Ich kenne dich

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich kenne dich. Ich weiß, welcher Arbeit du nachgehst. Ich weiß, wann du arbeitest, dann bist du immer offline. Ich weiß, dass du fest liiert bist. Ich weiß, dass du mindestens ein Kind hast.

Ich weiß, dass du gerne Weißwein trinkst, vegetarisch isst und Bestseller liest. Ich weiß, dass du ständig gegen dein Übergewicht kämpfst und dich zu dick findest. Ich weiß, zu welcher politischen Partei du tendierst.

Ich weiß, dass du nicht an Gott glaubst und aus der Kirche ausgetreten bist. Ich weiß, dass du gerne Krimis siehst und im Kino am liebsten in der letzten Reihe sitzt.

Ich weiß eine Menge über dich. Nach dem, was ich in Kommentaren über dich lesen kann. Oder sollte nichts davon stimmen?

Und was wohl passiert, wenn ich dich wirklich kennenlerne?
 
A

aligaga

Gast
Wer glaubt, man kennte jemanden, wenn man über seine Arbeitszeiten, seine Ess-und Trinkgewohnheiten, seinen Familienstand und seine Religionszugehörigkeit Bescheid wüsste, ist schwer auf dem Holzweg. Und selbst der erste Intimverkerkehr kann noch in die Irre führen.

Wirklich kennenlernen kann man Dritte nur

a) wenn man sie ganz an sich heranlässt

b) wenn sie einen ganz an sich heranlassen

c) wenn eine Situation zu bewältigen ist, für die Routine allein nicht mehr ausreicht, sondern physische und psychische Substanz gefordert sind.

Dann erst wird man gewahr, ob in den Schließfächern des anderen wirklich der Schatz ruht, von dem man geträumt hat.

Das, was du uns hier aufzählst, @doc, ist vom Inhalt und Stil her leider nur das, was sich mehr oder weniger ungereimt in der kurzen Prosa jeder beliebigen Bekanntschaftsanzeige findet, wo neben dem Alter auch das Signalement wichtig zu sein scheint (die Größe, das Gewicht, die Relgionszugehörigkeit, die Anzahl der vorhandenen Kinder, Raucher oder Nichtraucher, finanzielle Stellung, Wein-, Reise-, Natur- oder Tierliebhaber, und rüstig! Rüstig!).

TTip: Weg von der langweiligen Stoffsammlung und hin zu einem pointierten Text, der deutlich machte, dass Menschsein etwas anderes ist als die Verkettung fadester Lebensgewöhnlichkeiten. Die lapidare Infragestellung der reinen Äußerlichkeiten ist keine wirklich gute Pointe - auf die kommt es, wie gesagt, ja gar nicht wirklich an ...

Heiter

aligaga
 

FrankK

Mitglied
Hallo DS
Unter der Oberfläche Deines Textes erscheint es mir Bedrückend, erdrückend und erschreckend.
Ich interpretiere mal aus dem Bauch heraus:
Der LyrIch ist eine Datenkrake. Die größte davon - Google.

Über die Surfgewohnheiten lässt sich so manches über einen User in Erfahrung bringen.

Mit "Ich kenne dich" ist ja nicht immer eine positiv verknüpfte Beziehung gemeint.

Selbst die Analyse von Kommentaren (der verwendete Wortschatz, Benutzung bestimmter, immer wiederkehrender Schlagworte und Phrasen) lässt Rückschlüsse auf die Person zu.

Und was wohl passiert, wenn ich dich wirklich kennenlerne?
Mir schauderts.
Profilanalysen werden heutzutage z.B. von Personalchefs zur Beurteilung von Bewerbern herangezogen.

Oder unterliege ich jetzt einer Fehleinschätzung?


Grüße aus Westfalen
Frank
 
S

steky

Gast
@Doc

Der Text macht deutlich, wie viel wir voneinander wissen - nämlich gar nichts. Der am anderen Ende der Leitung entscheidet, was er preisgibt. In der Regel trägt niemand seine Schwächen spazieren.

Der letzte Satz kommt recht düster daher, finde ich.

Wer weiß, vielleicht verliebtest Du Dich ja am Ende noch in so einen charmanten Kerl, wie ich es bin? :D Oder wir stellen fest, dass wir beide Männer sind? Oder bin ich gar doch eine Frau?

Das Internet erzeugt Ungewissheit; Ungewissheit erzeugt Gefahr; Gefahr erzeugt Angst; Angst erzeugt - in den meisten Fällen - Vernunft.

So halte zumindest ich es - um nicht eines Tages gefesselt in irgendjemandes Keller aufzuwachen.

Kein schönes Thema.

LG
Steky
 

TaugeniX

Mitglied
Naja, wer einen Keller mit gefesselten Opfern füllen will, muss sie nicht über ein Literaturforum suchen.

Ich kann diese Angst nicht nachvollziehen. Ich habe mir zwar auch einen Nicknamen erfunden, da es in vielen Foren usus ist, aber geheim ist meine Identität nicht. - Wer Auskunft will, bekommt sie sofort.

Was ich noch weniger nachvollziehen kann sie die "anonymen" Bewertungen hier im Forum, wo die Leute eh schon inkognito unter ihren Pseudonyms schreiben. Wovor fürchtet sich ein User so, dass er auch seinen Decknamen nicht unter seine Benotung setzten möchte?
 

Wipfel

Mitglied
Vegetarisch stimmt, das andere auch. Oder eigentlich versuche ich mich vegan zu ernähren. Das erklärt auch meine Vorliebe für Weißwein. Rotwein wird oft mit Eiweiß geschönt - und ist somit für vegane Ernährung ungeeignet.

Das mit meinem Übergewicht hättest du aber nicht erwähnen müssen, oder? Ich plapper doch auch nicht alles von dir aus...

Grüße von wipfel
 
S

steky

Gast
Nochwas:

Du schreibst:

Und was wohl passiert, wenn ich dich wirklich kennenlerne?
"Kennenlerne" suggeriert, dass tatsächlich ein Treffen stattfinden wird. "Kennenlernte" passte hier besser.

LG
Steky
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Doc,

Brecht hat eine seiner Keunergeschichten zu deinem Thema geschrieben. Hier ist sie:


WER KENNT WEN?

Herr Keuner befragte zwei Frauen über ihren Mann.
Die eine gab folgende Auskunft:
"Ich habe zwanzig Jahre mit ihm gelegt. Wir schliefen in einem Zimmer und auf einem Bett, Wir aßen die Mahlzeiten zusammen. Er erzählte mir alle seine Geschäfte. Ich lernte seine Eltern kennen und verkehrte mit allein seinen Freunden. Ich wußte alle seine Krankheiten, die er selber wußte und einige mehr. Von allen, die ihn kennen, kenne ich ihn am besten."
"Kennst Du ihn also?" fragte Herr Keuner.
"Ich kenne ihn."
Herr Keuner fragte noch eine andere Frau nach ihrem Mann. Die gab folgende Auskunft:
"Er kam oft längere Zeit nicht, und ich wußte nie, ob er wiederkommen würde. Seit einem Jahr ist er nicht mehr gekommen. Ich weiß nicht, ob er wiederkommen wird. Ich weiß nicht, ob er aus den guten Häusern kommt oder aus den Hafengassen. Es ist ein gutes Haus, in dem ich wohne. Ob er auch zu mir in ein schlechtes käme, wer weiß es? Er erzählt mir nichts, er spricht mit mir nur von meinen Angelegenheiten. Diese kennt er genau. Ich weiß, was er sagt, weiß ich es? Wenn er kommt, hat er manchmal Hunger, manchmal aber ist er satt. Aber er isst nicht immer, wenn er Hunger hat und wenn er satt ist, lehnt er eine Mahlzeit nicht ab. Einmal kam er mit einer Wunde. Ich verband sie ihm. Einmal wurde er hereingetragen. Einmal jagte er alle Leute aus meinem Haus. Wenn ich ihn >dunkler Herr< nenne, lacht er und sagt: Was weg ist, ist dunkel, was aber da ist, ist hell. Manchmal aber wird er finster über dieser Anrede. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Ich..."
"Sprich nicht weiter", sagte Herr Keuner hastig. "Ich sehe, Du kennst ihn. Mehr kennt kein Mensch den anderen, als Du ihn."

Brecht heißt mit Vornamen übrigens Bertolt (und nicht "Berthold", wie Aligaga vor einiger Zeit peinlich ignorant schrieb: siehe Leselupe, Kurzprosa, Aligaga, "Vielharmonie", S. 3 des Threads).
 
A

aligaga

Gast
Man "lebt" übrigens mit einer Frau zusammen (und "legt" nicht mit ihr, wie @Ofterdingen soeben peinlich ignorant schrieb: siehe Leselupe, Kurzprosa, "Ich kenne dich", S. 2 des Threads).

Quietschend vor Vergnügen

aligaga
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo aligaga,

wirklich kennen tut man niemanden, und was ich aufgezählt habe, ist das "Normale", das jeder unbeabsichtigt oder nicht, von sich im Internet preisgibt.

Ich spiele hier mit den Worten kennen und wissen. Und Deiner Einlassung


Wirklich kennenlernen kann man Dritte nur

a) wenn man sie ganz an sich heranlässt

b) wenn sie einen ganz an sich heranlassen

c) wenn eine Situation zu bewältigen ist, für die Routine allein nicht mehr ausreicht, sondern physische und psychische Substanz gefordert sind.
widerspreche ich, auch dann kannst Du "Dritte" nicht wirklich "kennen" und Reaktionen vorhersagen. Denke an Charles Lindbergh.

Stellt sich natürlich noch die Frage, inwieweit man sich selbst kennt...

LG DS
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Frank,

falsch liegst Du nicht. Der Bauch entscheidet oft richtig. :) Ich hatte zwar nicht Google im Sinn, aber das passt auch. Die Menschen beschweren sich ja oft über die Ausspionierung per Internet, posten aber freiwillig alles Private.

Bleibt die Frage: Was ist davon wahr? Und von daher der Schluss, den anderen zu "kennen".

Die reale Begegnung kann dann völlig anders ausfallen, im positiven wie im negativen Sinne.

Mich schauderts auch. Es soll ja Leute geben, die genau nachsehen, wer wann online ist ...

LG DS
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich kenne dich. Ich weiß, welcher Arbeit du nachgehst. Ich weiß, wann du arbeitest, dann bist du immer offline. Ich weiß, dass du fest liiert bist. Ich weiß, dass du mindestens ein Kind hast.

Ich weiß, dass du gerne Weißwein trinkst, vegetarisch isst und Bestseller liest. Ich weiß, dass du ständig gegen dein Übergewicht kämpfst und dich zu dick findest. Ich weiß, zu welcher politischen Partei du tendierst.

Ich weiß, dass du nicht an Gott glaubst und aus der Kirche ausgetreten bist. Ich weiß, dass du gerne Krimis siehst und im Kino am liebsten in der letzten Reihe sitzt.

Ich weiß eine Menge über dich. Nach dem, was ich in Kommentaren über dich lesen kann. Oder sollte nichts davon stimmen?

Und was wohl passiert, wenn ich dich wirklich kennenlernte?
 

FrankK

Mitglied
Hallo, DS
Stellt sich natürlich noch die Frage, inwieweit man sich selbst kennt...
Gott sei Dank gibt es Menschen, die sich selbst nicht(!) genug kennen und dann eine Chance haben, über sich selbst hinauszuwachsen.

Grüße aus Westfalen
Frank
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@steky: Du hast die Intention voll erfasst. Ja, wir wissen nichts voneinander. Das erhöht den Reiz, im Internet mit dem Avatar zu spielen und sich eine Identität zu geben, die mit der Realität nichts gemein hat.
Auf der anderen Seite drängt es viele, Wahres zu erzählen.

Jaja, wer weiß, vielleicht sind wir sogar zwei Männer, die sich ineinander verlieben. :)

Aber lustig sollte das Ganze nicht rüberkommen, ganz recht. Das "Kennenlerne" habe ich geändert. Du hast recht mit Deinem Vorschlag.



@taugenix:

Och, Opfer KANN man auch über ein Literaturforum suchen. Hier entsteht ja oft ein soziales Netzwerk, da Menschen mit gleichen Interessen unterwegs sind. Da gibt es - wenn man will - schnell persönlichen Kontakt.

Anonyme Bewertungen sind ein ganz anderes Thema und gehören hier nicht hin.



@wipfel:

Siehste, ich "kenne" dich ganz gut. Also bist Du doch eher ein Athletiker als ein Pykniker? :)



@Ofterdingen:

Ich kenne (schon wieder kennen) die Geschichte von Brecht. Sie passt gut, danke für die Erinnerung. Die Scharmützel zwischen aligaga und Dir gehören hier nicht hin.


Danke für alle Meinungen.

LG DS, den keiner kennt ;-)
 
A

aligaga

Gast
Dass man einander nicht kennenlernen könnte, ist so ziemlich der größte Schmarren, der sich behaupten ließe.

Es geht nur nicht so einfach, wie sich mancher das wünschte. Viele wollen weder die Zeit noch die Substanz aufwenden, die für das Kennenlernen notwendig wäre.

Ja, lernen. Wie gut man etwas "kennt", wird erst dann offenbar, when the going gets rough, wie die sagen, die ein bisschen Englisch können. Wer mit seinem Umfeld, seinem Instrument, seinem eigenen Körper, seinem Feind oder seinem Freund nicht vertraut ist, ihn also nicht kennt, ist ein armer Tropf, der es am Ende zu gar nichts bringt.

Woran du erkennst, dass du jemanden kennst? Daran, dass du auch die Zeichen siehst, die er dir gar nicht gegeben hat.

Und woran, dass du bei jemandem voll auf dem Schlauch stehst?

Wenn du seine Zeichen übersiehst, obwohl die sogar ein Blinder noch erkennen würde.

@Ali bleibt bei der anfänglichen Einschätzung des Textes: Eine das Thema verfehlende, nichts sagende Stoffsammlung, die keine Idee hat und keinerlei Pointe aufweist.

Gruß


aligaga
 

Ji Rina

Mitglied
DocSchneider:
Ja, wir wissen nichts voneinander. Das erhöht den Reiz, im Internet mit dem Avatar zu spielen und sich eine Identität zu geben, die mit der Realität nichts gemein hat.


Tja, eine alte bekannte Tatsache....Seit Internet.
Wer darauf zurückgreifen muss, hat wohl garkeine eigene Identität...
 



 
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