GerRey
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Im Zug hat jemand eine Papiertragetasche vergessen. Sie steht auf dem Boden im Fußbereich am Fenstersitz. Darin scheint eine Hose zu sein, wie ich aus dem schrägen Blickwinkel davor zu erkennen glaube. Ich nehme deshalb in der Sitzgruppe auf der anderen Gangseite Platz. Der Zug füllt sich, niemand setzt sich auf die beiden Sitze in der Reihe neben mir, wo die geheimnisvolle fremde Tasche steht, mit der anscheinend keiner in Berührung kommen will. Eine junge Mutter, hüftlanges, glattes, dunkelblondes Haar, geht mit einem Kind auf die Sitze davor. Ich registriere ein dunkles Sommerkleid, das an den Hüften scheinbar durch ein innenliegendes Gummiband gerafft ist. Während der Zug anfährt, beginnt sie das Kind zu maßregeln: die Tochter solle doch nicht immer alles angreifen; welche schmutzigen Finger sie hat ... Ihre langen, schlanken Finger strecken sich dabei elegant gestikulierend über den Tisch, der dort die Sitzreihe unterbricht und eine Bank gegenüberstellt, worauf ich mich noch schnell begeben könnte - schnell, schnell, wie es ein Impuls verlangt, dem ich aber nicht folge -, um danach weiter in eine Richtung zu laufen, sich ins Uninteressante zu verlaufen, als wollte sich auch die Fahrtrichtung, die die Tasche, die Frau mit dem Kind und mich mitnimmt, davon wegbegeben ... Diese Finger haben dunkelrot, fast braun bemalte, gepflegte Fingernägel. Ich bemerke erst jetzt, dass das Sommerkleid ärmellos ist; der Rücken schmal und gerade - was ich wohl nicht bemerken hätte können, wenn die Tragtasche mit der Hose ihnen - Mutter und Kind - (wie anfangs auch mir) den Platz nicht versperrt gehabt haben würde. An den nackten Beinen trägt sie einfache Schlappen, die nur von einem schmalen Riemen gehalten werden. Über dem rechten Außenknöchel hat sie ein kleines Symbol einer aufgehenden Sonne tätowiert. Ihr Gesicht - ob es jener Sonne geglichen haben würde, wenn ich mich ihr gegenüber gesetzt hätte? - habe ich leider nicht gesehen, und so einiges andere auch nicht, was mich sicher an ihr hätte interessieren können ... Ich verlasse sie jetzt - sie hat ohnehin, was sie braucht!
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