Ich, Onkel Benn und sieben Gläser Wein

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Tula

Mitglied
Ich, Onkel Benn und sieben Gläser Wein

Dunkler kann es nicht werden.
Wispernde Ähren im Wind,
Ruf kentaurischer Herden ...
Ruhe! Ich dichte, mein Kind.

Sieh die Sterne, die Fänge
ewiger Helden der Nacht.
Diesseits Zwerge, mit Strenge
auf dein Verhängnis bedacht.

Untröstlichkeiten – in Sagen,
die du bis heute beweinst.
Aus dem Seelenstaub ragen
Stelen der Träume von einst.

Charon oder die Hermen,
alle brutal sodomiert.
Mammon, Plutos – mit Spermen,
die man als Cocktail serviert.

Chaos – Zeiten und Zonen.
Die Mythen dem Spiegel und
Kaviar den Dämonen,
ein Huflattich für den Hund.

Schleierkraut, Schleierkraut rauschen,
wo man Lemuren bestallt.
Brandung und Schaum – das Plauschen
mit Schliff, zum Hoden geballt.

Die Welten trinken und tränken
Knaster mit Astern im Blick.
O Nacht! Lass uns Gottfried gedenken
bis mich der Hypnos holt – Hick!



///
Anmerkung: die erste Zeile jeder Strophe entspricht dem jeweils ersten Vers der folgenden Gedichte von Gottfried Benn:
1: Dunkler
2: Sieh die Sterne, die Fänge
3: Wo keine Träne fällt
4: die Dänin (I)
5: Chaos
6: Schleierkraut
7: Quartär (I)

Ein paar Anspielungen auf weitere Gedichte wird der Benn-Liebhaber ohne besondere Mühe selbst entdecken.
 

Scal

Mitglied
Zeiten und Zonen
trinken und tränken ...

Verdichtend erdichtet.

Warum nicht "Schleierkrautrauschen" ?, dachte ich mir.

LG
Scal
 

Tula

Mitglied
Moin Scal
Die erste Zeile der Strophe ist stets auch die erste Zeile des zitierten Gedichts von Benn, wie in der Anmerkung unter dem Gedicht angegeben. Darin bestand die Herausforderung, d.h. mit dieser Vorgabe insgesamt einen sinnvollen und interpretierbaren Text zu erstellen.

Dankend lieben Gruß
Tula
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Tula,
das gefällt mir nicht nur als Bennverehrer sehr!
Schwierig eine Strophe als Favoriten auszumachen. Wenn ich wählen müsste, nähme ich Strophe 3.
Top
LG
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
Lieber Tula,

mich hast du schon mit dem Titel gefangen. Trotz der Erklärung vorab; sie muss gar nicht sein.
Das Fantastische liegt ja auch - nicht zu unterschätzen - im eigenen Ergründen.
Dennoch: feinste Ware!

Schönen Abendgruß,
Elke
 

Tula

Mitglied
Hallo Ralf
Ja, die unerfüllten Träume ... jeder hat da wohl welche.

Dankend lieben Gruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Liebe Elke
In der Tat wollte ich anfangs die fortschreitende Wirkung des Weins mit einbauen, auch daher der Titel. Am Ende gefiel mir das Wechselspiel zwischen Ernst und Ironie aber besser, als die 'richtige Variante'. Der Titel blieb: Immerhin ist die Kombination Benn + Wein irgendwie ein gutes Rezept für dichterische Grübeleien über das 'gezeichnete Ich' und die Düsternisse dieser Welt ... :rolleyes:

Dankend lieben Gruß
Tula
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
erkannt habe ich alle benn anspielungen. ich liebe benn! ich habe mich allerdings noch nicht entschieden, wie viel "spott" und "kritik" in den zeilen liegt. "zum hoden geballt" das könnte auch eine erstklassige benn kritik durch überzeichnung seiner bilder, seines stils sein.

lg
patrick
 

Tula

Mitglied
Hallo Patrick
Natürlich liegt es mir fern, Gottfried Benn zu kritisieren oder gar zu veralbern. Die Frage nach dem "Allerbesten" macht in der Kunst wenig Sinn, aber wenn ich wirklich einen Platz 1 der deutschen Dichter des 20. Jahrhundert vorschlagen müsste, fiele mir die Wahl nicht unbedingt schwer: Gottfried Benn.

Nein, der Anflug von Ironie gilt hier dem Lyrich selbst. Das "Ich" ist ja auch zentrales Element einiger Benn-Gedichte, und um diesem inhaltlich einen modernen Dreh zu geben, setzt sich Lyrich mit sich und seiner Welt auseinander: die irdischen Zwerge (der Mensch an sich), die Ruinen seiner Träume, die Erfolgreichen in den Medien (Spiegel) und Almosen für den armen Hund usw.

Die Stelle 'zum Hoden geballt' bezieht sich natürlich auf das Alpha-Gelaber in der Arbeitswelt. Auch gebildete Menschen mit Schlips und Anzug erliegen ihren sozialen Genen und "protzen". Nicht alle natürlich, aber in gewissen Kreisen ... du verstehst.

Dankend lieben Gruß
Tula

PS: Vor kurzem las ich die gesammelten Gedichte von Rolf Bossert. Weniger bekannt, aber garantiert lesenswert. Ich zitiere eine Stelle, die mich erst zum Lachen gebracht hat, aber durchaus sehr sinnvoll ist: "die schwarzen Hoden der Nacht" - Nächte sind eben besonders fruchtbar ;)
 



 
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