Ich sehe Felder

solowasser

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Ich sehe Felder. Felder, die rasch vorbeiziehen, die nur kurz meine Augen streifen. Immerfort sehe ich Felder, mal sind sie braun, mal sind sie grün. Ich schaue nach oben und sehe Felder. Weißblaue Felder, ohne Anfang und ohne Ende. Ich beuge meinen Kopf nach vorne und vor mir liegt eine Straße. Kurz blicke ich mich um: wo sind die Felder? Wo sind die endlosen Felder hin? Wieder schaue ich nach oben und erblicke den weißblauen Himmel, der so ruhig daliegt wie zuvor. Abermals beuge ich den Kopf nach vorne. Die Straße liegt immer noch da. Was ist zu tun, frage ich mich. Jahre, Jahrhundertelang starrte ich nur auf Felder. Eigentlich starrte ich nicht nur auf die Felder, sondern ich beschritt sie auch. Ich bewässerte sie auch. Ich bepflanzte sie auch. Es gab nur Felder.

Weiter vorne auf der Straße sehe ich schemenhaft eine Gestalt. Mein Blick lässt diese Gestalt nicht mehr los, er folgt ihr gebannt. Etwas Seltsames geschieht: die Gestalt schrumpft und sie tut das in einem erstaunlich bedächtigen Tempo. Sie schrumpft so lange, bis ich sie ganz aus den Augen verliere. Automatisch setze ich mich in Bewegung. Ich setze einen Fuß vor den anderen, und dann setze ich den anderen Fuß wieder vor den einen. Und dann geht alles wieder von vorne los, bis ich gar nicht mehr merke, dass ich mich fortbewege. Je länger ich gehe, desto verschwommener werden die Felder in meinem Kopf. Was hatte ich fortwährend auf den Feldern getan? In meiner Erinnerung habe ich sie angestarrt. Ich erinnere ein Fenster, durch das ich die Felder angeschaut hatte. Ich habe mich nicht in die Nähe der Felder getraut.

Ich neige meinen Kopf auf die rechte Seite und sehe eine Gestalt am Wegesrand sitzen. Plötzlich erinnere ich mich daran, dass ich bei meinem ersten Blick auf die Straße schemenhaft eine Gestalt entdeckte. Automatisch höre ich auf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich halte ganz still und neben der Gestalt taucht ein Haus auf. Das Haus hat eine Tür und einige Fenster und als ich das denke durchzieht mich ein Stich und Felder, weißblaue Himmel tauchen vor mir auf und verschwinden sogleich wieder. Die Gestalt setzt sich in Bewegung und geht in Richtung des Hauses, macht die Tür auf, tritt ein und macht die Tür wieder zu. Ich stehe am Wegesrand und habe die Straße verloren. Hinter mir befindet sich ein Busch, ein Schotterweg und ein Vogel, der mich anschaut. Wieder blicke ich nach vorne und sehe einen Schatten im Haus, der sich nach oben bewegt.

Wie erstarrt stehe ich da. Jahre, Jahrhundertelang setzte ich einen Fuß vor den anderen, aber jetzt habe ich es verlernt. Ich kann nur noch starren, starren auf ein Haus mit vielen Fenstern. Fenster, die sich in mir öffnen, die mir einen Blick zurück gewähren. Zurück, das heißt zu den Feldern und zu der Straße. Zurück zum Fenster, von dem aus ich die Felder beobachtete. Das Haus wackelt, als sich der Schatten an das Fenster ganz oben setzt. Er setzt sich ans Fenster und sieht hinaus. Der Schatten bleibt dabei völlig regungslos. Über mir sehe ich einen rostroten Himmel, der mir wie eine Feuersbrunst vorkommt. Ich senke den Kopf und merke, dass das Haus brennt. Das Haus brennt vollständig aus und irgendwann verliere ich den Schatten aus den Augen. Da es keine Straße mehr gibt, kann ich keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Ich beuge daher meinen Kopf nach oben, drehe mich um und sehe, dass hinter mir Felder liegen. Felder, die ich längst vergessen hatte. Felder, die ich einst beschritt, bewässerte und bepflanzte. Felder, die ich aus einem Fenster anstarrte. Eine Gestalt, schemenhaft vor mir auf der Straße, eine Gestalt neben mir am Wegesrand, ein Schatten am Fenster, der auf Felder starrt. Ein Schatten, der abbrennt. Ich erschrecke und beuge meinen Kopf nach oben.

Nach dem Brand kommt die Dämmerung. Oben ein dunkelgelber Ozean, vor mir liegt ein kleiner Trampelpfad. Endlich setze ich einen Fuß vor den anderen und danach den anderen vor den einen. Der Trampelpfad wird immer schmaler und sobald die Dunkelheit die Dämmerung ablöst, gibt es keinen Trampelpfad mehr. Doch ich entdecke ein Loch im immer dichter werdenden Gestrüpp. Mir ist, als würde dieses Loch immer größer, je näher ich ihm komme. Mir ist, als würde ich durch dieses Loch im Gestrüpp ein Feld und ein Haus und ein Fenster sehen. Dann erinnere ich den Brand. Das Haus, es ist abgebrannt. Und nach dem Brand kommt die Dämmerung und nach der Dämmerung kommt die Dunkelheit.

Ein weißblauer Ozean. Ich beuge meinen Kopf nach unten. Eine breite Straße und vor mir eine Gestalt, nur schemenhaft zu erkennen. Wo waren die Felder? Die Felder, die sind abgebrannt, hallt es in mir. Ich schaue auf die Straße und setze einen Fuß vor den anderen und dann den anderen vor den einen. Schon bald vergesse ich die abgebrannten Felder wieder. Das Fenster aber bleibt, auch wenn die Gestalt darin immer schemenhafter wird und irgendwann ganz ausbleicht. Ein Stück geht immer verloren, bis keines mehr da ist. Kein weißblauer Ozean, kein rostroter Himmel, kein brennendes Haus, keine schemenhafte Gestalt, kein Trampelpfad.

Nur ein Fenster.
 



 
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