Ich

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Nein, mehrmals. Aber wie heißt sie? Wer ist sie? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht erinnern.
Sie ist freundlich zu mir. Sie stellt mir das Essen hin.
Lächelt mich an. Spricht mit mir. Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.

Ich werde wach, weil ich ganz nass bin. Warum? Ich weiß es nicht. Aber ich finde es schrecklich.

Die Frau ist wieder da. Sie zieht mich aus, sie wäscht mich, sie hilft mir, wieder trocken zu werden. Ich fühle mich wohl.

Aber am nächsten Tag will ich fort. Ich muss etwas erledigen. Sie lässt mich nicht gehen. Sie redet auf mich ein. Aber ich verstehe sie nicht. Ihre Augen blicken jetzt ernst. Und traurig.
Warum ist sie traurig? Ich glaube, ich weiß den Grund. Sie hat keinen Mann. Er ist bestimmt tot.
Ich frage sie. Sie sagt, er ist nicht tot. Er lebt. Er ist der Vater ihrer Kinder. Sie behauptet sogar, dass dieser Mann mein Sohn ist.

Das setzt sich bei mir fest. Ich habe einen Sohn. Plötzlich gibt es einen Blitz in meinem Kopf. Ich kann mich erinnern. Ja, ich habe einen Sohn. Ich weiß sogar seinen Namen. Walter!

Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder. Eines geht mit mir spazieren, ein anderes hilft mir auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein oder liest mir vor. Wie heißen diese Kinder? Ihre Gesichter sind vertraut. Angst habe ich nicht vor ihnen.


Wer sind sie?

Und wer bin ich?
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Eine bewegende Geschichte mit etwas zu vielen „Ichs“.

Mir ist durchaus bewusst, dass die Botschaft des Textes den Blickwinkel eines Menschen zeigen soll, der dement immer mehr ins Vergessen abgleitet und externe Reize kaum noch zu deuten weiß. Der Text und der Titel sollen durch diese extreme „Ich“ – Form den Kampf dagegen aufzeigen. Das ist in Bezug auf die Psychologie der Schilderung durchaus legitim und vermittelt Dramatik, stört aber etwas den Lesegenuss.

Deshalb mein Tipp: Überdenke den Text nochmal hinsichtlich der Eliminierung von der Einen oder Anderen „Ich“ – Wiederholung, ohne dabei die gewollte Fixierung auf dieses Wort zu verlieren.

Ansonsten ein anspruchsvoller Kurztext, der eine Krankheit thematisiert, die uns hoffentlich allen erspart bleibt.

Gern gelesen grüßt … der Ironbiber
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Nein, mehrmals. Aber wie heißt sie? Wer ist sie? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht erinnern.
Sie ist freundlich zu mir. Sie stellt mir das Essen hin.
Lächelt mich an. Spricht mit mir. Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.

Werde wach, weil ich ganz nass bin. Warum? Ich weiß es nicht, fühle mich aber schrecklich.

Die Frau ist wieder da. Sie zieht mich aus, sie wäscht mich, sie hilft mir, wieder trocken zu werden. Das ist eine Wohltat.

Aber am nächsten Tag will ich fort, denn eine Erledigung wartet. Aber die Frau lässt mich nicht gehen. Sie redet auf mich ein. Aber ich verstehe sie nicht. Ihre Augen blicken jetzt ernst. Und traurig.
Warum ist sie traurig? Ich glaube, ich weiß den Grund. Sie hat keinen Mann. Er ist bestimmt tot.
Ich frage sie. Sie sagt, er ist nicht tot. Er lebt. Er ist der Vater ihrer Kinder. Sie behauptet sogar, dass dieser Mann mein Sohn ist.

Das setzt sich bei mir fest. Ich habe einen Sohn. Plötzlich fährt eine Erinnerung wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ja, ich habe einen Sohn, weiß sogar seinen Namen. Walter!

Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder. Eines geht mit mir spazieren, ein anderes hilft mir auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein oder liest mir vor. Wie heißen diese Kinder? Ihre Gesichter sind vertraut. Angst habe ich nicht vor ihnen.


Wer sind sie?

Und wer bin ich?
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Biber, habe einige Ich entfernt und mich bemüht, die Aussagen nicht wesentlich zu verändern.
Wir können nur raten, was in einem solchen Menschen vorgeht. Im gezeigten Stadium denkt er noch nach. Später nicht mehr - vielleicht ist er dann in seiner Welt glücklich. Eventuell sogar glücklicher als "Normale". Wer weiß?

Vielen Dank für die Anmerkungen und die Bewertung.
 

anbas

Mitglied
Ein guter Text, der meiner Meinung nach aus der Anoymität herausgeholt werden sollte.

Liebe Grüße

Andreas
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Jetzt nach der „Ich“ – Begradigung, die dir recht gut gelungen ist, bin ich auch der Meinung von Andreas, dass dieser Text einen Namen und ein eigenes Stühlchen in einer Parzelle unserer grünen Laubenkolonie verdient. Etwas besorgt bin ich noch beim Gedanken an die Reaktion der Leser und Kritiker, da dies nun mal keine Schonkost ist, sondern aktive Gedankenarbeit beim Lesen voraussetzt. Aber das würde ich einfach mal drauf ankommen lassen.

Gruß vom Ironbiber
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Vielen Dank für die positiven Reaktionen. Die Verbesserung des Textes ist laut Ironbiber gelungen - jetzt gefällt mir der Titel noch nicht so ganz, ursprünglich lautete er "Wer bin ich?"
"Ich" erscheint mir irgendwie zu wenig.

Um eine Verschiebung zur Kurzprosa habe ich gebeten.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Doc,

ich könnte mir vorstellen, den Text noch deutlich zu verkürzen, ohne ihm wehzutun.
Ein Vorschlag dazu:

Ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Nein, mehrmals. Aber wie heißt sie? Wer ist sie? [strike]Ich weiß es nicht.[/strike] Kann mich nicht erinnern.
Sie ist freundlich zu mir. [strike]Sie stellt mir das Essen hin.
[/strike]Lächelt mich an. Spricht mit mir. [strike]Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.
[/strike]
Werde wach, weil ich ganz nass bin. [strike]Warum? Ich weiß es nicht, fühle mich aber schrecklich.
[/strike]
Die Frau ist wieder da. Sie zieht mich aus, sie wäscht mich, sie hilft mir, wieder trocken zu werden. Das ist eine Wohltat.

Aber am nächsten Tag will ich fort, denn eine Erledigung wartet. Aber die Frau lässt mich nicht gehen. [strike]Sie redet auf mich ein. Aber ich verstehe sie nicht.[/strike] Ihre Augen blicken jetzt ernst. Und traurig.
Warum ist sie traurig? Ich glaube, ich weiß den Grund. Sie hat keinen Mann. Er ist bestimmt tot.
Ich frage sie. Sie sagt, er ist nicht tot. Er lebt. Er ist der Vater ihrer Kinder. Sie behauptet sogar, dass dieser Mann mein Sohn ist.

Das setzt sich bei mir fest. Ich habe einen Sohn. Plötzlich fährt eine Erinnerung wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ja, ich habe einen Sohn, weiß sogar seinen Namen. Walter!

Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder. Eines geht mit mir spazieren, ein anderes hilft mir auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein oder liest mir vor. [strike]Wie heißen diese Kinder? Ihre Gesichter sind vertraut. Angst habe ich nicht vor ihnen.[/strike]


Wer sind sie?

[strike]Und wer bin ich?[/strike]

Grüße von Zeder
 
A

Architheutis

Gast
Huch, wo kommt der Text denn her? Wahrlich, den hättest Du nicht verstecken müssen. Aber das Thema ist schon delikat; ich finde aber, dass es gerade solcher Texte vermehrt braucht. Alles andere ist Schweigen. Soviel dazu.

Ich finde Zeders Vorschläge begründet, bin aber bei einem anderer Meinung:


Sie ist freundlich zu mir. [strike]Sie stellt mir das Essen hin.[/strike]
Lächelt mich an. Spricht mit mir. [strike]Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.[/strike]

Sie ist freundlich zu mir. Lächelt mich an. Spricht mit mir. [blue]Füttert mich.[/blue]

Das Füttern unterstreichte die Hilflosigkeit, einem Kleinkind gleich.

Ich baute hier gar eine direkte Rede rein wie "ich frage sie: Wer bist du?..."

Das erhöhte meiner Meinung nach die Kluft zwischen gesund und dement und zeigte es an einem eindringlichen Bild.

Fazit:
Dieser Text wird gebraucht, er ist ein wichtiger. Das Handwerk hängt etwas hinterher, daher leider "nur" 8 von mir.

Lieben Gruß,
Archi
 

anbas

Mitglied
Hallo Doc,

Glückwunsch - und gleich drei Mal! :)

a) zu diesem Text (habe ich ja schon an anderer Stelle gesagt, dass er mir sehr gut gefällt)
b) für die Entscheidung, ihn aus der Anonymität zu holen, und
c) für das Erreichen der "Best-of-Liste"

Liebe Grüße

Andreas
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Glückwunsch auch von meiner Wenigkeit.

Ich schließe mich der Laudatio des Andreas-ABC's voll und ganz an.

Zum Titel selbst: Der ganze Text ist eine prosaische Verdichtung, die gerade in ihrer Einfachheit und Nachhaltigkeit der Sprache die Leser betroffen macht und gleichermaßen begeistert. Da passt der schlichte Titel, bestehend aus drei Buchstaben, bestens dazu. Ich würde ihn so lassen.
„Wer bin ich“ weckt in mir Assoziationen an leichtere Unterhaltung im Stile von Robert Lembke und stört die Dramatik dessen, was der Textkörper im Anschluss dem Leser vermitteln soll. "Ich" hingegen im Titel fokussiert geradezu brutal, weckt Neugierde und bereitet auf schwere Kost vor.

Gegen eine weitere Verdichtung, die Zeder und Architheutis zum Vorschlag bringen, wäre nichts einzuwenden. Aber überlege dir das gut. Es ist dein Text und nur du musst entscheiden, ob diese zusätzliche Kompression deiner ursprünglichen Intention gerecht wird.

Morgendliche Grüße vom Ironbiber
 

Jo Phantasie

Mitglied
Mittelstadium?

Nein, doch eher nicht, bei seiner Pflegebedürftigkeit. Dafür hast du das Alltagsszenario viel zu "heimelig" umrissen:
Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder.
Das wird bei dieser fortgeschrittenen Demenz nicht mehr so wahrgenommen, weil sich das friedfertige Wesen des Individuums abbaut, soziale Kompetenz nicht mehr vorhanden ist. In diesem Stadium gibt es ein Erkennen der „Freundlichkeit“ nicht mehr und „schrecklich fühlen“ ist auch abgeschafft.

Deswegen kann man darüber auch keine „schöne“ Geschichte schreiben, nur eine zum Nachdenken und eine, bei dem man danach tatsächlich den Daumen ganz fest drückt ..., für sich selbst!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Nein, mehrmals. Aber wie heißt sie? Wer ist sie? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht erinnern.
Sie ist freundlich zu mir. Sie stellt mir das Essen hin.
Lächelt mich an. Spricht mit mir. Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.

Werde wach, weil ich ganz nass bin. Warum? Ich weiß es nicht, fühle mich aber schrecklich.

Die Frau ist wieder da. Sie zieht mich aus, sie wäscht mich, sie hilft mir, wieder trocken zu werden. Das ist eine Wohltat.

Aber am nächsten Tag will ich fort, denn eine Erledigung wartet. Aber die Frau lässt mich nicht gehen. Sie redet auf mich ein. Aber ich verstehe sie nicht. Ihre Augen blicken jetzt ernst. Und traurig.
Warum ist sie traurig? Ich glaube, ich weiß den Grund. Sie hat keinen Mann. Er ist bestimmt tot.
Ich frage sie. Sie sagt, er ist nicht tot. Er lebt. Er ist der Vater ihrer Kinder. Sie behauptet sogar, dass dieser Mann mein Sohn ist.

Das setzt sich bei mir fest. Ich habe einen Sohn. Plötzlich fährt eine Erinnerung wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ja, ich habe einen Sohn, weiß sogar seinen Namen. Walter!

Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder. Eines geht mit mir spazieren, ein anderes hilft mir auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein oder liest mir vor. Wie heißen diese Kinder? Ihre Gesichter sind vertraut. Angst habe ich nicht vor ihnen.


Wer sind sie?

Und wer bin ich?
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe diese Frau schon einmal gesehen. Nein, mehrmals. Aber wie heißt sie? Wer ist sie? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht erinnern.
Sie ist freundlich zu mir. Sie stellt mir das Essen hin.
Lächelt mich an. Spricht mit mir. Auch wenn ich immer alles vergesse, was sie gesagt hat.

Werde wach, weil ich ganz nass bin. Warum? Ich weiß es nicht, fühle mich aber schrecklich.

Die Frau ist wieder da. Sie zieht mich aus, sie wäscht mich, sie hilft mir, wieder trocken zu werden. Das ist eine Wohltat.

Aber am nächsten Tag will ich fort, denn eine Erledigung wartet. Aber die Frau lässt mich nicht gehen. Sie redet auf mich ein. Aber ich verstehe sie nicht. Ihre Augen blicken jetzt ernst. Und traurig.
Warum ist sie traurig? Ich glaube, ich weiß den Grund. Sie hat keinen Mann. Er ist bestimmt tot.
Ich frage sie. Sie sagt, er ist nicht tot. Er lebt. Er ist der Vater ihrer Kinder. Sie behauptet sogar, dass dieser Mann mein Sohn ist.

Das setzt sich bei mir fest. Ich habe einen Sohn. Plötzlich fährt eine Erinnerung wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ja, ich habe einen Sohn, weiß sogar seinen Namen. Walter!

Aber ich weiß noch immer nicht, wer die Freundliche ist. Und ihre Kinder. Nette Kinder. Eines geht mit mir spazieren, ein anderes hilft mir auf das Sofa, schaltet den Fernseher ein oder liest mir vor. Wie heißen diese Kinder? Ihre Gesichter sind vertraut. Angst habe ich nicht vor ihnen.


Wer sind sie?
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nochmals vielen Dank für alle achtbaren Bewertungen - lieber Archi, für mich ist das eine sehr gute Bewertung, keine Sorge - und für die Verbesserungsvorschläge. Ich kann sie bis auf die Streichung der letzten Zeile nicht übernehmen, dann ist es einfach nicht mehr mein Text. Die bereits vorgenommen Veränderungen müssen reichen. Ich weiß, dass das Handwerkliche vielleicht hinkt - aber das liegt daran, dass der Text ausschließlich mit Herzblut geschrieben wurde, ausgelöst durch viele Begegnungen mit dementen Menschen. Ich habe einfach versucht, mich in jemanden hineinzuversetzen, der noch etwas mitbekommt und (noch) in der Lage ist, zwischen Angehörigen und Pflegepersonal zu unterscheiden, rein intuitiv, auch wenn er den Unterschied nicht benennen kann. Er fühlt ihn nur - und nichts ist schwerer wiederzugeben als Gefühle.

Das Thema ist in unserer überalteten Gesellschaft wichtig und sollte kein Tabu sein.

@Archi: Er kann noch selbst essen, deshalb wird das Essen ihm hingestellt, füttern ist nicht notwendig.

Der Titel bleibt auch so. "Wer bin ich" führt in der Tat in eine falsche Richtung.

Liebe Grüße, Doc
 

Vagant

Mitglied
Hallo Doc, das macht ja schon ein bisschen Angst vor dem Alter.
Ich habe es trotzdem gern gelesen. Glückwunsch zur thematischen und stilistischen Treffsicherheit deiner letzten Texte.
Vagant.
 
A

Architheutis

Gast
Liebe Doc,

lass den Text, wie er ist. Wir schreiben oft mit der puren Emotion. Ein Problem hierbei kann sein, dass der neutrale Leser da nicht mitkommt, weil er es nicht im Text erkennt. Er kennt das Dahinter ja nicht.

Dennoch ein beachtlicher Text. Ich freue mich für Dich. ;-)
 



 
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