Ich in jung

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Meine Vergangenheit entgleitet mir, aber das ist schön.

Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann dass die Dinge nicht so schwierig sind, wie man denkt. Das ganze Geheimnis besteht darin, sich nicht selbst im Weg zu stehen. Es ist nicht schwierig, einen Menschen zu lieben, es ist nicht schwierig, eine glückliche Beziehung zu führen, wenn man die Frau, mit der man sein Leben verbringt, nicht besiegen will. Es käme uns albern und töricht vor, zu kämpfen, wo nichts zu kämpfen ist. Wir führen eine ruhige Ehe, wir reden nicht viel, aber schweigen uns auch nicht bitter an, wir berühren uns nicht ständig, aber regelmäßig.

Es fehlt mir nicht, keine Mitarbeiter mehr entlassen und einstellen zu können, ich vermisse es nicht, keine wichtige Investitionsentscheidungen mehr zu treffen. Der Gedanke, dass die Firma heute ohne mich funktioniert, stürzt mich nicht in Melancholie. In den ersten Monaten nach meinem Rauswurf riefen mich Mitarbeiter an, um mir ihr Herz auszuschütten und in immer neuen Geschichten zu erzählen, wie furchtbar der neue Chef ist, mein Nachfolger. Doch selbst wenn ich mich bemühte, fiel mir kaum etwas ein. Ich habe keine Ratschläge, die ich geben könnte.

Wenn mir die Insignien der Macht so wenig bedeuten, warum habe ich dann mein ganzes Leben dem Ziel gewidmet, Karriere zu machen? Weil es das Natürlichste der Welt für mich war. Weil ich es mir anders gar nicht hätte vorstellen können. Ich kann mir nicht vorstellen, zwischen 20 und 60 nicht fleißig zu sein, nicht zu kämpfen, im Beruf nicht zu versuchen, seinen Weg zu machen und erfolgreich zu sein. Ich hätte es mir nicht vorstellen können, meine Chancen nicht zu nutzen. Mich nicht anzustrengen, hätte mich niedergedrückt und deprimiert, weniger zu erreichen, als es in meinen Möglichkeiten stand, wäre mir vorgekommen wie Verrat. Aber mein Ehrgeiz ging nie darüber hinaus, weshalb mich meine Karriere auch nicht so erschöpft hat wie es heute bei Frauen und Männern zwischen 30 und 45 der Fall ist.

Nichts bleibt. Meine Erfolge im Beruf sind Vergangenheit und spielen keine Rolle mehr. Entscheidend ist, dass es gewesen ist. Dass ich mir nicht vorwerfen muss, versagt zu haben. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, ich muss mich nicht wärmen an meiner Bedeutung von früher, es genügt mir, zu wissen, das getan zu haben, was ich tun konnte, damit die Vergangenheit nicht auf mir lastet. Ich muss mich nicht an einzelne Begebenheiten erinnern, ich muss mir, meinen Nachfolgern oder ehemaligen Kollegen keine Anekdoten erzählen. Heute keine Macht mehr haben zu müssen, ist der Lohn für meine früheren Anstrengungen, kein Verlust.

Es ist einfach, älter zu werden. Vielleicht wird es auch leicht sein, alt zu werden.

Ich muss die Jugend nicht verstehen und ich muss mich ihren Gesetzen nicht beugen, um vor ihren Augen gnädig zu bestehen.

Natürlich darf man sich nicht gehen lassen. Ich stehe jeden Tag um halb acht auf und ziehe mich vernünftig an. Ich lese Bücher, gehe mit Maria spazieren, besuche mit ihr Konzerte, ich treibe Sport, nicht viel, einmal die Woche spiele ich mit meinem ältesten Sohn Tennis. Manchmal, ein wenig sentimental bin ich doch, sehe ich mir alte Familienbilder an, was ich früher nie getan habe. Man ist nicht nur 50 oder 60 Jahre älter, man ist tatsächlich ein anderer. Alte Kinderfotos sind Fotos von Toten.

Man weiß, wovon man mit 15 geträumt hat, mit 25. Man weiß, wie die Geschichte ausgeht, und würde dem jungen Mann, der man gewesen ist, gerne etwas ins Ohr flüstern.

Wir müssen Erbarmen haben, mit uns und mit den anderen Menschen. Wenn es Gott gibt, wovon ich überzeugt bin, wird ihn wundern, was wir aus der Freiheit machen, in die er uns entlassen hat.

Ich weiß, dass es das Glück gibt. Aber es gibt es nicht in diesem Leben.

Wir müssen nicht verzweifelt sein. Ich bin 67, das ist nicht alt. Ich habe noch 15 Jahre vor mir, vielleicht mehr. Es wäre töricht, Angst zu haben, es wäre töricht, zu hadern, es wäre töricht, noch zu viel zu wollen. Es ist gut so, wie es ist.
 

hein

Mitglied
Hallo Jürgen,

mir geht es ähnlich. Mit Übergabe der Verantwortung habe ich das ganze "Müssen" hinter mir gelassen.

Mein Grundsatz war und ist: "versuche nicht, Sachen zu ändern die du nicht ändern kannst!"

Gerne gelesen.

LG
hein
 
Hallo Jürgen,
wenn alle Menschen so entspannt wären, würde das Miteinander noch viel mehr über das Gegeneinander obsiegen.
Eine schöne Geschichte auf jeden Fall.
Schöne Grüße
 

Vagant

Mitglied
Hallo,
ich dachte beim Lesen immer, da wird irgendwann mal der Punkt kommen, an dem die Geschichte bricht, ein Punkt, an dem der Monolog des Icherzählers eine interessante Wendung nehmen wird, ein dramatischer Konflikt vielleicht oder eine ironische Distanz, musste aber bis zur letzten Zeile gänzlich ohne die Erfüllung meiner Erwartung auskommen, und so fehlt mir hier nach der Einleitung die eigentlich Erzählung, das unbedingt Erwähnenswerte.
Vagant.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Jürgen,

hier im Tagebuch sind deine Gedanken gut aufgehoben. Erzähl nur weiter aus deinem Leben! Von Gott abgesehen, kann ich deine Gedanken gut verstehen.

LG Otto
 



 
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