Ich bin die, die bei den Tornados rausgeflogen ist

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Mit dem Spruch werden alle Ex-DDR-Bürger was anfangen können.*

Mich erregte es jedes Mal, wenn der Zug sich langsam Berlin näherte. Die Leute, die auf den S-Bahnsteigen standen, durch die wir durchfuhren, sahen so ganz anders aus, als da wo wir herkamen.

Früher, auf Klassenfahrten, faszinierten mich als Dorfmädel immer am allermeisten die Berliner Balkone im Prenzlauer Berg, die an dem Tag, an dem wir ankamen, vor dem Abteilfenster an einem vorbeirauschten.
Sie gehörten zu den Häusern, die ihre Rückseite den Gleisen zuwandten, und an denen der Schienenstrang so dicht vorbeiführte, dass man fast in die Fenster reinfassen konnte. - Meist war das am Vormittag, weil wir schon in aller Frühe aufgebrochen waren. -

Der Putz blätterte ab, und die verschnörkelten Brüstungen aus Eisen waren verrostet, was ihnen aber einen besonderen Reiz verlieh.
Außerdem waren sie dermaßen mit Wäsche zum Trocken überladen, dass man sich Sorgen machte, ob die alten Bauwerke der Last noch lange widerstehen.

Ab und zu sah man, wie ein Berliner im Unterhemd dem Zug hinterherblickte, oder ich konnte durch die offene Balkontür in ein vollgestopftes Zimmer blicken.
Es war ihnen bewusst, dass sie Beobachter hatten, aber da diese in dem selben Moment, in dem sie ihren Blick gezielt auf etwas im Inneren der Häuser richteten, auch schon wieder entschwanden, war es ihnen egal.
So blieben mir nur Momentaufnahmen von leeren Kaffeetassen auf einem Tisch, von einem Pärchen, das sich stritt, einem Kind, das verhauen wurde und außerdem noch der Geruch nach Bratkartoffeln im Gedächtnis haften.

Ich versuchte mir das Leben der Leute hinter diesen Balkonen vorzustellen. "Das Leben der Menschen die darin wohnen, geht irgendwann in die Physiognomie der Häuser ein", den Satz habe ich mal in einem Buch gelesen. So hatte es sich hier wohl auch abgespielt.
"Wenn ich damals nicht mal schon eine Ahnung davon hatte, dass ich dort auch einmal landen würde", denke ich heute. Wirklich war meine erste Behausung im Prenzlauer Berg, wenn auch nicht mit Blick auf die Schiene.


Auf der anderen Seite der Ampelkreuzung an der Greifswalder Straße stand mir eine Frau gegenüber, die im selben Alter war, in dem Rebecca jetzt sein müsste, mit Jeans, kurzen Haaren und Fahrrad. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir beide uns kannten.
Ich bin mir nicht mal zu 50 Prozent sicher, dass die Frau auf der anderen Seite überhaupt Rebecca war. Wenn, dann hatte sie vielleicht die Sehnsucht nach dem Prenzlauer Berg gepackt, und sie ist nach der Wende wieder in unsere alte Gegend, bei der Greifswalder Straße, zurückgezogen. Wir gingen übrigens an diesem Tag jeder weiter in unsere Richtung, ohne uns ein nichtssagendes Höflichkeitsgespräch anzutun.
Wir akzeptierten stillschweigend, dass unsere Wege sich getrennt hatten. Außerdem konnte Rebecca sich noch sehr gut an die Schwierigkeiten erinnern, in die ihre Nachbarin ständig verstrickt war und durch die wir uns ja eigentlich erst kennengelernt hatten.

Das Haus, in dem Rebecca und ich in den 1980ern im Bötzowviertel im Prenzlauer Berg wohnten, muss man gar nicht weiter beschreiben. Diesen Zweck erfüllt der Vorspann von „Solo Sunny“ besser, ein Film von Konrad Wolf, den ja nun wirklich jeder kennt – und wenn nicht, sollte er das bitte unbedingt nachholen. Der Hinterhof mit dem abgeblätterten Putz, die Einschusslöcher, die Mülltonnen auf dem Hof, die Tauben, die, durch die Öffnung in dem Schrank unter dem Fensterbrett, in der Küche ein- und ausfliegen, der „Mann von Gegenüber“, die Nachbarn, die man gar nicht kannte, die einen aber scheel angeguckt haben und sich beim ABV über einen beschwerten, alles war dasselbe.

Scheinbar hatten es in solchen Hausgemeinschaften junge Frauen ohne Mann ganz und gar nicht einfach und wurden argwöhnisch beobachtet. Wenn sie dann noch einen aufmüpfigen Eindruck machten, konnte es ganz eng für sie werden.

Dieses eigentümliche, kleinbürgerliche, miefige Klima, das in den dringend sanierungsbedürftigen Mietshäusern des Szenebezirks Prenzlauer Berg der Vorwendezeit herrschte, hat Konrad Wolf in seinem Geniestreich „Solo Sunny“ für die Ewigkeit in Stein gemeißelt. Ich konnte mich nur ein paar Jahre, nachdem ich diesen Film das erste Mal gesehen hatte - da saß ich zusammen mit den anderen aus meiner Klasse im Kinosaal des Dorfes in Mecklenburg, wo ich eine landwirtschaftliche Lehre mit Abitur machte - selber davon überzeugen, wie gut sein Film die Verhältnisse im Prenzlauer Berg getroffen hat. Er kannte sein Berlin und die Berliner eben ganz genau und liebte es.
Er ahnte wohl, dass er nicht mehr lange hat und wollte der Welt noch etwas hinterlassen, das Bestand hat. Und das hat er ja auch geschafft mit seiner „Sunny“. Und so drehte Konrad Wolf plötzlich auf den letzten Metern noch so etwas wie einen feministischen Film. Vielleicht trauten sich die „Genossen“ auch nicht, einem schwerkranken Mann wie ihm ins Gesicht zu sagen, dass sein bester Film verboten werden soll.

Rebecca hat im Hinterhaus gewohnt und ich im Seitenflügel ganz oben. Ich wohnte übrigens ohne Mietvertrag in dem Haus. Während einer Schicht im Backwarenkombinat hatte eine Kollegin mal zufällig erwähnt, dass man sich über den Betrieb um eine Ausbauwohnung bewerben kann. Gleich in der Pause ging ich zur FDJ-Leitung, die dafür zuständig war, und meldete mich an. Eine von der FDJ kam ein paar Tage später zu mir an meine Maschine und nahm meine Personalien auf. Dann hörte ich monatelang nichts mehr davon.

Eines Tages, als ich gerade im Backwarenkombinat gekündigt hatte und eigentlich gar nicht wusste, wo ich hin sollte, wenn ich aus dem Arbeiterwohnheim rausmusste, flatterte ein rotes Kärtchen mit der Post bei mir an. Ich befürchtete irgendwelche Mahngebühren oder Strafen fürs Trampen an der Autobahn. Aber gleich beim ersten Blick auf diese Karte lachte mich schon das Zauberwort Zuweisung an. Ich dachte, ich träume. Die Mühlen der Verwaltung mahlen ja langsam, aber sie mahlen. Diesmal zum Positiven, und ich hatte eine Wohnung bekommen. Eine türkische Kollegin von mir, die gar nicht verstehen kann, dass ich nicht an höhere Mächte glaube, hätte sich jetzt bestätigt gefühlt. Scheinbar schien es doch einen Gott zu geben.

In der Kommunalen Wohnungsverwaltung in der Greifswalder überreichte man mir tatsächlich einen Wohnungsschlüssel, aber leider keinen Kloschlüssel, und ich unterschrieb einen Ausbauvertrag. Die Wohnung entpuppte sich glücklicherweise als intakt, bloß am Gasherd musste etwas gemacht werden, und eigentlich sollte ich mich nur darum kümmern, dass die Fenster ausgetauscht werden. Gleich am Eingang zu meiner neuen Straße war eine große Sonnenblume an die Wand gemalt, was ich als positives Zeichen deutete.

Also zog ich halbillegal erst mal ein, pustete meine Luftmatratze auf, kaufte einen Tauchsieder und zwei Elektroplatten und ließ die Fenster Fenster sein. Wahrscheinlich wusste die freundliche junge Frau in der KWV/Kommunale Wohnungsverwaltung das ganz genau, ließ mich aber in Ruhe, und ich geriet jahrelang in Vergessenheit. Ich hatte aber immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich Schritte auf der Treppe hörte. Eine Berlinerin auf wackeligem Grund. Aber ich hatte einen Schutzengel. Meine Behausung war klein und nicht zu fein, aber leider nicht so richtig mein.

Im Hinterhaus waren schon seit ein paar Tagen die ganze Nacht die Fenster erleuchtet. Wahrscheinlich zog jemand ein. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit den jungen Leuten, die die Möbel hochtrugen, mal etwas zu tun bekommen würde. Rebecca und ich lernten uns durch einen Überfall kennen, der auf mich verübt werden sollte.

Ich wollte gerade meine Wohnungstür öffnen und in den dunklen Hausflur treten, da vernahm ich ein merkwürdiges Knacken. Ich hatte zum Glück immer ein sehr gutes Gehör. Geistesgegenwärtig versuchte ich, meine Tür wieder zu schließen. Jemand, der schon eine Weile vor der Tür gewartet hatte, sprang mir aus der Dunkelheit entgegen und wollte sich in die Wohnung hineinzwängen.
Ich konnte die Tür zwar schließen, aber derjenige versuchte, sie nun von außen aufzutreten.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, lief ich zum Fenster und rief um Hilfe. Eine Oma mit Enkelkind, die sich aus einem Fenster beugte, konnte mir auch nicht weiterhelfen. Die einzige Hilfe kam von den Leuten aus der Wohnung mit den hellerleuchteten Fenstern im Hinterhaus.

Niemand hatte Telefon in der DDR, aber es gab auf der Straße einen Münzautomaten. Die anderen Nachbarn taten so, als wenn sie nichts mitbekämen. Die Polizei kam zwar, nahm aber wohl nur die Personalien des Mannes auf und behandelte das Ganze als Bagatelldelikt. Es handelte sich übrigens um einen Mann aus dem Haus gegenüber, den ich gar nicht kannte und der wohl irgendwie auf mich aufmerksam geworden sein musste.
Als er merkte, dass ihm nichts weiter geschah, versuchte er es natürlich immer wieder. Manchmal war eine Zeit Ruhe, und dann fing es wieder an. Aber das soll hier jetzt kein Psychothriller werden. Ich hatte seitdem jegliches Vertrauen in die Genossen von der Volkspolizei verloren.

Ein paar Tage später sprach mich im Hof die junge Frau an, deren Freunde die Polizei alarmiert hatten und die alle zusammen in einer Jazzband spielten. Rebecca und ich gingen zusammen zum ABV/Abschnittsbevollmächtigten in unserer Straße und erstatteten wiederholt Anzeige gegen diesen Mann.
Sie traute sich sogar in sein Haus, und brachte am Türschild seinen Namen in Erfahrung. Der ABV, ein etwas biederer, naiver Mann, sagte mir im Ernst, sie könnten erst etwas unternehmen, wenn der Typ mich erwischt hat. "Wir leben eben in einer Männergesellschaft", meinte Rebecca.
Da war ich also vogelfrei. Wenigstens hatte ich in ihr, der alleinerziehenden Mutter, eine Stütze gefunden. Immer, wenn ich spätabends nach Hause kam, leuchtete mir auf dem dunklen Hof ihr hellerleuchtetes Fenster von oben einladend entgegen.

"Geben sie sich nicht mit ihr ab", hatten Nachbarn sie vor mir gewarnt. Da galt ich also als Schlampe, weil bei mir viele Leute im Hippielook ein- und ausgingen. Sie malten sich wohl in ihrer Fantasie die heißesten Sexorgien aus, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass Männer und Frauen auch nur befreundet sein können.

Rebecca war Nachtmensch, und wir beide tranken oft bis zum Morgengrauen Tee, wobei mir beim Teeeingießen immer der Deckel ihrer Teekanne, eine Fehlkonstruktion aus dem VEB Glashütte, abfiel, was mir einen missbilligenden Blick von der ordnungsliebenden Rebecca einbrachte.
Sie arbeitete als zahnärztliche Assistentin.
"Einmal war ich mit meiner Zahnärztin zur prophylaktischen Untersuchung in einer Armeekaserne. Dort gab es einen Soldaten, der sich nie die Zähne putzte. Aber stell dir vor, als wir den Belag entfernten, kamen darunter schneeweiße, gesunde Zähne zum Vorschein."

Rebeccas Freund wohnte außerhalb.
Er wollte, dass sie zu ihm zieht, besonders seit er mitbekommen hatte, wie es mir ergangen war, denn er war es gewesen, der an jenem Abend, zusammen mit dem Saxophonisten aus seiner Band, die Polizei alarmiert hatte. Rebecca, die aus Mecklenburg kam wie ich auch und drei Jahre jünger war, wollte aber nicht weg aus Berlin und hing genauso an der Stadt wie ich.

Rebecca war mit ihrem Freund schon zum zweiten Mal zusammen. Er verließ sie wegen einer Psychologiestudentin. "Du bist mir geistig nicht genug", sagte er. "Ich stand auf dem Bahnsteig und wollte mich vor den Zug werfen", erzählte sie mir. Zum Glück hat sie es nicht gemacht. Ein paar Tage später stellte sich raus, dass sie schwanger war. "Meine Tochter ist auf einem Imbisstisch gezeugt worden - natürlich nachts", fügte sie lachend hinzu, als sie meinen verblüfften Blick sah.
Der Kindesvater zahlte regelmäßig und besuchte sie auch. "Wir haben sogar noch zusammen geschlafen", erzählte sie mir. Sowas konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Sie und ihr Freund kamen wieder zusammen, als er, der inzwischen auch verlassen worden war, ihr bei der Renovierung der Wohnung half.

Er brachte ihr oft Bücher mit. So konnte ich auch endlich mal den Steppenwolf lesen. Dieser Roman hatte in einer Nacht-und Nebelaktion an der Interzonenstrecke von einem Kofferraum in den anderen gewechselt, mit anderem Gedrucktem natürlich. Der "Steppenwolf"
machte sich rar in unseren Buchläden. Wie hatte ich jemanden aus unserem Lehrlingswohnheim angebettelt, ihn mir zu leihen. Aber er blieb unerbittlich. "Ich verleihe prinzipiell keine Bücher." Ich las es und fand meine Erwartungen übertroffen.

Ich nahm sie auch mit in unseren Szenetreff, dem Spreewald in der Stargarder. Dort unterhielt sie sich längere Zeit mit einem jungen Mann, der irgendwie merkwürdig wirkte. Als er gegangen war, sagte sie zu mir: "Weißt du, was er mir gerade erzählt hat?" Es stellte sich heraus, dass er Düsenjäger flog und sich schon mehrmals mit dem Schleudersitz retten musste. Davon hatte er wohl einen Knacks davongetragen. Rebecca hatte von solchen Fällen schon gehört.

Einmal stand ich mit ihrem Freund zusammen im Innenhof. "Das sind noch Einschläge vom Zweiten Weltkrieg her", sagte er und deutete auf die Hauswand. "Ich hatte immer gedacht, dass das Putz ist, der abbröckelt", erwiderte ich ihm. "Putz bröckelt doch nicht kreisförmig ab", sagte er. Ich bewunderte seinen Scharfsinn.
Er war Realist, und hielt sich selbst hielt nur für ein mittelmäßiges musikalisches Talent, seinen besten Freund aber, der an der Hans Eisler studierte, für genial. Er war neidlos und Konkurrenzdenken lang ihm fern.
"Machen sie eigentlich Schwierigkeiten auf Arbeit wegen deiner langen Haare?", fragte ich ihn. "Ich habe keine Probleme, aber einer bei uns schreibt in der Mittagspause Gedichte. Der hat es nicht einfach", antwortete er.
Bevor er Jazzmusiker geworden war und auf die intellektuelle Seite übergewechselt war, war er auch ein Blueser gewesen wie ich und meine Freunde. "Kennst du den dicken Bernd?", fragte ich ihn. Das war eine bekannte Größe in seiner Heimatstadt, einer Industriestadt im Süden. "Ich kenne ihn, habe aber schon lange zu den Leuten den Kontakt verloren", antwortete er mir. Während er mit mit redete, sah er irgendwie durch mich hindurch. Wer weiß, was er wirklich von mir hielt?


Die Mutter seiner Tochter wohnte ein Jahr in einem schon vor Mauerfall besetzten Haus in Potsdam und lebte nur von Kindergeld und Alimenten. "Ich wollte das Aufwachsen meiner Tochter miterleben und sie nicht in eine Kindereinrichtung abgeben. Das war das beste Jahr meines Lebens", sagte sie.
Ihre beste Freundin dort war eine Töpferin. Sie besuchte Rebecca einmal in Berlin.
"Zufälle gibt es", dachte ich.
Sie war mir vorher schon zwei Mal über den Weg gelaufen.
Während des Studiums mussten wir jede Woche zum Schwimmen in die historische Halle in der Gärtnerstraße im Bezirk Mitte. Dort sah ich öfter ein zierliches Mädchen mit großen dunklen Augen, dass dort schon frühmorgens in dem kalten Wasser einsam seine Bahnen schwamm.
Es war dieselbe, die mir schon ein paar Monate vorher am Strand von Kühlungsborn aufgefallen war, als sie und ihr Freund dort Hand in Hand durchs Wasser wateten. Die beiden wirkten sehr eingebildet. "Mann, nimmt sich da aber jemand wichtig", dachte ich.
Und nun traf ich sie - sieben Jahre später - zum dritten Mal.
"Ich rede oft mit meinen Pflanzen. Dann wachsen sie besser", erzählte sie. "Du hast ein ganz schönes Ding an der Waffel", dachte ich. Insgeheim beschlich mich aber der Verdacht, dass Rebecca ganz genau so war, wie ihre eingebildete Freundin.

"Stellt euch vor, als ich vierzehn war, habe ich mal Wasserstofftabletten geschluckt", erzählt Rebecca und beiden. Die, mit denen man sich die Haare färbt?", frage ich. "Ja, die zum Bleichen." "Liebeskummer?", frage ich. "Nein. Ich hatte Ärger mit meinen Eltern und in der Schule." Ich staunte. Das hätte ich der vernünftigen Rebecca, die immer alles im Griff zu haben schien, nicht zugetraut. Und eigentlich erzählte sie nur gutes über ihre Familie. So verschieden schienen wir also doch nicht zu sein.

Einmal nahm ich die Nachbarstochter, die mit ihrer Mutter gegenüber von meiner Wohnung im Seitenflügel lebte, mit zu Rebecca. Dort spielte sie mit ihrer Tochter. Nach einer Stunde kam die Mutter, der ich natürlich vorher Bescheid gesagt hatte und holte sie ab. „Sie muss schlafen.“ Rebecca verstand das. „Sie will nichts falsch machen. Es kann aber passieren, dass das Mädchen ausbricht, wenn sie älter ist“, sagte sie hellsichtig.

Eigentlich konnte Rebecca gut mit Geld. Aber einmal bekam auch sie Probleme. "Die Alimente sind noch nicht da. Kannst du mir was borgen? Wir leben schon seit drei Tagen von Weizenkeimen." "Was ist das denn?", dachte ich, die davon noch nie etwas gehört hatte und gab ihr eine Zwiebel, ein paar Kartoffeln und fünf Mark.

Meine Nachbarin wohnte auch halblegal in ihrer Wohnung. Eine Arbeitskollegin aus der Poliklinik in der Christburger Straße zog zu ihrem Freund und überließ Rebecca, die vorher mit ihrem Kind bei ihrer Tante gewohnt hatte, ihre alte Wohnung. Eigentlich war sie auch ganz froh, dass sie nun im Hause jemanden kannte. Unser guter, nachbarschaftlicher, fast freundschaftlicher Kontakt ging zu Ende, als nach einem Wasserschaden in ihrer Wohnung Speckkäfer auftraten.

Die energische Rebecca kämpfte um eine neue Wohnung und stellte sogar dem Bürgermeister ein Glas mit Speckkäfern auf den Schreibtisch. Außerdem hatte sie sich neu verliebt, in einen wesentlich älteren Mann.
"Das war in der letzten Zeit eine langweilige Beziehung", sagte sie.
Als sie zu ihrem Freund fuhr, um ihm das zu sagen, passte ich auf ihre Tochter auf. Ich schob das Wägelchen, in dem ihr fröhlich plapperndes Kind saß, durch den Prenzlauer Berg. Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen dabei. "Sie weiß gar nicht, dass sie gerade ihren Vater verliert", dachte ich.

Endlich bekam sie eine Neubauwohnung am Tierpark, und wir trafen uns nur noch ein einziges Mal wieder, Anfang 1990, da wohnte ich schon in Friedrichshain, auf der Frankfurter Allee. "Wie geht es ihrem Vater?", fragte ich und deutete auf ihr Kind. "Der ist verheiratet und hat schon Nachwuchs." Die Trennung von ihr musste ihn aber ganz schön getroffen haben. Einmal sah ich ihn, wie er unsere Straße im Prenzlauer Berg entlanglief. Er wollte Rebecca wohl besuchen und wusste nicht, dass sie jetzt woanders wohnt. Das wunderte mich. Seine langen Haare hatte er abschneiden lassen.

Bei dem zufälligen Treffen mit Rebecca auf der Frankfurter Allee fiel auf, dass sie etwas traurig aussah.

Sehnsucht nach dem Prenzlauer Berg, nach unserem alten Haus, nach dem Teetrinken mit ihrer Nachbarin?

* „…Ich schlaf mit jemanden, wenn's mir Spaß macht, ich nenn’ 'nen Eckenpinkler 'nen Eckenpinkler, ich bin die, die bei den Tornados rausgeflogen ist. Ich heiße Sunny.“ sagt die Schauspielerin Renate Krößner als Sängerin Ingrid Sommer am Ende des Defa Films „Solo Sunny“ von Konrad Wolf.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist gut lesbar und vermittelt viel Atmosphäre. geschätzte Friedrichshainerin. Persönlich habe ich keine nennenswerte Verbindung zum Prenzlauer Berg und durch deinen Text habe ich erstmals ein konkreteres Bild der Wohn- und Lebensverhältnisse dort damals erhalten. (Den erwähnten Film kenne ich nicht vom Ansehen.)

Ein kleiner Einwand: Einem unbedarften Leser wie mir ist das halbillegale Mietrechtsverhältnis nicht wirklich klar geworden. Hier rechnet die Autorin wohl mit Vorkenntnissen, die heute nicht mehr allgemein verbreitet sein dürften.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön

P.S. Bin gerade vor Tagen in einem umgeleiteten Regionalzug erstmals an der hier beschriebenen Häuserfront vorbeigefahren. Die Optik ist nicht ganz dieselbe wie aus der mir gewohnten S-Bahn, man ist zeitweise noch enger an den alten Häusern dran.
 
Hallo Arno,
ich dachte, ich trage hier Eulen nach Athen, wenn ich "Solo Sunny" erwähne. Aber im Westteil ist unser beliebtester DDR-Film vielen scheinbar nicht geläufig. Wir kommen eben aus verschiedenen Staaten. Wenn Du einen lebendigen Eindruck von meiner ersten Wohnung haben willst, musst Du diesen Film sehen. Ausschnitte schwirren bei You-Tube umher.
Ich hatte auch ein Taubenproblem und der ABV war ungefähr derselbe wie in dem Film. Die Nachbarn mochten mich genau so wenig, wie sie Sunny gemocht haben.

An den ersten Teil habe ich gestern geschrieben wie ein Held. Mir wollten einfach die Formulierungen nicht glücken. Ich hoffe, es kommt raus, dass es sich um eine Fahrt nach Ostberlin handelt.
Leuten, die erst nach der Wende geboren sind und das geteilte Land nicht mehr kennengelernt haben, wird das irritieren.
Damals fuhren wirklich die D-Züge bei der Einfahrt in die Stadt ganz dicht an den Hauswänden vorbei, und es war jedes Mal für mich ein Erlebnis, den Bewohnern zuzuschauen, die keine Gardinen vorhatten, fast wie ein Spanner.

Ausbauwohnungen waren reparaturbedürftig, und man musste einen Vertrag unterzeichnen, dass man sie in Ordnung bringt. Das ging über die Betriebe, in denen man arbeitete.
Meine Nachbarin dagegen hatte einfach von ihrer Kollegin die Wohnung übernommen und zahlte die Miete. Es war auch üblich, dass man jemanden auf dem Papier als Untermieter aufnahm, und wenn man dann etwas besseres gefunden hatte, gehörte sie ihm, und er konnte dort einziehen. So halfen sich die Kumpels gegenseitig.
Gruß Friedrichshainerin
 
Danke für die Erläuterungen, Friedrichshainerin. Dem Hinweis auf Videoausschnitte von "Solo Sunny" folge ich mal in den nächsten Tagen, dann wird vielleicht der Schauplatz der beschriebenen Erfahrungen noch visuell verdeutlicht. Allerdings hat der Text das selbst nicht nötig. Darf ich mir den Hinweis erlauben, dass die Erzählung allein aufgrund von Stoff und vermittelter Atmosphäre auch gut ohne die Bezüge zum Film ausgekommen wäre? Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir auch der gewählte Titel nicht besonders glücklich.

An der Perspektive aus dem Zugfenster auf die alten Wohnhäuser dort hat sich ja grundsätzlich nichts geändert, nur fahren auf den Fernbahngleisen neben der S-Bahn nicht mehr so viele reguläre Personenzüge. Ich denke, solche vom Hauptbahnhof zum Flughafen gehören jetzt dazu. Über Rebeccas späteren Wohnort kann ich mitreden. Heiner Müller hat da auch lange gewohnt, und mein Blick von hier fällt auf seinen Wohnblock.

Guten Abend
Arno
 
Hallo Arno,
Du liest ja meine Sachen immer ganz aufmerksam durch. Dann geb doch einfach mal ins www. Kurze Straße 19 Frieda Kreuz ein, soll übrigens Friedrichshain-Kreuzberg bedeuten. Auf diese Plattform stelle ich auch ab und zu Texte rein. Vielleicht interessiert Dich das, denn von Deiner Kindheitsgeschichte habe ich mich auch zu einem Omading hinreißen lassen, auch wenn ich das nie schreiben wollte, da sowas zu leicht ins Rührselige abrutscht. Zwei Cousinen im Teenageralter, die sich in den Großen Ferien bei Oma langweilen, im tiefsten Mecklenburg. Das kleine Städtchen, von dem die Rede ist, ist übrigens Malchin.
Gruß Friedrichshainerin
 
Werte Kollegin, habe inzwischen die Erinnerungen an Malchin gefunden und durchgelesen, kann hier wohl nicht sehr ausführlich darauf eingehen. Ja, da ist viel Material assoziativ ausgebreitet, hat mich vor allem unter dem Gesichtspunkt von Übereinstimmungen mit meiner Kinderwelt interessiert. Ich fand solche vor allem im geschilderten Alltag wieder, da ist eine Grund-Kleinbürgerlichkeit festzustellen, obwohl sowohl Lebensgeschichten wie auch politische Überzeugungen sich in unseren Familien stark unterschieden. Den Begriff "schwere Zeit" hörte ich auch oft, erst durch deinen Text kommt mir die Erinnerung daran wieder. Berührt hat mich auch das verborgen und nicht genau aufgeklärte (wenn ich richtig verstanden habe) verborgen Jüdische in der weiteren Verwandtschaft; wie bei uns damals. - Malchin kenne ich selbst nicht, habe aber von Massen-Suiziden in Mecklenburg 1945 gelesen. Das prägt, glaube ich, auch die Atmosphäre einer Stadt noch jahrzehntelang. Es gibt über ähnliche Phänomene aus Demmin einen Film von Martin Farkas ("Über Leben in Demmin"), den ich allerdings nicht selbst gesehen habe.

Schöne Nachmittagsgrüße
Arno
 
Hallo Arno,
dass Du das tatsächlich gelesen hast! Ist ja ein mächtig langer Text. Zu dem haben mich Deine Kindheitserinnerungen inspiriert. Über Opa und Oma wollte ich mich eigentlich nie auslassen. Vielleicht noch Kindheit verklären und so. Hat man schon tausend Mal gelesen. Aber dann schrieb ich doch los.
Zwei, durch den Krieg, zusammengewürfelte Familien, heute heißt das Patchwork, die aber die Chance nicht gesehen haben, trotz der ganzen verlorenen Angehörigen, immerhin zwölf, neu anzufangen und sich als Verwandte zu begreifen.
Nur wir Kinder sahen das anders - für meine Cousine und ihre Brüder war mein Großvater ihr Opa und meine Mutter eine Tante - aber unsere Freundschaft haben sie auch noch auseinandergebracht.
Bei Euch im Westen ist ja der Russe nicht einmarschiert, stattdessen der Ami. Da habt ihr noch Glück gehabe, und Massenvergewaltigungen wie im Osten fanden nicht statt.

Ein interessantes Buch über über die Massenhysterie in Mecklenburg zu Kriegsende ist von Verena Kessler "Die Gespenster von Demmin". Habe ich mir natürlich gleich gekauft, da sowas meine Verwandschaft in Malchin, das in der Nähe ist, ja auch erlebt hat. Auch hier geht es um die Peene.
Von dem Film habe ich schon gehört, habe ihn mir aber noch nicht angesehen, da er mir zu traurig ist.

Mit den jüdischen Wurzeln ist natürlich Spekulation. Ich habe auch schon an die Heiligen der letzten Tage, oder wie sie sich bezeichnen, die alte christliche Kirchenbücher auf Mikrofilm bannen, geschrieben. Um siebzehnhundert fanden sich mehrere Einträge zu unserer Familie, die aus einem Dorf in der Nähe von Malchin stammt, mit Vornamen wie Daniel Salomon; Salomon und Jacob vor unserem Namen.
Ich habe auch im www nach Konvertierungen in Mecklenburg gesucht, aber wenig gefunden. Wenn, dann muss das schon lange her gewesen sein. Wäre ja mal interessant, dass rauszukriegen.
Und das war wirklich so, dass ich eine halbe Stunde, nachdem ich Gad Granach im Fernsehen gesehen habe, auf der Torstraße im Scheunenviertel auf ihn getroffen bin, gerade als mir der Gedanke durch den Kopf ging, dass hier früher viele Jüdinnen angeschafft haben.

Gruß Frieda
 



 
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