzte Zieten aus der Linie ... bestand bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts aus vier Rittergütern, wovon zwei dem General von Dossow, eins den Zietens und eins den Rohrs ...
„Was hat die Frau gebissen?“, werden jetzt die Leser denken. Aber ich muss mich, verunsichert und aus dem Gleichgewicht gebracht wegen der ungewohnten New Yorker Umgebung, an irgendwas Vertrautem festhalten. Und was gibt es Bodenständigeres als „Die Wanderungen durch die Mark“ von Fonte.

So nennen sie in Brandenburg ihren Fontaneclub. Habe ich von einer Freundin, die dort wohnt. Ist ein bisschen despektierlich aber auch liebevoll, wobei das Letztere überwiegt. Im „Fonte“ sitzen die, die sich in Brandenburg für Intellektuelle halten. „Ich hab ja nichts dagegen, dass sie Ahnung von Modern Dance und Experimentalfilmkunst haben, wenn sie sich bloß nicht so viel darauf einbilden würden“, sagt meine Freundin.

Ein Äquivalent zu mir, die lost in New York ist, wäre jetzt ein Ami, der sich verlaufen hat in Spreeathen, und dem langsam ein bisschen mulmig wird in in der Gegend rund um den Hermannplatz, wo tätowierte Muskelprotze, die nach Kampfsport und Rockerbanden aussehen, an den Straßen rumstehen, und dem Worte von Walt Whitman aus „Leaves of Gras“ in den Sinn kommen, während er orientierungslos in Neukölln umherstreift:

Zu Fuß und fröhlichen Herzens schlage ich die freie Straße ein,
Gesund, frei, vor mir die Welt; … Fortan verlang' ich kein Glück; ich selbst bin das Glück.


... Meine Abzeichen sind ein regendichter Rock, feste Schuhe und ein Stab, im Walde geschnitten.

Ich bin zwiegespalten bei den „Wanderungen“. Einerseits haben sie mich mit der Umgebung meiner Wahlheimatstadt vertrauter gemacht. Andererseits, was gibt es Öderes und Langweiligeres als diese endlose Aufzählung von Rittergütern und den Lebensläufen ihrer Besitzer, aus denen sie ja hauptsächlich bestehen. Als Lieblingslektüre für Oberlehrer im Ruhestand gelten sie vielen.

Da ist der gute Fonte 30 Jahre mit Wanderstock um Berlin herumgelaufen und hat seine Nase in muffige Gruften und Kirchenbücher gesteckt. Zutage getreten ist nicht die „Gute“ alte Zeit, sondern nur ewige Kriegereien, in denen das Leben der Soldaten aber auch das der Rittergutsbesitzer, die meist Offiziere waren, sinnlos verplempert wurde.

Wenn jetzt einer denkt, er kann mal die Seele baumeln lassen, und, um sich von den ganzen Kriegen,die es zur Zeit gibt, abzulenken, in den „Wanderungen“ blättern, wird er schnell eines Besseren belehrt. Auch da wird ständig Schlachtengetümmel beschrieben. Andauernd sind sie marschiert um eine Eckchen von Frankreich zu erobern, einen Zipfel von Polen.
Die haben sich das natürlich nicht gefallen lassen, und nach einer Weile war Besitzerwechsel angesagt. Da machte die Bevölkerung im Laufe der Zeit zu Doppelsprachlern, und in Berlin saßen ein Haufen Einbeiniger an der Straßenecken rum und baten um Almosen. Die Anderen dagegen moderten in ihren Gräbern.

Inmitten einer Ansammlung von ärmlichen Katen mit niedrigen Dächern lag ein, je nachdem, etwas größeres Gebäude, das sogenannte Schloss, auch wenn die Bezeichnung dafür häufig zu geschönt war. Es war meist zugig und schwer beheizbar und total überdimensioniert. Ein Park durfte natürlich auch nicht fehlen, auch wenn sie mitten in der herrlichen Mark lebten.
Sie haben viel Mühe und Geld darauf verwendet, eine ursprüngliche Landschaft zu domestizieren, immer diese abgezirkelten Beete, aber die Natur nahm sich wieder alles zurück, wenn den Besitzern das Geld ausging, spätestens zu DDR-Zeiten, als die Parks als Symbol einer untergegangenen Gesellschaftsordnung galten und stiefmütterlich behandelt und geschliffen wurden.

Lustig finde ich, dass sie immer alle ein Teehäuschen hatten und eine Orangerie. Was haben sie dort wohl getrieben. Nur Tee getrunken und Orangen gezüchtet? Kann ich nicht glauben.
Hier wohnten die Rittergutsbesitzer, in meinen Augen Leuteschinder, denen das Land gehörte, und für die die Anderen arbeiten mussten.
Ihre Kinder schickten sie natürlich nicht in die Dorfschule, sondern ließen sie von Privatlehrern unterrichten und später teure Internate besuchen oder sendeten sie auf die Kadettenschulen, um sie auf die Laufbahn im kaiserlichen Militär vorzubereiten. Dieser ganze Landadel, über den Fonte schreibt, befand sich im Niedergang.

Ich glaube, die Leute haben die Monarchie abgeschafft, weil sie einfach keine Lust mehr hatten, den ganzen kaiserlichen Hofstaat durchzufüttern mit seinen Märchenhochzeiten, baufälligen Schlossanlagen, teuren Parks und habgierigen Konkubinen.
Die Weimarer Republik kam 1918, nur fünfzehn Jahre später die Diktatur. Irgendwas lief schief mit der Novemberrevolution. Der Teufel wurde mit dem Beelzebub ausgetrieben. Der Kaiser hat ja noch Glück gehabt, weil sie ihm kein Haar gekrümt haben. Was die Bolschewiki mit der Zarenfamilie veranstaltet hat, schockt mich dagegen.

Hier in der Gegend um Berlin scheint es ja von verarmten Adeligen nur so gewimmelt zu haben. In der Revolution von Neunzehnhundertachtzehn haben sie ihre Privilegien verloren. Aber auch schon vorher konnten sie sich nur schlecht über Wasser halten.
Habe ich aus Briefen von Bettina von Arnim an ihren Mann, deren Güter in Wiepersdorf bei Berlin nicht viel abwarfen.
„Woher kennst du denn die Dame? Ist ja voll Oldschool“, werden viele sagen. Von Bettina von Arnim habe ich das erste Mal was gehört im Radio, als sie was vorlasen aus Goethes „Briefwechsel mit einem Kinde“. „Mann, hat die Fantasie“, dachte ich bewundernd.



"Wenn du hier so´nen Harten machst, wegen den „Wanderungen durch die Mark“, wie sieht es aus. Kennst du die Mark Brandenburg eigentlich selbst außer von Buchseiten - heute sagt man offline -?", wird man mich fragen. Die Antwort: "Leute, ihr habt mich durchschaut. Ich hab die Hauptstadt wirklich kaum mal verlassen."

„Früher war alles besser“, werden jetzt manche, nachdem sie mitgekriegt haben, dass hier jemand über die Gegend um Berlin schreibt, die er kaum kennt, auf dem Papier in einer Millionenstadt in Übersee umherstreift, der er sich noch nicht einmal im Ansatz genähert hat, höchstens durch das Aufrufen von You-Tube-Videos, wie den auch, man hat ja Flugangst und Last not Least, noch nicht mal etwas studiert hat, was irgendwie in die Richtung Historiker, Kulturwissenschaftler oder sowas Ähnlichem geht, denken. „Fontane war auch bloß Apotheker“, kontere ich darauf.

Ich habe zwar studiert, aber was ganz anderes. Drei Jahre Getreide-und Mischfuttertechnologie an der Humboldt. Beim Bewerbungstraining riet man mir, in meinen Lebenlauf reinzuschreiben: ohne Abschluß. Früher hatte ich das Studium immer einfach unterschlagen, weil ich fand, dass einem das den Nimbus einer verkrachten Existenz verlieh. Immer, wenn ich davon jemanden erzählt habe, änderte er darauf sein Verhalten und schaute mich stattdessen merkwürdig an. Seitdem erzählte ich vorsichtshalber niemanden mehr was.

Bei manchen Autoren ist es vielleicht besser gewesen, dass sie rechtzeitig von der Uni geflogen sind oder noch nicht einmal ihr Abi fertig gemacht haben. Ihr Ton wäre sonst wahrscheinlich zu akademisch geworden. So ging es Charles Bukowski, Henry Miller, Hans Fallada, Hermann Hesse.
Waren einfach kein Typ für die Uni.

Ein Ergebnis ihres Rauswurfs aus diesen Bildungseinrichtungen war ja auch, dass sich ihre Bindungen an ihre bürgerliche Herkunft lockerten, und sie ihren anerzogenen Dünkel verloren und nicht mehr so klassenbezogen dachten.

Jetzt, auf mich allein angewiesen in New York, wird mir klar, warum Thomas Mann – er war übrigens im Gegensatz zu Fonte wirklich mal in Übersee, wenn auch unfreiwillig - im Exil seinen deutschesten Roman schrieb. Den „DocFaustus“ über das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn. Der Grund dafür war, dass ihm in seiner neuen Heimat ein Identitätsverlust drohte.

Er spürte, er ging hier im Exil seiner Wurzeln verlustig.
Um das abzuwenden, hielt er sich ausgerechnet an den Stoff, der jedem Schüler zu seinem Leidwesen – meistens – nur zu bekannt war. Faust. Von Goethe. Nach einer urdeutschen Saga. Außerdem gab ihm sein Buch, das nur sehr locker an den Urfaust anknüpft, die Gelegenheit, sich ausgiebig dem deutschen Kunstlied zu widmen. Man denke nur an „Der Knabe, der früh sein Bein verlor.“ Verse, die der Musiker Adrian Leberkühn vertont.

Ein Stützpfeiler des Bildungsbürgertums und fest in ihrer Hand. Beim Kunstlied trennt sich die Spreu vom Weizen. Da resignieren viele Möchtegernmusikenthusiasten.
Da tritt zutage aus welchem Stall man kommt, und ob man wirklich mit Hausmusik aufgewachsen ist, und eine Tante Opernsängerin war, wie man behauptet, um in gewissen Kreisen akzeptiert zu werden. In Wirklichkeit gab es weit und breit kein Musikinstrument, noch nicht mal einen Plattenspieler. Und keiner hatte je etwas von Alban Berg und Strawinsky vernommen.

Für mich als Heranwachsende, die die Stones liebte, ebenfalls ein Schrecknis. Mir ist nie klargeworden, warum diese extrem künstlich wirkenden Gesänge irgendwas mit Volksmusik zu tun haben sollten.
Und ausgerechnet durch meine Lieblingsserie „Cheers“ ist bei mir der Knoten geplatzt. Ich meine die Folge, wo Rebecca denkt, dass sie zu einem Kammermusikabend eingeladen ist.
Stattdessen soll sie im Schürzchen hinter dem Tresen stehen und Wein ausschenken. Jeder Fan wird wissen, was ich meine. Mit einmal gefielen mir die Lieder von Gustav Mahler. Seitdem habe ich ein Faible für das Kunstlied entdeckt.


Vielleicht hat er, der ein schlechter Schüler war, den Faust genauso wenig gemocht wie ich. Jetzt aber, im kalifornischen Exil, bei drohendem Identitätsverlust – er lebte unter englischsprachigen Menschen, verstand die aber nicht – hielt er sich an diesem Symbol des Urdeutschen fest, das die Faustsaga ja darstellt
Eventuell mochte er noch nicht einmal Kunstlieder. Aber jetzt in der Ferne erfüllten sie den gleichen Zweck wie diese Saga.

Und jetzt konnte Thomas Mann sich auch endlich austoben, was altertümliche deutsche Sprachschöpfungen anbelangt und obskure Wortschöpfungen genüßlich zelebrieren.
Fast als wenn er ein Altphilologe wäre, dabei hatte er noch nicht mal Abi geschafft.
Er hielt sich regelrecht daran fest, um seiner Identität nicht verlustig zu gehen.
Auch das Leben der deutschen Musikgenies, die in ihre Umgebung nur schlecht reinpassten, Schubert, Schumann, Beethoven und wie sie alle hießen, - wo sind die bloß heute alle, wir Deutschen hatten ja mal die Nase vorn - wird am Beispiel von seinem Held, einem Komponisten, exemplarisch behandelt.

Hemingway schrieb ja auch in einem Café in Paris über Fischfangen in Michigan.

Ich habe mal „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Bretano gelesen und war geschockt, weil alles so traurig war. Gefühlt jedes dritte Gedicht handelt davon, wie ein Mädchen von ihrem Liebsten schwanger verlassen wurde und in den Brunnen springen muss.
Ich habe gehört, dass von Arnim und Brentano in den gesammelten Liedern rumgepfuscht haben und alles geglättet haben nach dem Geschmack des Zeitgeistes. Schade. Ich hätte gern mal die sperrigen Originale gelesen.

Wir Deutschen haben das Pech, dass wir eigentlich gar keine echte Volksmusik haben. Wo ist sie eigentlich hin? In Amerika dagegen fuhren Enthusiasten wie Alan Lomax mit einem Auto, in dem ein Aufnahmegerät war, fast so groß wie der Wagen, vor hundert Jahren die Blueshochburgen im Mississippiedelta ab.
Auf einer Tonaufnahme, die in einem Bahnhofsgebäude stattfand, ist sogar noch das Fauchen der Lokomotive zu hören. Diese alten Zeugnisse der schwarzen Musik kann man heute auf der Plattform der Library of Congress Washington, D.C., hören.

Die Iren sind ebenfalls ein sehr musikalische Völkchen, wovon sogar noch allerhand in die Rockmusik reingeschwappt ist. Rory Gallager ist ein Beispiel, auch Thin Lizzy. In Marokko brannte Keith Richards ja mit Anita Pallenberg durch, als Brian gerade die Flötenmusik der Ureinwohner aufnahm. Das Album heißt „Pipes at Joujouka“.

Auch der Schriftsteller Paul Bowles hat in Marokko die Musik der Einwohner gesammelt.
Rembetika dagegen, die Musik von Griechen, die lange in der Türkei gelebt hatten, und nach dem Ersten Weltkrieg wieder zurückmussten, habe ich durch eine Sendung im Radio kennengelernt.
Die Zuschauer waren leichte Mädchen mit ihren Zuhältern, ehrbare riskierten ihren Guten Ruf. Wenn einem die Musik gefällt, bewirft man die Musiker mit Geschirr. Merkwürdig.

Und dann die Sufimusik der Türken und Araber, wo mal einer bei Dieter Bohlen im „Supertalent“ war. Ich versteh bloß nicht, wie die Leute das machen, mit der ewigen Dreherei. Alle haben sie ihre Musik.

Bloß wir Deutschen sind musikalisch so total im Arsch. Hat das irgendwas mit den Germanen und Hermann dem Cherusker zu tun. Vielleicht hatten sie schon damals keinen Sound im Ohr, wenn sie am Lagerfeuer gesessen haben und Met getrunken haben.

Durch den Siegeszug der amerikanischen und englischen Musik hat Eigenes an Bedeutung verloren, und vielen einheimischen Künstlern rannten die Fans weg. Einfach, weil sie so viel besser war. Was ist bloß in diese schmalen Studitypen gefahren, dass die mit einmal solche Musik gemacht haben? Dylan, Neil Young, Brian Jones und wie sie alle heißen.
Wie kam so ein Talent plötzlich über sie? Ihre Eltern sehen total normal aus. Fällt einem auf den Fotos auf, gerne bei Beerdigungen von ihren Söhnen und Töchtern, die eine Überdosis abgekriegt haben.
Mit dem Talent, das sie hatten, kamen sie ja gar nicht klar.


Ich bin mal wieder zu weit abgeschweift. Zurück zu meiner nächtlichen Wanderung durch die Bronx.
Ich war gerade an der Stelle: „Wustrau, wie viele märkische Besitzungen, bestand bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts aus vier Rittergütern, wovon zwei dem General von Dossow, eins den Zietens und eins den Rohrs“,
da geschah etwas, womit ich nie gerechnet hätte. „Germany?“, ruft mir einer der schwarzen Männer fragend zu. Ich nicke. „Berlin“.

Da ergänzt er: „Wann die Zietens in den teilweisen Besitz von Wustrau gelangten, ist nicht mehr sicher festzustellen. Ebensowenig kennt man das Stammgut der Familie. In der Mark Brandenburg befinden sich neun Ortschaften, die den Namen Zieten, wenn auch in abweichender Schreibart, führen. Als die Hohenzollern ins Land kamen, …

Ich traue meinen Ohren nicht. So eine präzise Textkenntnis habe ich noch bei niemandem erlebt. Fontefans hätte ich hier in der Bronx nicht erwartet. „Das ist aus den Wanderungen“, sage ich. „Woher kennt du Fontane?“ Er erwidert lachend: „Ich habe ihn in der Bibliothek von Sing Sing kennengelernt.“ Dann, als er meinen ängstlichen Gesichtsausdruck sieht, ergänzt der Mann: „Ich habe bloß Spaß gemacht.

Ich bin Hip-Hop-Künstler. Mein Großvater Samuel Goldstück, den alle Goldi nennen, kommt aus Berlin. Sie hatten ein Ferienhaus in Chorin.
Er hat eine Kiste voll Bücher mit auf die Flucht vor Hitler genommen. „Mensch Fonte“, denke ich. Hier in Amerika wirst du mehr gelesen als zu Hause. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, sagt man ja.

Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sie in der Bronx so versessen auf die „Wanderungen durch die Mark“ sind. Nie hätte ich gedacht, dass sie hier so dermaßen angesagt sind und zwar nicht als der letzte aber doch als heißer Scheiß gehandelt werden.
Der Hip-Hopper ruft mir noch nach: „Du must meinen Opa kennenlernen. Er flippt aus, wenn er einen echten Berliner trifft.“ Was er sagt, geht mir zu einem Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Was interessierte mich dieser Goldi.

Williamsburg
Ich spaziere weiter. Williamsburg. Hier gefällt es mir schon viel besser als in der Bronx. Bärtige Männer mit Kaftanen und Schläfenlocken eilen an mir vorbei.
Durch das ganze virtuelle Herumstreifen in den Straßen der Stadt beschleicht mich irgendwie ein Gefühl der Verlassenheit. Die vielen Imbisse an den Straßenecken erscheinen mir als Anlaufpunkte für Einsame.

In einem Imbiss trinke ich einen koscheren Kaffee. Der Mann hinter der Bar redet mich an. „Du bist bestimmt aus Deutschland.“ Als ich bejahe, legt er los: Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt ... kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier.
Das ist der Stechlin, der See Stechlin.

„So fängt Th.Fontanes gleichnamiger Roman an“, erwidere ich.

Erst jetzt wird mir klar, dass das Bild über dem Tresen diesen See zeigt. „Wie kommt das denn hierher?“, frage ich. Er darauf: „Dieses Gemälde hat meine Familie auf ihrer Flucht begleitet. Sie waren Berliner, wie auch der Mann dort in der Ecke.“ Ich folge seinem Blick Ich erblicke ein uraltes Väterchen, dass in dem Café ganz hinten sitzt. „Ich bin Samuel Goldstück. Alle nennen mich Goldi“, sagt er und gibt mir die Hand.
Das ist ja ein Zufall, denn seinen Enkel habe ich schon in der Bronx getroffen.

Es stellt sich raus, dass er früher Stücke für die Broadwaytheater geschrieben hat. „Keines hat mehr als drei Aufführungen erlebt“, sagt er traurig. Sein letztes Projekt, eine Wanderung durch die Mark Brandenburg als Musical, konnte er gar nicht erst realisieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die „Wanderungen“ den richtigen Musicalstoff abgeben und sage es ihm auch. Er antwortet: „Ich mache mir da keine Sorgen. Du must unseren Autor kennenlernen. Er kriegt alles hin. Wir konnten einen weltberühmten Schriftsteller für das Libretto gewinnen.“ Den Namen will er mir nicht verraten.
„Ich hatte es mir so schön vorgestellt. In der Verfilmung sollte Brad Pitt dann den ollen Ziethen spielen und Leonard di Caprio seinen Sohn Major ...“ „Hat der den überhaupt einen Sohn der Major war?“, wundere ich mich. „Die haben immer einen Sohn der Major war“, gibt er zurück. „Und damit versaut sich Brad Pitt ja sein Image als jugendlicher Liebhaber“, meine ich. „Ach was, für den ist das die beste Gelegenheit, endlich ins Charakterfach einzusteigen.“

So spricht Samuel, ein Mann vom Fach. Ich darauf: „Wie hießen ihre anderen Stücke eigentlich so, denen nicht viele Aufführungen vergönnt waren?“
„Da hätten wir „Am Ruppiner See“, dann „Ziethens Regiment“, „Junker Fritz“, „Die Klosterkirche“. Ich denke betroffen: „im Grunde hat hat hier jemand seine Heimat nie verlassen.“

Die Juden haben ja schon immer ein Händchen für die leichte Muse gehabt. Solche lustige Operette wie „Im weißen Rösl“ und ist ja auch von einem von ihnen. Damit haben sie natürlich auch Mitschuld an den ganzen verlogenen Ufa-Filmen, wo immer ein Milionär das Dienstmädchen heiratete, was bestimmt viele unserer Großmütter- bzw. Urgroßmütter für bare Münze genommen haben.
Künstlich erschaffene Welten der Sorglosigkeit, und später kam das dicke Ende. Hitler. Sie wurden Opfer ihrer eigenen Lügen. Viele, der in die USA Geflüchteten machten in der Traumfabrik Hollywood mit dem leichten Quatsch weiter, obwohl sie es eigentlich besser wussten. Aber von etwas mussten sie ja leben.

Das Mädchen, dass kellnert, bringt uns noch einen koscheren Kaffee. „Ich bin die Tochter vom Besitzer“, sagt sie. Wir leben in einer chassidischen Gemeinschaft. Glaube nicht das, was die Medien dir weismachen wollen. Ich kann lesen, was ich will und auch ins Kino gehen.“
Da habe ich schon ganz was anderes gehört. Ich hab da was von blickdichten Strumpfhosen gelesen und dass sie die Straßenseite wechseln mussten, wenn Männer ihnen entgegegenkamen.

Die Autorin Deborah Feldmann – Unorthodox -, eine Aussteigerin, die ihre chassidische Glaubensgemeinschaft in Wiliamsburg verließ und jetzt in Berlin lebt, erzählte auch, dass sie sogar harmlose Kinderbücher verstecken musste, da es nicht erlaubt war, weltliche Literatur zu lesen. Filme waren auch verboten. „Ich verstehe aber meine Verwandten. Sie warfen sich vor, nicht streng genug nach den Regeln des Talmud gelebt zu haben, und dass als Strafe der Holocaust sie ereilte. Nach Amerika geflüchtet, wollten sie alles besser machen.“
„Erzähl mir von der Mark Brandenburg“, bittet Goldi. „Als Berlinerin besuchst du bestimmt öfter die Umgebung deiner Stadt und kannst uns ein lebendiges Bild von den heutigen Zuständen dort geben.“

Er will alles wissen über die Mark, wo er seine Kindheit verbracht hat. Obwohl ich schon etliche Jahre in Berlin wohne, sind meine Kenntnisse über die Umgebung eher bescheiden. Er aber ist begierig darauf, mit jemandem zu reden, der seine Heimat kennt. „Na ja“, beginne ich zögernd. „Ich glaube, du machst dir zu optimistische Vorstellungen über meine Reiseaktivitäten in die nähere Umgebung der deutschen Hauptstadt.“
„Fang endlich an. Irgendeinen von den beschriebenen Orten in den Reisetagebüchern wirst du schon kennen.“
Als Erinnerung an die Heimat hat Gold immer ein sehr gekürztes Exemplar bei sich und schlägt es auf gut Glück auf. „Zur Gedächtnisstütze. Ich war in den Dreißigern das letzte Mal da. Was fällt dir zu dem hier ein?“

In alten, wendischen Zeiten stand hier ein Dorf namens »Wustrow«, eine hierlandes sich häufig findende Lokalbezeichnung. Als die Deutschen ins Land kamen, ...wurden beide Worte durch ein angehängtes »hausen« germanisiert, und Deutsch und Wendisch Wusterhausen waren fertig.

Ich darauf: „Wisst ihr eigentlich, wie der echte Berliner, der ja als maulfaul gilt, zu diesem Ort sagt? Ich hatte mal einen Kommilitonnen, der von dort war und wunderte mich, warum er meine Frage nach seinem Heimatort lapidar mit KW beanwortete. Das war das erste Mal, dass jemand diese Kleinstadt in meiner Gegenwart erwähnte. Von ihm stellte sich nach der Wende auch heraus, dass er bei der Stasi war.
Sogar hauptamtlich. „Wo hat eigentlich die Stasi in KW residiert?“, fragte ich mich.
Die Dependance von Horch und Guck, einmal auch sein Arbeitplatz, befand sich genau gegenüber der Kirche, damit sie sehen konnten, wer da ein- und aus ging, antwortet mir Herr WWW. Mit dem Teleobjektiv fotografierte er die Leute, die dort ein und aus gingen, durch die Gitterstäbe vor den Fenstern, manchmal machten sie auch Filmaufnahmen, wie bei Kirchentagen.

Und dann die beiden Mädels. Ich lernte sie kennen, als ich auf dem Nordbahnhof, dem Briefverteilungszentrum von Berlin in der Eberswalder in Prenzlauer Berg, mit ihnen gemeinsam sortierte. Zwei Freundinnen aus Königs-Wusterhausen, die fast jeden Tag zur Nachtschicht kamen.
Wir erhielten unser Geld am Morgen nach der Arbeit. Wie ich hatten auch sie zur Zeit keine Festanstellung und lebten von der Hand in den Mund.
Die eine Freundin hatte die andere und deren Sohn aufgenommen und aus einem seelischen Tief gerettet, als die nach der Scheidung in einem Dillema steckte und nicht wusste wohin. Die Beiden gingen durch dick und dünn. Noch nie hatte ich so eine Freundin besessen. Ich wurde fast neidisch. Es war richtig angenehm, mit den Beiden zusammenzuarbeiten, denn sie strahlten eine so intensive Freundschaft aus, dass sich davon auch etwas auf mich übertrug.

Vielleicht ein Jahr später traf ich die eine der Beiden mal in eben diesem Königs Wusterhausen wieder in der Bahnhofskneipe, wo ich mit ein paar Kumpels gelandet war, auf der Durchreise zu einem Konzert.
Sie hatte einen Mann bei sich. „Was macht deine Freundin?“, fragte ich sie. Sie, die total verändert wirkte, ich hatte sie als sehr aufgeschlossen kennengelernt, antwortete missmutig: „Die ist jetzt in Frankfurt/Oder, wo sie einen Freund kennengelernt hat. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“ Mir war klar, dass es aus war zwischen den Beiden. Ich dachte: „Wie kann an bloß so eine geniale Freundschaft aufgeben? Wenn das mal nicht ein Riesenfehler war.“ Sowas geht oft in die Brüche, wenn ein Mann ins Spiel kommt. Frauen favorisieren immer ihre Beziehungen zu Männern.

Er examiniert mich weiter: Goldi blättert in seinem Buch. Werneuchen Inmitten des Barnim, halben Wegs zwischen Berlin und Eberswalde, liegt das Städtchen Werneuchen. Ich sage Städtchen, um dem Lokalpatriotismus einzelner seiner Bewohner nicht zu nahe zu treten, die das Beiwort »Stadt« für ironische Übertreibung ...

Ich komme mir langsam blöde ausgefragt vor, aber antworte höflich darauf: „In Werneuchen war ich noch nie, aber ich habe bei einem Open-Air mal einen Punk kennengelernt, der dort wohnt. Er war gerade von seiner Frau verlassen worden und suchte Trost. „Tröstetest du ihn“, fragt Goldi. „Nein“, antwortete ich. Er darauf: „Ihr Berliner Weiber seid kalt. Daran kann ich mich noch gut erinnern, auch wenn ich schon in den Dreißigern dort weg bin. Ihr seid alle wie Mathilde aus „Mathilde Möhring“ von Fontane, die sich durch Schläue einen Mann eroberte, den sie gar nicht liebt.“


„Was sagt dir das hier?“, fragt mich Goldstückchen und liest mir vor:
Diese Ziegeninsel liegt am Südende des Sees und ist Privateigentum, ...
Früher, wenn die Tradition recht berichtet, war das Terrain zwischen dem Amtshof und der Insel mehr Sumpf als See, so daß ein Steindamm, eine Art Mole, existierte, die hinüberführte; der Parsteiner See aber, im Gegensatz zu anderen Gewässern der Mark, wuchs konstant an Wassermenge,


Ich antwortete: Vom Parsteiner See habe ich schon viel erzählen gehört, kenne ihn selber aber nicht. Mein ehemalig bester Kumpel, übrigens der, mit dem ich immer Star Trek sehen musste, kommt aus der Gegend. Er ist Survival-Fan.

Obwohl er und seine Freundin wenig Geld hatten, bestellte er Anfang der Neunziger ein teures Faltboot aus Schweden. Jetzt mussten sie jede Monat eine Rate bezahlen. Als das Boot kam, mitten im Winter, wollte er es unbedingt ausprobieren. Er und eine Freundin von uns, seine musste auf das Kind aufpassen, fuhren mit dem Zug zu diesem See, es war klapperkalt.
Dort bauten sie das Boot zusammen und fuhren über den Parsteiner zu der Insel im See. Angekommen übernachteten sie in Schlafsäcken und machten ein Lagerfeuer. Seither waren alle der festen Überzeugung, dass dort auf der Insel bei Minusgraden was zwischen den Beiden gewesen sein muss.

Weiter geht es:
An der Grenze der Grafschaft Ruppin, aber mit ihrem Hauptbesitzstande schon der Uckermark angehörig, liegt die große, mehr als 20 000 Morgen umfassende Herrschaft Liebenberg.
Über die Vorgeschichte von Dorf und Schloß Liebenberg, die der Herrschaft den Namen gaben, ist wenig bekannt ..


Libertas Schulze Boysen, eine Widerstandskämpferin der Roten Kapelle. Als sie verhaftet wurde, saß sie im Zug nach Liebenberg, wo sie auf dem Landgut der Großeltern aufwuchs. Auf dem Schloß hatte sie die Kindheit verbracht. Sie wusste wohl, dass sie dort nie ankommen würde. Als sie sie in die Prinz Albrecht Straße brachten, wo die Gestapo residierte, verriet sie alle.


Heute haben wir bloß noch Fotos von ihnen. Man schaut in die Gesichter der Widerstandskämpfer und in die Gesichter der Mörder und hofft, aus ihren Gesichtszügen irgendwas rauslesen zu können, was einem erklärt, warum sie so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Und man tappt ins Leere, weil die Gesichter ihr Geheimnis nicht preisgeben.

Goldi blättert weiter im Buch: NeuruppinRuppin hat eine schöne Lage – See, Gärten und der sogenannte »Wall« schließen es ein. Nach dem großen Feuer, das nur zwei Stückchen am Ost- und Westrande übrigließ (als wären von einem runden Brote die beiden Kanten übriggeblieben), wurde die Stadt in einer Art Residenzstil wieder aufgebaut.

Hier kann ich punkten. In Neuruppin bin ich schon gewesen. Ein Open-Air in den Achtzigern, noch vor der Wende. Donnerstag Metal. Freitag Punk.
Nach dem Punkkonzert fiel mir auf, dass der Keyboarder der letzten Band, der noch dabei war abzubauen, richtig angeekelt auf das bunte Gewimmel vor der Bühne blickte. „Er mag uns gar nicht“, dachte ich. Nach der Wende, als die Akten geöffnet wurde, stellte sich raus, dass er festangestellter Mitarbeiter der Stasi im Offiziersrang war. Aber auch die Sängerin der Band war von der „Firma“. Ich weiß nicht, ob sie voneinander wussten.

Am Sonnabend Nachmittag, als schon alles zu hatte, spricht sich rum, dass es noch einen Russenladen gibt, der noch auf ist. In dem Laden, wo ich Blinys kaufe, und der zu einer Garnision der Sowjets gehört, sitzen Offiziersfrauen an der Kasse, und rechen mit ihren mechanischen Rechenbrettern schneller als die elektrischen Kassen.

Nächste Textstelle aus den Wanderungen: vergeht kein Sonntag, wo nicht Scharen von Besuchern den Brieselang umschwärmten. Aber die Tausende, die kommen und gehn, begnügen sich damit, den Zipfel seines Gewandes zu fassen; die Parole lautet nicht »Brieselang«, sondern »Finkenkrug«.

Finkenkrug; daher kommt doch die Dichterin Gertrud Kolmar, die im Holocaust ermordet wurde. Mir geht gerade durch den Kopf, warum ein Jüdin wohl Gertrud heißt. Vielleicht als Anbiederung an die Deutschen. Hat ihr aber nichts genützt. Ein Bekannter, der auch aus Finkenkrug stammt, hat von ihr noch nie was gehört. „Nicht mal im Deutsch- oder wenigstens im Geschichtsunterricht?“, frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf. Die Lehrer müssen gepennt haben. Da wohnte nebenan schon mal eine bekannte Dichterin. „Warum haben eigentlich so viele jüdische Frauen ewig bei ihren Eltern rumgehangen und sind so etwa ähnliches wie alte Jungfern geworden?“, frage ich mich. Gertrud Kolmar ja auch, genauso wie die Berlinerin Nelly Sachs, ebenfalls Dichterin.

Das Brieselanger Licht ist eine Sage über eine verlorene Seele, die im Walde spukt. Davon habe ich das erste Mal etwas in „Nine Eleven“ gehört, einer Radiosendung, eigentlich einer Talkshow, auf Energy, die von Daniel Melcer moderiert wurde. Leider gibt es die Sendung schon lange nicht mehr.
Das Lustigste, was ich je gehört habe. Ein Hörer rief an und erzählte ihm von dem Brieselanger Phänomen.
Ab der Zeit wurde die Sendung einfach in den dunklen Wald von Brieselang verlegt und Moderatoren und interessierte Zuhörer, die dorthin gereist waren, gingen zusammen auf die Jagd nach dem geheimnisvollen Licht.

Goldi liest vor: Pfaueninsel! Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs; Papageien kreischen; Pfauen sitzen auf hoher Stange oder schlagen ein Rad, Volièren, Springbrunnen, überschattete Wiesen; Schlängelpfade, die überall hinführen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark.

Da bin ich auch schon gewesen, als Küchenhelferin bei der Weißen Flotte in der Achtzigern. Ein Kumpel, der Punk war, hatte mir erzählt, dass dort tageweise Abwäscher gesucht werden. Das Büro war am Treptower Ufer, dort wo die Kähne liegen. Ich hatte Glück und wurde genommen für zwei Tage.
Eine Knüppelei sondergleichen. Kein Wunder, dass sie dafür keine festen Kräfte fanden. Als das Ausflugsboot anlegte, sagte mein Chef zu mir: „Du hast eine Stunde Pause und kannst ein wenig auf der Pfaueninsel umherspazieren. Daher kenne ich diese Insel.

Endlich hat Fonte mal was abgewandert, was ich gut kenne. Goldi: Es regnet, und am Ende mit Recht. Schreiben wir doch den 19. November! Wer mag da Sonnenschein fordern, wenn es ihn lüstet, den Charlottenburger Schloßgarten zu besuchen. Was von den Menschen gilt, gilt auch von den Tagen; man muß sie nehmen, wie sie sind.
Da ist das »Knie«. Seine Rundung ist heute völlig reizlos. Das »Türkische Zelt« sieht noch untürkischer aus als gewöhnlich,


Ich erwidere darauf: „Als mein Freund eine Wohnung in der Mierendorfstraße am Keplerplatz bekam, bemerkten wir auf dem Stadtplan in der Nähe von ihm große grüne Gebilde. Sah nach einer Menge Parks aus. So lernte ich auch das Schloß und den Charlottenburger Park kennen. Ab da hingen wir beiden Turteltäubchen ständig im Park rum.

Wir verabschieden uns. Er ruft mir noch hinterher: „Und „Mathilde Möhring“ war sein bestes“. Das unterschreibe ich doch glatt. Ein Schriftsteller schreibt im Laufe seines Lebens einen Haufen Schmu, aber etwas davon wird bleiben. Bei den meisten. Bei obengenanntem „Fonte“ auf alle Fälle „Mathilde Möhring“ - die Handlung ist schnell erzählt: einem armen, aber schlauen Mädel aus dem Berliner Kleinbürgertum gelingt es mit Hilfe ihrer Intelligenz sich einen Studenten zu angeln. Leider wird er nicht alt. Mit ihrer Witwenpension geht sie an ein Lehrerinnenseminar -. Bei den anderen Sachen weiß ich nicht so recht. Und ich habe eigentlich alles? von ihm gelesen.

Ich las das Buch wieder und wieder. Warum eigentlich? Erst später ist mir klargeworden, dass „Mathilde Möhring“ mich unbewusst an meine Mutter und mich erinnerte. - Für Uneingeweihte: Der bettelarmen Mathilde gelingt es durch Menschenkenntnis, ihren Untermieter zu einem Heiratsantrag zu bewegen. - Das nahm sich nicht viel. Dieselben kleinbürgerlichen Verhältnisse. Dieselbe Denkweise und auch bei uns die Abwesenheit von Männern. Am fand merkwürdigsten ich, wie sie sich aus den Teeblättern des Untermieters noch einen zweiten Aufguss machen.

Irgendwie dachte ich, dass ich mir später auch durch List und Tücke jemanden kapern muss. Das erwartete meine Mutter von mir. Später wurde mir klar, dass sowas nur funktionieren kann, wenn man nicht liebt. Nur dann kann man jemanden manipulieren. Der Liebende kann das gar nicht, da der Charakter des Anderen für ihn was Geheimnisvolles, schwer zu Erfassendes hat, sprich, dass er ihn nicht durchschauen kann.

Jetzt, nachdem mir Goldi zum Abschied: „Mathilde war sein Bestes,“ hinterhergerufen hatte, fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, an wen mich die Berliner mit ihrer Mentalität immer erinnert haben als ich hierher zog. An Mathilde. Sie sind fast alle wie „Mathilde Möhring“ aus der gleichnamigen Erzählung von Fonte. Denselben Pragmatismus, den ich aus dem Buch kannte, habe ich später, als ich mich hier ansiedelte, auch erlebt. Eigentlich ist B eine Stadt, die keine großen Künstler hervorgebracht hat. Alle kamen von außerhalb.

Der Grund ist das übermäßig praktische Sinn der Berliner. Die übersteigerte Hingewendung zum Nützlichen ist bestimmt geschuldet den engen Hinterhauswohnungen, denen sie entsprungen sind, in denen seit Generationen Familien mit vielen Kindern leben, die sich um jedes Stück Brot balgten.
Um durchzukommen mussten sie clever und auf dem Kien sein. Aber alles praktisch zu sehen, treibt einen Künstler nicht auf schöpferische Gipfel. Im Gegenteil. Er muss bereit sein, sich zu verschenken, ohne was dafür zu fordern.
Oder bin ich da ungerecht, und die Leute aus meiner Heimat in Mecklenburg sind genauso. Wahrscheinlich erwartet man bei soviel Berliner Wortgewandtheit nicht, auf so einen Kleingeist zu treffen.

Central Park
Ich habe die Nase voll davon, auf belebten New Yorker Straßen herumzulaufen und ständig geschubst zu werden. Central Park, ich komme, Google Street View sei Dank. Dort ist ja jeder Winkel des Parks zu besichtigen. Ich kenne ihn aus dem Buch „Der Fänger im Roggen“ von Salinger und von dem Video „Simon und Garfunkel“ im Central Park, das mir ein Kumpel geborgt hat.
War übrigens ganz gut, auch wenn Simon und Garfunkel schon lange nicht mehr so mein Ding sind
.

Gleich mal nachgeforscht mit Street View.
Das Wohnhaus von Salinger in der Park Avenue gibt es immer noch. Von da aus brauchte er nur schnurgerade über die Straße und dann immer der Nase nach. Hoffentlich verfolgt mich Fonte nicht auch bis hierher. Ich traue ihm alles zu. Ich finde einen Teich mit Enten.
Ob das der berühmte See aus dem „Fänger im Roggen“ ist. Ich setze mich auf eine Bank am Ufer.

Zu mir gesellt sich ein großer, weißhaariger Mann. „Germany?“, fragt er mich. Warum sehen mir das bloß alle an, denke ich. Ich bejahe seine Frage. „Berlin“, sage ich. Darauf er: Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten. Man kann nichts Lieblicheres sehn als dieses Lehde. …
„Warum denken die Amis bloß, dass wir alle Fonte lieben?“, geht es mir durch den Kopf. „Warum sprechen sie so gut Deutsch?“, frage ich ihn. „Ich heiße J.D.Salinger. Im Krieg war ich in Deutschland stationiert“, gibt er zurück. „Dort erlitt ich infolge des Kriegstraumas einen Nervenzusammenbruch.
Während der Behandlung entdeckte ich in der Bibliothek die Bücher von Fonte, die mir dabei halfen, mich wieder zu erden.“ „Dann ist das wohl doch der kleine See aus dem „Fänger“, denke ich. „Was machte der denn hier? Er sitzt doch normalerweise in einer Hütte im Wald und legt das Gewehr an auf jeden, der sich ihnen nähert“, denke ich.

J.D. palavert inzwischen ungezwungen weiter: „Ich bin zur Zeit nur hier, weil ich am Broadway ein Musikal über die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ inszeniere. Außerdem hatte ich Sehnsucht nach dem Central Park, in dem ich als Junge Fahrrad gefahren bin und mit meiner großen Liebe, Oana, spazieren gegangen bin. Sie hat später Charlie Chaplin geheiratet, als ich im Krieg war“.

Ich frage ihn: „Und wie dachtest du dir die Handlung von dem Musical „Wanderungen durch die Mark“?
„Der Mittelpunkt das ist die Liebesgeschichte zwischen einem Freiherrn aus dem Geschlecht derer von Knesebecks und einem Dienstmädchen, deren Vater in Wirklichkeit ein Hohenzollern-Prinz ist.
Die dramatischte Szene spielt auf dem Ruppiner See, wo sie sich ins Wasser wirft und alle rausfahren und die Zappelnde wieder in Boot ziehen. Im Hintergrund eine geheimnisvolle Klosterruine. Und ein ebensolcher Turm, in dessen Verließ noch Spannendes passieren wird“, antwortet er.

„In den „Wanderungen“ fehlt mir aber erheblich der Spannungsbogen“, erwidere ich. „Was noch nicht ist kann ja noch werden“, antwortet bedeutsam J.D.
Er fügt hinzu: „Wir treffen uns heute nach Mitternacht am Bühneneingang des Majestic Theatres. Der Pförtner ist der Sohn von einem Kriegskamerad, mit dem ich im Hürtgenwald gekämpft habe. „Warum so heimlich?“, frage ich. Er darauf: „Der Theaterdirektor traut uns nicht zu, das das Stück ein Knaller wird. Deshalb müssen wir uns einschleichen, um zu proben.“ Er schenkt mir ein dünnes Büchlein. "Das ist das Rollenheft. Lies es aufmerksam durch. Vielleicht hast du ja noch ein paar Ideen."

Broadway
Stunden später. Es ist dunkel geworden. Wen seh ich da den nächtlichen Broadway heraufschlendern. Samuel Goldmann. Auch er mit von der Partie. Wir warten noch eine Weile auf J.D. Als er eintrifft, gehen wir am Pförtner vorbei, der uns grüßt und mit uns einen langen Gang entlangläuft, der zur Bühne führt. Der Pförtner schaltet das Licht an. „Ihr könnt heute aber nur bis morgens um drei proben, dann kommen die Putzfrauen.“ „Hört uns hier wirklich keiner?“, frage ich. „Keine Sorge. Es ist keiner mehr im Haus. Wir sind hier völlig allein. Die Theaterkantine hat zur Coronazeit pleite gemacht.“

wird fortgesetzt
 
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