Ich stand am Ufer

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Pinky

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Ich stand am Ufer des Sees und sah. Schwarzes, öliges Wasser schwappte in dunklem Rhythmus an das zerbrochene Ufer und klatschte dumpf gegen rußige Felsen. Stickiger Dampf stieg träge auf, nur schwach vom Wind gebeugt wie die wenigen Bäume, die noch standen. Das Land lag tot und gebrochen da und der Himmel war verdüstert von drückender Finsternis.
Dies war der Untergang.
Ich stand am Ufer und hörte. Das Rauschen des Windes, der noch vor Augenblicken ungebändigt und mit gewaltiger Kraft über das Land gefegt war und alles mit sich gerissen hatte. Ich hörte das Stöhnen der gequälten Erde, das Zittern der zermalmten Berge. Ich hörte das Schreien und Heulen, das schmerzgepeinigte Kreischen und das angsterfüllte Wimmern. Tausend Stimmen klangen in meinen Ohren und hallten in meinem Kopf wider. Und ich hörte das Donnern:
„Ich bin Sarra, die Segnende, die über den Himmeln thront! Bis unter die Erde schallt mein Ruf und weit über die Horizonte hinaus. Ich brachte euch Wissen und Weisheit, Geschick und Handwerkskunst, so seid ihr mein, denn ich gebiete über euch. Ich bin es, die Welten beutelt, die Himmel erbeben lässt. Mit Feuer strafe ich die Wälder und mit eisernem Hagel die Berge. Mit Wind peitsche ich die Flüsse und Meere und treibe euch vor mir her wie Getier. Auf mein Geheiß entzweit sich die Erde, dass ihr Blut hervorquelle, und die Gestirne folgen meinem Befehl wie auch ihr ihm folgen sollt. Denn ich bin Sarra!“
Ich stand am Ufer und fühlte. Die Hitze von brennendem Feuerregen, der vom Himmel niederfiel auf Mensch und Tier, Haus und Baum, und alles zerschlug, ohne Unterschied, zu Asche verbrannte und zu Rauch werden ließ. Ich fühlte das Beben der sich aufbäumenden Felsen, den Schmerz der zerrissenen Erde und das Rauschen der qualmenden Wässer. Wie ein Ungetüm war sie über die Welt gekommen, aus endlosen Tiefen emporgestiegen, herab von ihrem mächtigen Thron, in all ihrer Gewalt und Herrlichkeit. Feuer spie sie aus ihrem Rachen und Gift und Schwefel dünstet sie aus. Ihr strahlender Blick lähmte und ihr göttlicher Atem tötete, wie es in den Schriften verheiße war.
Ich stand am Ufer und sah. Die dunklen, schweren Wolken, die in düsteren Gebilden über den Himmel zogen, nur allzu oft von einem gleißenden Blitz grausam erleuchtet. Ich sah die Wasser beben im darauffolgenden Donner und die Berge sich beugen wie Diener vor ihrem Herrn. Ich sah Ruinen untergegangener Städte und Reste verlorener Kulturen, sah ihre verbrannten Körper verkrümmt über den Scherben ihrer Errungenschaften. Und ich sah die verkohlten Schriften, die darunter lagen.

„Und die Göttin wird sich erheben
am Tage des Endes,
herrlich und schrecklich zugleich.
Sie wird sich emporschwingen
und über die Welt kommen
mit ihrem Atem aus Feuer
und ihrem Blick aus Tod,
wie das Tier der Ersten Zeit.
Und die übrigen Götter werden weichen.“

Und ich sah, wie die Götter gewichen waren.

„Doch wird einer kommen, der sie bezwingt.
Der die Welt reinigt und befreit,
und bereitet für ein neues Alter.“

Ich stand am Ufer und wartete. Auf den Einen, den Verheißenen. Den, der kommt und sie bezwingt, der die Welt befreit und sie bereitet.
Vielleicht auch auf den Tod.
Ich stand am Ufer und fühlte. Den Schmerz des Erlittenen, die Leere des Verlorenen, des geraubten Lebens hinter mir in Trümmern. Ich fühlte die Qualen vieler, das Entsetzen der meisten, die Überraschung einiger und die Furcht aller. Doch Hoffnung fühlte ich nicht.
Die letzten Zeilen der Schrift verblassten vor meinen Augen.
Ich stand am Ufer und starb.
 



 
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