Ich suchte nach Vergangenem

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Mistralgitter

Mitglied
Ich suchte nach Vergangenem
-beim Betrachten eines Bildbandes-

Es ist, als könnte ich in meiner Vorstellung an den abgebildeten alten Gartenzäunen entlanglaufen - brüchig und ausgeblichen ihr Holz -, nach den ehemals geharkten Wegen suchen, doch ich finde sie nicht mehr. Warum knirscht kein Sand mehr unter den Sandalen? Warum sind jetzt die Straßen und Wege uneben und steinig, die Häuser verlassen? Ihre Mauern reißen und bröckeln, ihre Dächer sitzen schief. Die Gärten sind verwildert.

Ich hätte so gerne einen dicken Strauß aus Rosen, Phlox und Lupinen, aus Sonnenblumen, Ringelblumen und Malven, vielleicht auch aus Dahlien und Astern. Das üppige Blühen hatten Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war erstickt an Sauerampfer und Giersch.

Dennoch kommt es mir vor, als ob ich zwischen den Häuserreihen und Wandnischen die Stimmen der Menschen von damals höre. In ihrer harten Sprache reden sie vom Leben der Fischersleute, vom Schuster nebenan und dessen Frau und seiner Tochter, die Hutmacherin wurde. In dem Holzhaus dort drüben auf der anderen Straßenseite könnten sie alle gewohnt haben, bis sie fliehen mussten. Der ehemals weißblaue Außenanstrich des Hauses ist verwittert, löst sich in Fetzen von den Wänden.

Über den Jungen der fleißigen Hutmacherin staunt man im Ort. Flugingenieur sollte er werden, dachten sie. Man sah ihn oft, wie er selbstgebaute Flugzeugmodelle auf ihre Flugtauglichkeit prüfte. Er lernte das Segelfliegen an der Küste, gehörte zu den Stärksten, die das Segelflugzeug an Seilen hinaufzogen auf die Düne, war einer von denen, die sich am längsten in der Luft halten konnten. Wie viele seiner 16-jährigen Freunde wollte auch er frei wie ein Vogel sein und über den Wolken schweben.

Er sprang im Sportunterricht am weitesten, im Diskuswurf und Kurzstreckenlauf übertraf er die anderen. Für die Olympiateilnahme hätten seine Leistungen sogar gereicht, erzählt man, aber das Geld war zu knapp für einen Trainer. Und dann kam der Krieg und schob ihn unbarmherzig vor sich her, hob ihn in die Lüfte und ließ ihn wieder fallen. Er kam mit dem Leben davon, aber kehrte nie mehr zurück in sein Land.

Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen oder das Erschrecken vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern. Unruhig blieb er, suchte nach Gegenden, die seinen frühen Erinnerungen verwandt waren. Und er erzählte davon, gab seiner Sehnsucht in seiner Malerei Form und Farbe. In seinem Garten legte er jahrelang neue Beete an und bepflanzte sie mit den Blumen seiner Kindheit und Jugend.

Mir ist beim Betrachten so, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht. Durch ihn werden Jahr für Jahr immer weitere Türen und Fenster zugeschüttet. Die Häuser versinken. Niemand besteigt gerade die Düne zum Segelfliegen – man hat andere Möglichkeiten -, niemand segelt zum Fischen hinaus, an Land verkümmern Netze und Boote. Sie bringen keinen Ertrag.

Mir bleiben Bilder des Gewesenen, die Blumen aus seinem Garten und die Erinnerung an die Stimme des Erzählers. Und ich gehe in den Fotos des Bildbandes umher. Den Begleittext brauche ich nicht.
 

Wipfel

Mitglied
Hi Mistral,
ich hole diese selten schöne Kurzprosa noch einmal hervor. Nein, dein Text ist nicht laut, hascht nicht nach Effekten, handwerklich fein gewebt. Mehr braucht es nicht für den kurzen Genuss. Sehr gern gelesen.

Grüße von wipfel
 
A

Alberta

Gast
Habe diesen Text sehr genossen!


[blue]Über den Jungen der fleißigen Hutmacherin staunt man im Ort. Flugingenieur sollte er werden, dachten sie. Man sah ihn oft,[/blue]

Hier muss es meiner Meinung nach "staunte" heißen.


[blue]Mir ist beim Betrachten so, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht. [/blue]

Mein Vorschlag: Beim Betrachten ist mir, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht.
 

Mistralgitter

Mitglied
Danke für die Hinweise. Bin froh, dass solche Unebenheiten von aufmerksamen Lesern bemerkt werden! Werde es sofort ändern.
Gruß Mistralgitter
 

Mistralgitter

Mitglied
Ich suchte nach Vergangenem
-beim Betrachten eines Bildbandes-

Es ist, als könnte ich in meiner Vorstellung an den abgebildeten alten Gartenzäunen entlanglaufen - brüchig und ausgeblichen ihr Holz -, nach den ehemals geharkten Wegen suchen, doch ich finde sie nicht mehr. Warum knirscht kein Sand mehr unter den Sandalen? Warum sind jetzt die Straßen und Wege uneben und steinig, die Häuser verlassen? Ihre Mauern reißen und bröckeln, ihre Dächer sitzen schief. Die Gärten sind verwildert.

Ich hätte so gerne einen dicken Strauß aus Rosen, Phlox und Lupinen, aus Sonnenblumen, Ringelblumen und Malven, vielleicht auch aus Dahlien und Astern. Das üppige Blühen hatten Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war erstickt an Sauerampfer und Giersch.

Dennoch kommt es mir vor, als ob ich zwischen den Häuserreihen und Wandnischen die Stimmen der Menschen von damals höre. In ihrer harten Sprache reden sie vom Leben der Fischersleute, vom Schuster nebenan und dessen Frau und seiner Tochter, die Hutmacherin wurde. In dem Holzhaus dort drüben auf der anderen Straßenseite könnten sie alle gewohnt haben, bis sie fliehen mussten. Der ehemals weißblaue Außenanstrich des Hauses ist verwittert, löst sich in Fetzen von den Wänden.

Über den Jungen der fleißigen Hutmacherin staunte man im Ort. Flugingenieur sollte er werden, dachten sie. Man sah ihn oft, wie er selbstgebaute Flugzeugmodelle auf ihre Flugtauglichkeit prüfte. Er lernte das Segelfliegen an der Küste, gehörte zu den Stärksten, die das Segelflugzeug an Seilen hinaufzogen auf die Düne, war einer von denen, die sich am längsten in der Luft halten konnten. Wie viele seiner 16-jährigen Freunde wollte auch er frei wie ein Vogel sein und über den Wolken schweben.

Er sprang im Sportunterricht am weitesten, im Diskuswurf und Kurzstreckenlauf übertraf er die anderen. Für die Olympiateilnahme hätten seine Leistungen sogar gereicht, erzählt man, aber das Geld war zu knapp für einen Trainer. Und dann kam der Krieg und schob ihn unbarmherzig vor sich her, hob ihn in die Lüfte und ließ ihn wieder fallen. Er kam mit dem Leben davon, aber kehrte nie mehr zurück in sein Land.

Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen oder das Erschrecken vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern. Unruhig blieb er, suchte nach Gegenden, die seinen frühen Erinnerungen verwandt waren. Und er erzählte davon, gab seiner Sehnsucht in seiner Malerei Form und Farbe. In seinem Garten legte er jahrelang neue Beete an und bepflanzte sie mit den Blumen seiner Kindheit und Jugend.

Beim Betrachten kommt es mir vor, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht. Durch ihn werden Jahr für Jahr immer weitere Türen und Fenster zugeschüttet. Die Häuser versinken. Niemand besteigt gerade die Düne zum Segelfliegen – man hat andere Möglichkeiten -, niemand segelt zum Fischen hinaus, an Land verkümmern Netze und Boote. Sie bringen keinen Ertrag.

Mir bleiben Bilder des Gewesenen, die Blumen aus seinem Garten und die Erinnerung an die Stimme des Erzählers. Und ich gehe in den Fotos des Bildbandes umher. Den Begleittext brauche ich nicht.
 

Mistralgitter

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Ich suchte nach Vergangenem
-beim Betrachten eines Bildbandes-

Es ist, als könnte ich in meiner Vorstellung an den abgebildeten alten Gartenzäunen entlanglaufen - brüchig und ausgeblichen ihr Holz -, nach den ehemals geharkten Wegen suchen, doch ich finde sie nicht mehr. Warum knirscht kein Sand mehr unter den Sandalen? Warum sind jetzt die Straßen und Wege uneben und steinig, die Häuser verlassen? Ihre Mauern reißen und bröckeln, ihre Dächer sitzen schief. Die Gärten sind verwildert.

Ich hätte so gerne einen dicken Strauß aus Rosen, Phlox und Lupinen, aus Sonnenblumen, Ringelblumen und Malven, vielleicht auch aus Dahlien und Astern. Das üppige Blühen hatten Brennnesseln und Kletten überwuchert, es war erstickt an Sauerampfer und Giersch.

Dennoch kommt es mir vor, als ob ich zwischen den Häuserreihen und Wandnischen die Stimmen der Menschen von damals höre. In ihrer harten Sprache reden sie vom Leben der Fischersleute, vom Schuster nebenan und dessen Frau und seiner Tochter, die Hutmacherin wurde. In dem Holzhaus dort drüben auf der anderen Straßenseite könnten sie alle gewohnt haben, bis sie fliehen mussten. Der ehemals weißblaue Außenanstrich des Hauses ist verwittert, löst sich in Fetzen von den Wänden.

Über den Jungen der fleißigen Hutmacherin staunte man im Ort. Flugingenieur sollte er werden, dachten sie. Man sah ihn oft, wie er selbstgebaute Flugzeugmodelle auf ihre Flugtauglichkeit prüfte. Er lernte das Segelfliegen an der Küste, gehörte zu den Stärksten, die das Segelflugzeug an Seilen hinaufzogen auf die Düne, war einer von denen, die sich am längsten in der Luft halten konnten. Wie viele seiner 16-jährigen Freunde wollte auch er frei wie ein Vogel sein und über den Wolken schweben.

Er sprang im Sportunterricht am weitesten, im Diskuswurf und Kurzstreckenlauf übertraf er die anderen. Für die Olympiateilnahme hätten seine Leistungen sogar gereicht, erzählt man, aber das Geld war zu knapp für einen Trainer. Und dann kam der Krieg und schob ihn unbarmherzig vor sich her, hob ihn in die Lüfte und ließ ihn wieder fallen. Er kam mit dem Leben davon, aber kehrte nie mehr zurück in sein Land.

Dennoch vergaß er nie das Tosen des Meeres, das Knacken der Eisschollen im Winter an der Küste, den Krähenschrei in den Föhren, das Klappern der Störche hoch oben auf den Türmen und Schornsteinen oder das Erschrecken vor dem plötzlich auftauchenden Elch in den dunklen Wäldern. Unruhig blieb er, suchte nach Gegenden, die seinen frühen Erinnerungen verwandt waren. Und er erzählte davon, gab seiner Sehnsucht in seiner Malerei Form und Farbe. In seinem Garten legte er jahrelang neue Beete an und bepflanzte sie mit den Blumen seiner Kindheit und Jugend.

Beim Betrachten ist es mir, als spürte ich den scharfen Seewind, der den Sand der großen Düne herüberweht. Durch ihn werden Jahr für Jahr immer weitere Türen und Fenster zugeschüttet. Die Häuser versinken. Niemand besteigt gerade die Düne zum Segelfliegen – man hat andere Möglichkeiten -, niemand segelt zum Fischen hinaus, an Land verkümmern Netze und Boote. Sie bringen keinen Ertrag.

Mir bleiben Bilder des Gewesenen, die Blumen aus seinem Garten und die Erinnerung an die Stimme des Erzählers. Und ich gehe in den Fotos des Bildbandes umher. Den Begleittext brauche ich nicht.
 



 
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