Ich war ein Sommerresi

Arooliqu

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Cpoyright: Ulrich Thiele, Bruchköbel, Fassung 2015


Jeder junge Mann in der ehemaligen DDR hatte damals eine andere Sicht auf die Fahne, die NVA oder die Armee. Für die meisten war es ein Übel, nur eine Tortur.

Sinnlose, mit Kadavergehorsam und Schikane angefüllte achtzehn verlorene Monate. Gestohlene Zeit des jungen Lebens. Aber es war unausweichlich und bis auf wenige harte Typen, die den Wehrdienst verweigerten, das Schicksal einer ganzen jungen Generation.

Im Nachhinein sind es das Erinnern, das Einordnen und Werten, die helfen zu verstehen, was diese Zeit mit jedem Einzelnen gemacht hat. Meine Erinnerungen an die Armee beziehen sich vor allem auf das, was ich mit den Kameraden erlebte und wie ich bei allem Ungemach lernte, dass Druck massiven Gegendruck erzeugt, der immer eine Lücke zur Entspannung, zur Menschlichkeit auftut.

Die Musterung

Es passierte in einer Zeit, als wir noch "unsere lieben Brüder und Schwestern im Osten" waren. An Weihnachten stellten Leute in Westberlin Kerzen in die Fenster für diese geschundenen Kreaturen in Ostdeutschland. Es war damals, als die links-intellektuellen Westdeutschen noch im Schutze der Mauer von der Befreiung der Menschheit vom Kapital träumten und die zweite Generation der RAF ihr höllisches Unwesen im Westen trieb. Der typische Ossi - arbeitsscheu aber mäklig - war noch nicht erfunden.

Wie immer, wenn ich am Feierabend nach Hause kam, inspizierte ich zuerst den Briefkasten. Heute fand sich, etwas versteckt in der Zeitung, eine grau grüne Postkarte. Das sah amtlich und auf den zweiten Blick sogar militärisch aus.

„Hiermit werden Sie aufgefordert, am Donnerstag, den 14.März 1976 zur Überprüfung Ihrer Musterungsunterlagen auf dem Wehrkreiskommando zu erscheinen“. Mir rann ein Schauer über den Rücken. Mit zweiunddreißig Jahren hatte ich bis jetzt das Glück gehabt, ohne Einberufungsbefehl leben zu dürfen. Zuerst sorgten das Studium und danach mein häufiger Wohnortwechsel dafür, dass ich vom Militär verschont blieb. Die Meldekartei der NVA wurde damals noch von Hand geführt. Die Volksarmee tat sich sichtlich schwer, mich aufzufinden. Inzwischen lebte ich mit Frau und Kindern in Thüringen, zum ersten Mal für längere Zeit sesshaft, hatte eine gute Arbeit und verdrängte es standhaft, dass das Vaterland noch einmal rufen könnte.

Die Musterung verlief professionell. Urinprobe, Messen und Wiegen, Abklopfen der Reflexe, den Hals inspizieren und der Befehl "husten Sie mal" mit dem flinken Griff in den Leistenbereich. Die Buchstabiertafel zur Augenprüfung und die Frage nach dem Alkoholkonsum beendeten die Routine.

Nach diesem Ereignis vergingen einige Wochen in angespannter Wartestellung. Dann kam eine militärisch graue Karte mit der Post, der Einberufungsbefehl. „Am Tage so und so haben Sie sich um 7:00 Uhr mit umseitig genannten Gegenständen am Wehrkreiskommando in R. einzufinden“. Ich dachte, das kann ja heiter werden. Aber drei Monate lassen sich vielleicht noch verschmerzen. Das war allemal besser, als 18 Monate straff dienen zu müssen. Es war erstaunlich, aber ich zählte mich damals mit meinen 32 Jahren schon zum alten Eisen. Ich machte mir viele nutzlose Gedanken über das, was mich bei der Fahne erwarten würde. Ich kannte Sprüche wie „solange man noch geradeaus laufen kann, passiert einem beim Militär nichts“ oder „beim Militär ist der Kopf nur zum Essen da und andere denken für dich“ oder „morgens einmal abgeduckt und der Tag ist gelaufen“. Ich sagte mir, Kopf hoch, so schlimm kann es nicht werden.

Die Einberufung

Am Tage der Wahrheit stopfte ich früh am Morgen meine Siebensachen in eine kleine Reisetasche und ging zu Fuß zur Stadtmitte, wo sich unser Wehrkreiskommando befand. Es war herrlichster Frühling. In den Hausgärten lärmten die Meisen. Die Straßen waren noch feucht vom Regen in der Nacht. Die Luft war von milder Frische und der Geruch der jungen Pappeltriebe reizte dazu, tief durch die Nase einzuatmen. Etwas verschämt hielt ich Ausschau nach Leidensgenossen. Aber keiner der wenigen Passanten machte den Eindruck eines einrückenden Soldaten.

Dann, auf dem Hof des Wehrkreiskommandos, der mit ausladenden Kastanienbäumen den Eindruck eines herrschaftlichen Parks machte, traf ich die jüngeren und sehr jungen wehrpflichtigen Männer. Nur wenige sprachen miteinander oder kannten sich. Es wurde kräftig geraucht.

Pünktlich sieben Uhr erschien ein markig aussehender, ranghöherer Offizier auf dem Hof. Bisher hatte ich keinen Nerv für militärische Organisation entwickelt. Die Dienstgrade kannte ich nicht, aber die geflochtenen, silberdurchwirkten Schulterstücke, das schmucke Äußere und der gepflegte Bauch des Offiziers ließen einen höheren Rang vermuten.

Der Markige nahm mit väterlichen Worten die noch zivilen Rekruten zusammen. Er sprach vom Teufel Alkohol und appellierte an alle, das Mitgebrachte wegzugießen. Er hatte seine Erfahrungen. Nach der knappen Ansprache zog er sich diskret in das im Hinterhof liegende Dienstgebäude zurück. Er war dafür verantwortlich, dass die Neuen keinen Stoff in den Taschen hatten. Die Anwesenden verstanden sofort. Man verstreute sich in die Ecken des mit einer hohen Mauer eingegrenzten Hofes und vertilgte die Vorräte, verschämt in kleinen Grüppchen nach dem Motto „was wegmuss, muss weg“. Ich hatte keine Flaschen in der Tasche und somit entfiel für mich meine erste militärische Übung. Das Leergut stand danach verschämt in den Ecken - vielleicht für den Hausmeister, der sich das Pfandgeld einlösen konnte.

Gegen halb acht kam ein Bus der städtischen Verkehrsbetriebe. Der sollte uns zum Sammeltransport nach Jena bringen. Es ging alles automatisch. In Jena am Bahnhof war die Lage schon wesentlich brenzliger. Offiziere mit und ohne Armbinden liefen in aufrechter Haltung und mit knallenden Schritten über den mit Kopfsteinpflaster belegten Vorplatz. Namenslisten wurden verlesen und mit wichtigen Mienen übergeben. Auf der Bank gegenüber, ein Mädchen und ein Junge, volltrunken ineinander verschlungen in trauriger Abschiedsstimmung. Am Bahnhofskiosk um die Ecke herrschte hektische Betriebsamkeit. Einziges Getränk mit einigen Umdrehungen war noch ein Bitterlikör, der flaschenweise wie Bier getrunken wurde. Am Zeitungsstand in der Bahnhofshalle waren mittlerweile alles Alkoholika ausverkauft. Ich dachte besorgt an die Wirkung.

Am Eingang zum Bahnhof erfolgte die erste Aufstellung in einer Viererreihe. Die Namen der Rekruten wurden laut verlesen und jeder musste sich melden. In den hinteren Reihen herrschte noch feuchte Protestheiterkeit. Vorn traute sich keiner laut zu sein. Unser Zug kam an. Aus seinen Fenstern drang trunkene und grölende Frontfröhlichkeit. Die Offiziere hielten sich dezent im Hintergrund. Das alles war nur das Vorspiel. Jena war die letzte Station vor unserem Zielbahnhof Erfurt. Einsteigen! Im Zug hing ein streng säuerlicher, schwer verqualmter Dunst. Einige standen apathisch an den Abteilfenstern. Mir gegenüber lärmte eine Skatrunde. Versunken betrachtete ich die im hellen Grün leuchtende Frühlingslandschaft. Plötzlich wurde mir der Vollzug eines Gesetzes schmerzlich bewusst. Bisher hatte ich das Gefühl, obwohl ich in der DDR fest eingesperrt war, dass mein Handeln doch etwas von meinem Willen und Wollen mitbestimmt wurde. Nun stand ich in einem Zug, angefüllt mit mehr oder weniger betrunkenen jungen Rekruten und wusste genau, dass ich für die nächsten Monate abgemeldet war, als Mensch und als Individuum, machtlos, hilflos.
Mein Nachbar sah grün aus im Gesicht. Seine letzte Kraft brauchte er, um seinen Mageninhalt nicht direkt vor meinen Füßen zu entleeren. Er drückte sich einen Meter weiter in den Gang und übergab sich mit hohlem Geräusch. Sein Nebenmann, den es getroffen hatte, fluchte lautstark und verschwand in der Toilette. Die anderen rückten zur Seite, um nicht direkt im Erbrochenen stehen zu müssen. Ich unterdrückte den Gedanken an einen Viehwagen und betrachtete konzentriert die Welt draußen. Gestank und Lärm schwollen an und ich wartete sehnlich auf das Ende dieser Fahrt. Es waren groteske Gegensätze, draußen eine milde Landschaft im herrlichsten Frühling und hellem Sonnenschein und hier im Zug menschliches Chaos, Gejohle, Apathie und ekliger Gestank. Bisher war ich immer geregelte Bahnen gewöhnt. Von der Mutter gut erzogen, fleißig gelernt, studiert, geheiratet, zweimal Vater geworden und in der Firma Abteilungsleiter. Alles normal und unaufgeregt. Ich hatte mich an das Leben in einem Land mit unüberwindlichen Grenzen so gut es ging angepasst. Was nun passierte, war neu, unberechenbar und deshalb Furcht einflößend. Ich ahnte, dass für mich als Soldat neue Einsichten wichtig wurden. Ich hatte mir vorgenommen, alles genau zu beobachten und als Ausnahmesituation von mir fern zu halten. Das war eine Ausnahmesituation.

Die Waggons rumpelten über einige Weichen. Wir erreichten einen großen Bahnhof. Im Nachbarabteil wurde mit steigender Inbrunst laut und falsch gesungen.

Wir waren in Erfurt, endlich. Die Offiziere hielten Schilder mit Ortsnamen in die Höhe. Ich wurde dem Standort „G“ zugeteilt. Ich suchte die Truppe „G“ und reihte mich ein. Noch im Schlenderschritt gingen wir zu einem bereitstehenden Zug auf einem Nebengleis. Wieder einsteigen, und noch drei Stationen. Dann erreichten wir unser Ziel, Gotha. Auf dem Bahnhofsplatz in Reihe aufgestellt Militärtransporter der Marke GRASZ. Riesige Pritschenwagen mit mächtigen Ballonreifen. Offiziere und Mannschaften, die die Neuen in Empfang nehmen sollten, gab es in Hülle und Fülle. Wir mussten zum ersten Mal in Reih und Glied antreten. Von hinten brüllten einige Betrunkene und versuchten, die Begrüßungsrede zu stören. Offiziell nahm man davon auch hier noch keine Notiz. Ein blasser Junge im Vollrausch fiel bei dem Versuch, auf den Mannschaftswagen zu klettern, kopfüber herunter. Wir zerrten ihn gemeinsam nach oben. Dann zeigte unser Fahrer mit Gas und Bremse seine helle Freude an der Bewegung. Wir hatten zu kämpfen, uns auf den Bänken zu halten und jedes Schlagloch stauchte und schweißte uns fest ineinander.

Einkleiden

Das Objekt war hell, neu und modern, keine der Kasernen unserer Väter. Die waren damals in Ostdeutschland in der Regel von den Russen belegt. Im Kulturraum der Kaserne verloren wir endgültig unser Dasein als Zivilist. Im Laufschritt folgte ich einem Unteroffizier, der Einfachheit halber Uffz genannt. Er trug wie bei einem Wettkampf eine Zahl auf Brust und Rücken. Ich war der No. 8 zugeteilt. Es fiel mir schwer, meine Kleidung, meine geliebten Jeans, das karierte Hemd und meine Unterwäsche abzugeben. Aber ich musste!

Es gab für alle einen braunen Einheitstrainingsanzug, den mit den schwarz-rot-gelben Streifen. Dann im Laufschritt zur Effektenkammer. Ich war eine Sommerresi und bekam deshalb keine Winterausrüstung mit. Es war aber auch so genug zu schleppen. Nach einer weitern halben Stunde wurden wir in eine Unterkunft kommandiert. Aber es belieb alles sehr unklar. Vielleicht müssten wir noch in ein anderes Gebäude? Keiner wusste etwas. Erneut wurden Namen aufgerufen. Die Umquartierung begann. Ich wurde nicht aufgerufen und döste weiter vor mich hin. So also geht Militär, dachte ich. Später wurde der mit mir verbliebene Rest von einem etwas schnodderigen Offizier auf die umliegenden Stuben aufgeteilt. Bald wurde klar, dass der Schnodderige unser Spieß war. Die meisten im Zimmer hatten bereits gedient. Wir stellten uns vor und ich war froh, unter Gleichaltrigen zu sein.

Beim Frisör


Bei der Nationalen Volksarmee war ein kurzer Haarschnitt zu dieser Zeit noch Pflicht und Bart war verboten. Wir mussten heraustreten und wurden in einen barackenähnlichen Bau auf dem Hof gegenüber geschickt. Hier war die Standortverwaltung und in einem unbenutzten Zimmer am Ende des Ganges der Frisör für die Neuen. Ein junger Mann und eine burschikose, kräftige Frau mittleren Alters schwangen ihre Scherwerkzeuge. In dem kahlen Raum standen einzig zwei Stühle und es lagen Berge von Haaren auf dem Boden. Es ging zu, wie bei der Schafschur. Noch nie im Leben war ich in einer solch affenartigen Geschwindigkeit meine Haare losgeworden. Wahrscheinlich hatte ich mit der Burschikosen besonderes Pech, denn es schien ihr einen besonderen Spaß zu machen, die Schermaschine schneller zu bewegen, als diese schnitt. So fühlte es sich an, als ob sie mir die Haare vom Kopf riss. Sie rupfte meinen Kopf wie eine Bowlingkugel herum und quittierte leisen Protest mit einem tiefen knurrenden „stillhalten!“. Die Prozedur dauerte gefühlte zehn Minuten, war aber nach ganzen drei Minuten vorüber. Dann wurden wir zum Fotografieren geschickt. Die Identität der neuen Rekruten musste mit Passfoto von vorn und von der Seite in eine Meldekartei eingetragen werden. Hier sah ich mich erstmals im Spiegel. Damals trug ich im zivilen Leben einen fülligen Haarschopf, mit einer leichten Stirnlocke, die Haare an den Seiten reichten über die Ohren und eine volle Matratze am Hinterkopf. Nach der Schur war von der Haarpracht nichts mehr übrig und mein Kopf sah aus wie eine gerupfte Kokosnuss. Das war der Verlust der letzten Reste meines zivilen Daseins. Genau jetzt fühlte ich mich als Soldat X, Y oder als Schütze Arsch.

Die erste Nacht


Es war zehn Uhr. Der OVD oder in Langform der Offizier vom Dienst hatte seinen Stubenrundgang beendet. Unsere Stube war abgemeldet und alle lagen in den Betten. Die Abmeldung war holprig gewesen. Der heute zum Stubenältesten ernannte Resi hatte den Spruch noch nicht ganz beherrscht. Später konnte auch ich das „Stube 9, mit 6 Mann belegt, 6 Mann anwesend, Stube gelüftet und gekehrt, es meldet Soldat T.“ recht flüssig. Noch hell wach und mit dem Erlebten im Kopf, lag ich mit juckender Kopfhaut auf dem Oberbett und lausche auf die Geräusche der Kaserne. Zunächst herrschten einige Minuten tiefe Stille. Dann, erst einzeln und später zum Teil gleichzeitig, hörte ich das Zersplittern von Glasflaschen auf der Betonstraße unter unseren Fenstern. Bis zum Einschlafen zählte ich dreizehn Aufschläge. Ich kannte die Zusammenhänge noch nicht, aber ich war richtig neugierig, was dahintersteckte. Ich schlief fest. Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, fegten zwei Soldaten der Wache ruhig und gewissenhaft die Glasscherben von der Betonstraße. Für mich war das eine noch unerklärliche, jedoch sich täglich wiederholende Übung. Den Sinn verstand ich drei Tage später, als ich in aller Frühe aus dem Fenster der Toilette die Wiese hinter dem Haus betrachtete. In zählte 15 leere Flaschen – Schnapsflaschen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Beweistücke des allabendlichen kräftigen Schlaftrunkes wurden einfach durch die Fenster entsorgt. Ich wunderte mich, wie das so geht, unter den Augen der Offiziere. Mir schwante, dass es ein verlottertes System geben musste, bei dem keiner dem Anderen mehr weh tat, als unbedingt nötig, da ein Aufbegehren gegen den Schlendrian für die Offiziere zusätzliche Arbeit und Frust bedeutet hätten. Wir in der Ausbildungskompanie wussten von all dem noch recht wenig. Wir mussten zunächst das Laufen lernen.

Links schweeenkt, Marsch!

Vor jeder Mahlzeit wurde in Reih und Glied angetreten. Mit „links schweeenkt marsch!“ und geradeee aus!“ marschierten wir zur Kantine. Anfänglich noch ohne Gesang. Aber das war gegen die Vorschrift. Innerhalb des Objektes gab es nur drei Arten der Fortbewegung. Marschschritt mit Gesang, Laufschritt und Exerzierschritt. Unkonzentriertes Dahintrotten durfte nicht aufkommen und wurde von den Vorgesetzten vehement bekämpft. Unser Uffz kannte die Marschbefehle schlechter, als die an der Spitze des Zuges marschierenden gedienten Reservisten. Vielleicht hatte er auch eine Rechts-Links-Schwäche oder er war Linkshänder. So hatten wir immer wieder höllischen Spaß, wenn der Zug, weil der Uffz die Seiten verwechselte, gegen eine Hausmauer schwenkte oder mit Inbrunst über ein Rosenbeet trampelte. Der Uffz wollte eigentlich in eine dem Rosenbeet gegenüber liegende Seitenstraße abbiegen lassen und gab wieder den falschen Befehl. Für diese kleinen Späße revanchierte er sich mit Extras nach dem Essen. Wir durften dann je nach seiner Laune zehn Mal mit Gesang um den Block marschieren, weil bei dem Befehl „Abteiluuung – halt!“ immer wieder einige absichtlich daneben traten und es sich anhörte wie Pferdegetrappel.

Unsere Stube

Inzwischen hatten wir uns auf der Stube etwas näher kennen gelernt. Da war Werner im Doppelstockbett unter mir, ein ruhiger, gesetzter Mann Mitte Dreißig. Als Ingenieur verstand er viel vom Bauen. Er beriet gern und ausführlich in allen Fragen, die Häuslebauer so hatten. An der Tür, im Oberbett schlief Jürgen. Er arbeitete in einem Großbetrieb als sozialistischer Leiter auf einer höheren Leitungsebene, so nannte man damals die Manager. Jürgen unterhielt die Stube mit immer neuen und skurrilen Episoden aus der Großindustrie. Es war beruhigend zu erfahren, dass überall das gleiche organisierte Chaos und Schlendrian herrschten. Während der theoretischen Ausbildung verstand es Jürgen meisterlich, die Ausbildungsoffiziere mit immer neuen und komplizierten Fragen zur Ökonomie des Sozialismus vom eigentlichen Thema abzulenken, während der Rest der Gruppe entspannt vor sich hindöste. Im Unterbett hatte Rainer sein Quartier. Er war groß und massig. Mit dem Doktor Titel vor seinem Namen wussten die Offiziere wenig anzufangen. Sein immerfort ruhig-fröhliches Wesen trug zur guten Atmosphäre in unserer Stube bei. Am Fenster schliefen Gerhard und Bernd. Gerhard war weit gereist. Er arbeitete im Außenhandel und kannte die Welt von Australien bis Japan. Im Raum herrschte immer gespannte Aufmerksamkeit, wenn er abends mit leiser und verhaltener Stimme von seinen Erlebnissen aus der großen weiten Welt berichtete. Wer hatte schon solche Erfahrungen? Ein wenig Außenseiter war Bernd, der Waffenspezialist. Er kannte jedes Modell von der Mauserpistole bis zur alten 08 und seinen ganzen Ehrgeiz steckte er in die Beschaffung einer Revolvertasche. Zu Hause besaß Bernd früher eine Waffensammlung. Zu seinem Leidwesen waren aber nur noch Modelle aus Holz oder Plastik übriggeblieben. Die richtigen Waffen musste er, als sein Hobby irgendwann ruchbar geworden war, dem Untersuchungsrichter ausliefern. Nützlich war auch, dass einige aus der Stube schon 18 Monate gedient hatten und sich daher sehr gut mit den zu erwartenden Widrigkeiten auskannten. Das machte sich besonders bei den Alarmübungen bezahlt, wenn wir nach Zeit in das mit vielen Riemchen und Haken versehene Kampfgeschirr steigen mussten. Ein helfender Griff konnte für die Stube wertvolle Sekunden retten.

König Alkohol

Während der kurzen drei Monate als Resi bemerke ich recht bald, dass der Alkohol eine sehr wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle bei der NVA spielte. Das begann bereits in der Ausbildungskompanie und es war reiner Sport für die Soldaten, immer neue Wege zu finden, den Stoff in die Kaserne zu schmuggeln. Das Mitleid der Außenwelt hatte man auf seiner Seite und so machten sich auch Ehefrauen, Verwandte und Freunde zu nützlichen Helfern.

Simpel und durchschaubar war, den Fruchtsaft des eingeweckten Obstes gegen Wodka auszutauschen. Die treusorgenden Mütter und Frauen hatten diesen Trick oft versucht, was zu Folge hatte, dass die routinemäßige Päckchenkontrolle um den Schütteltest erweitert worden war. Hörte der Spieß also beim Schütteln des Päckchens das Gluckern einer Flüssigkeit, wurden zuerst das Päckchen und dann das verdächtige Kompottglas geöffnet. Normalerweise sollte dieser Alkohol entsorgt werden. Unsere Stube hatte in kurzer Zeit ein sehr gutes Verhältnis zum Spieß aufgebaut. So kam es vor, dass er auf dem Gang brüllte „Reservisten raustreten zum Sondereinsatz!“. Der offizielle Befehl lautete Räumarbeiten in der Effektenkammer. Waren wir dann vollzählig angetreten und die Tür des Lagerraumes hinter uns zugesperrt, holte der Spieß mit breitem Grinsen ein geöffnetes Kompottglas und einen Löffel hervor und übergab uns das Corpus Delicti zur Entsorgung. Weil man sich aber auf diese gelegentlichen Aufheiterungen nicht verlassen konnte, wurden intelligentere Wege gefunden. Einer von uns hatte findige Kollegen, die wiederum verlässliche Freunde in einer Likörfabrik auf dem Wald kannten. Bereits am dritten Besuchswochenende schleppten seine Kollegen eine volle Reisetasche mit Flaschen an. Das DDR-Nachahmer-Getränk Vita-Cola war bräunlich und wurde in Kronkorken-Flaschen geliefert. Nun hatten wir etwa 20 Flaschen Vita-Cola. Alles original. Nur der Inhalt war etwas modifiziert zu Bohnekamp und Röhntropfen. Selbst unser Spieß war begeistert von der Idee, als wir Ihn zur Entsorgung der letzten Flasche einluden.

Nach dem Wechsel vom Ausbildungslager zur Kampfeinheit, die den Luftraum mit Luftabwehrraketen schützen sollte, war Alkohol ebenfalls das große Thema. Wer am Wochenende Urlaub hatte, und noch nichts mitgebracht hatte, wurde unmissverständlich aufgefordert, etwas für den Bestand zu tun. Beim ersten Urlaub traute ich mich nicht, die Schnapsflaschen so einfach an der Wache am Eingang vorbei zutragen und den Nervenkitzel der Entdeckung zu ertragen. Der solide aber aufwändige Schmuggelweg war, die Flaschen, bevor man die Kaserne betrat, unter den Außenzaun des Objektes ins Gras zu drehen. Man meldete sich später zum Joggen ab und brachte nach jeder Tour ein „07er Rohr“ mit, so bezeichnete man die 0,7 l 45%igen. Später ermannte ich mich, auch eine bis zum Rand mit Schnapsflaschen gefüllte Reisetasche an der Wache vorbei zu tragen. Natürlich mit starkem Herzklopfen. Es dauerte einige Zeit, bis ich erfuhr, wo der Stoff sicher gelagert wurde. Das Diensthabende System machte es möglich. Um die Raketen immer einsatzbereit zu haben, war für den Gefechtsbunker ein Dienstplan erforderlich, bei dem die Soldaten 72 Stunden im Bunker zubrachten. Um ihre persönlichen Habseligkeiten in dieser Zeit sicher zu verwahren, gab es einen Spind pro Stube mit extra Vorhängeschloss. Der Schlüssel dazu war am Mann im Gefechtsbunker und wurde von Schicht zu Schicht weitergegeben. Dieser Spind war damit der Kontrolle der Offiziere entzogen und diente als Tresor. Nur einmal hatte ich einen Blick auf den Inhalt des Spindes werfen dürfen, der bis zur Hälfte mit säuberlich gestapelten Schnapsflaschen gefüllt war. Von da an war ich sicher, dass uns der Stoff nie ausgehen würde.

Lebenshilfe für den Spieß

Die Dienstzeit unseres Spießes ging dem Ende entgegen. Ihm dämmerte langsam, dass er durch die vielen Jahre bei der Armee, er war als Junger Mann wohl nach der Oberschule als Berufssoldat zur Fahne gekommen, im zivilen Leben keine großen Chancen auf eine befriedigende Arbeit mit einer guten Bezahlung hatte. Sein Dienstgrad war auch zu gering, als dass er die Aussicht hatte, wie viele der ausgedienten höheren Offiziere, eine gute Position in einem VEB-Betrieb zugeschanzt zu bekommen. Viele ranghohe, ausgediente Offiziere bevölkerten die Kaderabteilunge oder die Abteilungen für Sicherheit in der Industrie. Wir Reservisten gingen alle einer geregelten Arbeit mit guter Bezahlung nach. Wir hatten es in den Augen unseres Spießes im Leben schon zu etwas gebracht. Und so nutzte er jede Gelegenheit, sich mit uns über unseren Beruf, das Leben draußen in den Betrieben und die Möglichkeiten zu unterhalten, wie man als Zivilist Fuß fassen könnte. Besonders Jürgen und Rainer kümmerten sich rührend um ihn. Das ging so weit, dass wir Pläne erarbeiteten, welche Schritte draußen Erfolg versprechenden sein konnten und wie eine gute Bewerbung auszusehen hat. Der Spieß tat uns in seiner Hilfsbedürftigkeit wirklich leid. In kurzer Zeit entwickelte sich ein vertrautes Verhältnis zu ihm. Deshalb hatten wir auch viel weniger als die jungen Soldaten mit den Widrigkeiten verstopfter Toiletten und verkeimter Waschbecken zu kämpfen und kamen so glimpflich über die Zeit der Grundausbildung. Was aus ihm geworden ist, habe ich nicht erfahren.

Fahrschule - die unerlaubte Entfernung von der Truppe in Erfurt

Als Inhaber der Fahrerlaubnisklasse 5, die das Führen von LKW erlaubte, war ich bei der Fahne privilegiert. Die Fahrschule hatte ich schon vor Jahren bei der GST absolviert und so wurde ich bei der Armee zum Rampenfahrer ausgebildet. Im Falle eines Krieges sollten die Flugabwehrraketen von Ihren festen Stellungen in die Wälder der Umgebung verlegt werden. Transportmittel waren die beweglichen Abschussrampen, die von schweren Zugmaschinen vom Typ GRASZ gezogen wurden. Für einen Autonarren wie mich war die Fahrausbildung auf dem GRASZ wie ein Sonderurlaub. Schon das martialische Geräusch des Motors, der bei Volllast für jeden Kilometer einen Liter Diesel verbrauchte, war herrlichste Musik in meinen Ohren. Unsere Fahrlehrer holten uns im Objekt zum Üben im Gelände ab. Wir lernten schnell mit Zwischengas und Zwischenkuppeln die wuchtigen und bockigen Maschinen in Bewegung zu setzen. Am ersten Tag wurde im Gelände nahe der Kaserne geübt. Es hatte geregnet und wir kämpften uns durch den Matsch eines frisch gepflügten Feldes. Der zweite GRASZ war trotz seiner Ballonreifen einen kleinen Abhang hinuntergerutscht und kam aus eigener Kraft nicht los. Es wurde mit Seilwinde und Spill so lange geübt, bis das Fahrzeug wieder flott war. Am Ende jeden Tages stand die Fahrzeugwäsche, die am ersten Tag wegen des vielen Schlamms besonders viel Zeit in Anspruch nahm. Am schönsten war die Fahrschule auf Landstraßen und in Städten. Wenn der Gegenverkehr der riesigen Transporter ansichtig wurde, versuchten die meisten Fahrzeuge, sich in irgendeine Lücke zu verdrücken und in den Städten hielt jeder gebührenden Abstand. Unsere Zielstadt war regelmäßig Erfurt. Beide Fahrlehrer hatten dort eine feste Freundin, die sie immer zu einem Schäferstündchen trafen. Wir bekamen dann „Ausgang“ mit der dringenden Aufforderung, um jeden Raupenschlepper - so wurden die Offiziere genannt – einen größtmöglichen Bogen zu machen. Wichtigste Regel war, sofort die Straßenseite zu wechseln, wenn ein Offizier in Sicht kam. Und sollte sich ein Zusammentreffen mit einem Offizier trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch nicht vermeiden lassen, so musste unbedingt zackig gegrüßt werden. Somit beugte man der Gefahr vor, nach dem Urlaubsschein gefragt zu werden, den wir als Fahrschüler nicht hatten. Das war ein herrlich prickelndes Gefühl, weg von der Kaserne, mitten unter den Menschen der Stadt und ohne Schein. Zum Glück gab es in dieser Zeit keine Zwischenfälle und so waren an den Fahrschultagen die Fahrlehrer und alle Fahrschüler bei bester Laune. Nach zwei Wochen Ausbildung bestand ich dann die Prüfung als Rampenfahrer.


Die Gasmaskenbrille


Ich bin Brillenträger. Angefangen hatte meine Kurzsichtigkeit in der Grundschule und von Jahr zu Jahr brauchte ich stärkere Gläser. Ohne Brille war ich nun mit 36 Jahren etwas unbeholfen und an Schießen oder Fahren war nicht zu denken. Weil der Gasalarm wichtiger Teil fast jede Übung war, die Brille aber nicht unter die Maske passte, wurde eine Gasmaskenbrille benötigt. Schon beim Einkleiden notierte sich ein Offizier die Brillenstärke und ließ wissen, dass die Maskengläser in den nächsten Tagen kommen würden. Die Tage und Wochen zogen sich hin und es gab die ersten Übungen mit der Maske. Ich versuchte es anfänglich ohne Brille, fiel aber durch unbeholfenes Umherirren auf und wurde von der Übung befreit. Bis zum Ende meiner Dienstzeit gab es keine Gasmaskengläser, was mir viele ruhige Stunden verschaffte.

Die Küchenschaben

In den ersten Wochen der Ausbildung waren die Essenszeiten die wichtigsten Momente des Tages. Man konnte sitzen, herumhängen, essen, erzählen und wurde nicht ständig belauert und kommandiert. Deshalb wurde das Essen sehr bewusst wahrgenommen. Natürlich erwarteten wir keine gute Küche, wir alle kannten unsere Betriebskantinen und waren den sozialistischen Einheitspamp gewöhnt. Was aber diese Armeekantine unterschied, waren der Dreck ringsum, die fleckigen Klamotten der Küchensoldaten und das alte, graue Abwaschwasser, das, wenn es Kartoffelmus oder Salzkartoffeln gab, am Boden des Tellers schwamm. Einige Kameraden unserer Stube hatten aus Ekel schon auf Trockenverpflegung umgestellt. Sie aßen Kekse und Brot und kippten das Essen in die Tonne. Auf der Stube entschlossen wir uns, etwas zu unternehmen. Unser Spieß war dabei sehr hilfreich. Er meinte, eine von uns allen unterschriebene Beschwerde, wie wir sie zuerst im Sinn hatten, würde als Zusammenrottung bewertet und würde am Ende gegen uns gerichtet. Um Erfolg zu haben, solle, so der Spieß, jeder handschriftlich einen anderen Text verfassen. Die Beschwerden mussten auch an verschiedenen Tagen abgegeben werden. Das Schreiben fiel allen auf der Stube leicht und so hatten wir richtigen Spaß, die Formulierungen für den Dreck in der Küche und den Fraß auf den Tellern in gehobenem Deutsch und breiter Vielfalt auszumalen. Dann brachten wir, verteilt über die Woche, unsere Beschwerden zum Kommandeur. Eine Woche lang passierte nichts und wir dachten schon, der Anlauf sei verpufft. In der Woche darauf wurden alle von der Stube zum Kommandeur des Standortes befohlen. Die Schreiben wurden laut verlesen und der Kommandeur befragte mit strenger Mine jeden einzelnen, ob das so stimmen würde. Jeder bejahte seinen Text. Was dann passierte war kein richtiger Sieg. Wir sahen, wie die Küchenschaben, so nannten wir das militärische Küchenpersonal, bis tief in die Nacht hinein die Küche putzen musste. Am nächsten Tag hatten alle Küchensoldaten frische Schürzen umgebunden und trugen saubere Arbeitshemden. Die Wände und der Tresen waren sauber und der Fußboden gescheuert. Aber es war durchgesickert, wer ihnen diese Schmach zugefügt hatte, und so flog schon mal ein Teller mit heißer Suppe über den Tresen und wüste Drohungen mit Vergeltung wurden verbreitet. Am dritten Tag danach hatte sich alles beruhigt, wobei wir es bis zum Ende der Ausbildung vermieden, außerhalb der Essenszeiten der Kantine zu nahe zu kommen.


Der Düngerflieger

Es war ein spontanes Ereignis. Wir hatten eine Infanterieübung am nahen liegenden Wald und den angrenzenden Feldern und Wiesen. Jeder war ausgerüstet mit der Kalaschnikow, zwei Magazinen Platzpatronen und dem Spaten. Hauptsächlich wurde das unbeliebte Eingraben geübt. Man schuftete im Angesicht seines Schweißes, um am zugewiesenen Platz ein Loch zu graben, in dem man sich verkriechen konnte. Zwischendurch wurde „Gaaaasalarm“ gebrüllt, was zur Folge hatte, dass die Schutzplanen angelegt werden mussten. Plastiküberzüge, unter denen jede Arbeit zu höllischen Schweißausbrüchen führte. Dazu die Gasmaske, die das Atmen zusätzlich erschwerte und auch für Soldaten mit Sehschwäche Pflicht war. Der Tag war also angefüllt mit viel derartiger Kurzweil. Am Nachmittag auf dem Heimweg dann, die Truppe war physisch gezeichnet und musste zu allem Überfluss mehrere Verwundete auf provisorischen Holzgestellen schleppen, näherte sich im Tiefflug ein Düngerflieger. Irgendwie ritt einen der Ausbilder der Teufel und er schrie „Luftziel bekämpfen“. Alle warfen sich in den Dreck und feuert mit Inbrunst ihre Übungsmunition in Richtung Düngerflieger ab. Der Pilot wiederum hatte den Ball sofort aufgegriffen und drehte tief über unseren Köpfen einige Sonderrunden. Alle Müdigkeit war verflogen, der Spieltrieb siegte und so wurde dieser Tag mit einer ungewöhnlichen Übung abgeschlossen.


Nachtschießen

Schießübungen waren eigentlich nicht unbeliebt. Konnte man doch einmal mit diesem martialischen Ding, der Waffe, hantieren. Die Kalaschnikow, eine Maschinenpistole aus russischer Produktion, arbeitet wie ein bitter böses Uhrwerk. Magazin füllen, Magazin einführen, entsichern, im Liegen, kniend oder stehend zielen und nach dem Befehl „Feuer“ Kimme und Korn in Übereinstimmung bringen und den Finger krümmen. Krach, und die Scheibe fällt, getroffen. Ich war erschrocken, wie präzise diese Waffe arbeitet. Bei dem Gedanken, dass die gefallene Scheibe ein ausgelöschtes Menschenleben sein soll, wurde mir flau in der Magengegend.

Das Schießen nahm seinen Lauf, jeder hatte schon seine drei Anschlagarten, liegend, im Kniestand und stehend geübt und man konnte beobachten, dass einige hell begeistert waren. Zugaben waren Feuerstößen kniend oder stehend, mit Leuchtspurmunition. Ein höllisches Spiel. Als es Abend geworden war, einige der Kameraden begannen murrend zu frieren, wurden die Scheinwerfer aufgebaut und auf die Zielscheiben eingerichtet. Bei Einbruch der völligen Dunkelheit nahmen wir wieder Aufstellung und wurden in Gruppen eingeteilt. Nach dem ersten Durchgang liegend schießen passierte es dann. Die nächsten sechs Schützen legten sich zurecht und zielten. Nach dem Befehl „Feuer“ verlöschten plötzlich beide Scheinwerfer und Funken stoben auf. Chaos, Gebrüll der Offizier. Feuer sofort einstellen! Waffen sichern! Waffen abgeben! Antreten! es herrschte bei dem Durcheinander ein unheimliches und unsicheres Gefühl. Wer hatte geschossen? Die liegenden Schützen? Oder hatte einer der Kameraden gar scharfe Munition von den Übungen am Tage aufgespart? Ein oder zwei Soldaten hatten bei dem Befehl „Feuer“ auf die Scheinwerfer gezielt und diese „liquidiert“. Damit hatten sie die lästige Übung brutal und schnell beendet. Die Untersuchung dieses Vorkommnisses dauerte Wochen, brachte aber kein Ergebnis. Die Lampenschützen wurden nicht entdeckt. Unter den Kameraden gab es nur Schweigen, man hatte damit nichts am Hute. In meiner Zeit gab es nach diesem Vorfall kein Nachtschießen mehr.


Die Herren Doktori

In jeder der drei Resi-Gruppen unseres Ganges gab einen Promovierten, einen Doktor. Die drei arbeiteten draußen in verantwortungsvollen Funktionen und schauten zuweilen genervt auf das infantile Treiben, das Üben bis zum Erbrechen. Man sah sie oft zusammen im Kasernengelände, wenn etwas Freizeit war. Aber die Fortbewegung über den Kasernenhof hatte Tücken. Schräg hinter dem Exerzierplatz war der Kiosk, der die Soldaten mit dem Nötigsten versah. Die Doktoren schlenderten in den ersten Tagen der Ausbildung zum Kiosk und nahmen auf dem Rückweg die Abkürzung über den Exerzierplatz. Sie plauderten und einer hatte gar eine Hand in der Tasche. Der Standortchef, der das Trio sah, lief rot an im Gesicht und orderte sie zu sich. Sie wurden belehrt, dass es verboten sei, im Schlenderschritt über den Exerzierplatz zu laufen. Die drei schauten bei der Standpauke missmutig und etwas ratlos. Es schien, sie hatten zwar gehört, aber nicht verstanden. Schon am nächsten Tag wiederholte sich der Vorfall und wieder liefen sie dem Offizier direkt in die Arme. Nachdem der sich ausgetobt hatte, wurde eine harte Strafe angekündigt. Letztendlich wurden sie dazu verdonnert, das Gras zwischen den Pflastersteinen der Zufahrtsstraße zu entfernen. An den kommenden Tagen sah man die drei, im anregenden Gespräch vertieft, Grashalm für Grashalm mit Langsamkeit und Systematik aus den Pflasterfugen pulen…

Die erste Übung mit der Raketenrampe

Eine Woche nach Ankunft in der Raketenstellung wurde die erste Fahrübung befohlen. Ich erwartete einen zackigen Übungstag, war ich doch jetzt bei einer Kampfeinheit, die im Ernstfall die DDR-Bürger vor den anfliegenden Bombern des Gegners schützen sollte. Der Klassenfeind, unsere Brüder im Westen und die Amis waren unsere Gegner. Wir traten am Kfz-Park an und jedem Fahrer wurde eine Zugmaschine zugeteilt. Ich erhielt den Zündschlüssel und ging in froher Erwartung zu meinem Fahrzeug. Ich kletterte ins Fahrerhaus und steckte freudig erregt den Schlüssel in das Zündschloss. Aber der Versuch, den Motor zu starten scheiterte, der Anlasser sagte keinen Mucks und es brannte auch keine Kontrolllampe. Bei der ersten Inspektion der Elektrik stellte ich verwundert fest, dass die Batterie fehlte. Der Ausbilder sagte nur lakonisch, es würden doch genügend Fahrzeuge in der Halle stehen und ich sollte mir das Fehlende bitte von der FutK, ausborgen. Die Funktechnische Kompanie stand mit Ihren Fahrzeugen in der gleichen Halle im Nachbarquadrat und so begann ich, Stück für Stück mein Fahrzeug aufzurüsten. Nach der Batterie folgte die Hauptsicherung, nach deren Einbau wenigstens Strom vorhanden war. Die Prüfung des Kühlwassers erbrachte, der Kühler war leer. Beim Füllen bemerkte ich dann, dass das Kühlwasser, so wie ich es oben einfüllte, unten wieder herausfloss. Ich kroch unter den Motor und entdeckte, dass auch der Wasserablasshahn fehlte. Mittlerweile schon völlig hemmungslos, schraubte ich bei unseren Nachbarn einen Ablasshahn aus, wobei natürlich dieser Kühler sich entleerte. Mit Verwunderung sah ich, dass fast alle meine Kameraden beim FutK unter den Autos herumkrochen, um sich die fehlenden Teile zu besorgen. Das also war unsere viel gerühmte Nationale Volksarmee? So konnte man nur hoffen, dass der Ernstfall nie eintreten würde, weil ein effizienter Gegner alle Kraftfahrzeuge noch in der Halle zerstört hätte, bevor sie den Standort verlassen konnten. Aus dem Fahren wurde an diesem Tag nur wenig. Nach Stunden mühevoller Bastelei kuppelten wir die schwere Rampe einmal an und bewegten sie vom Hof auf die Straße und wieder zurück. Das war alles und nie wieder gab es eine ähnliche Übung.

Eine Übungsrakete fällt

Neben den fahrbaren Raketenrampen gab es noch die Raketentransporter, die die Geschosse vom Lager, wo auch deren Betankung erfolgte, zur Stellung zu bringen hatten. Die heikelste Aufgabe war es, die betankten Raketen auf den Transporter zu hieven oder vom Transporter auf die Abschussrampe umzuladen. Diese Abläufe wurden wieder und wieder trainiert und jede Handhabung wurde mit der Stoppuhr verfolgt, weil es dabei um Sekunden und absolute Fehlerfreiheit ging. Einerseits war größte Vorsicht geboten. Eine betankte Rakete war hochexplosiv. Andererseits musste im Ernstfall alles sehr schnell gehen. Geübt wurde mit einem Dummy und die Übungsergebnisse wurden dem Stab übergeben. Hier war, wie beim Fußball der Trainer, der diensthabende Ausbilder der Verantwortliche. Wurden die Vorgaben nicht erreicht, wurde zuerst der Offizier belangt, der natürlich versuchte, nach unten weiter auszuteilen. Und so war ein fein gesponnenes Netz von Abhängigkeiten entstanden. War der Ausbilder beliebt oder besser gesagt „konnte er“ mit den Jungs, waren die Ladezeiten gut und er hatte Erfolge zu melden. Machte er Ärger, konnte es leicht sein, dass ihm das auf die Füße fiel. Beim Verladetraining der Raketen erlebte ich so einen Fall. Wegen einer Nichtigkeit war einem Gefreiten unserer Truppe, der immer als Vorzeigesoldat galt, der Urlaub gestrichen worden. Der dafür Verantwortliche führte am nächsten Tag das Verladetraining und so kam es, dass beim Schwenken des Kranes die Rakete plötzlich absackte, den Transporter verfehlte und mit den Heckflossen auf den Boden krachte. Das war der absolute Supergau, es wurde herumgebrüllt, die Inspektion angefordert und eine Untersuchung angeordnet. Keiner konnte nachträglich nachweisen, wie es dazu kommen konnte, dass der Kran versagte, oder das Tragseil verrutschte oder beides. Der Fehler wurde am Ende dem Ausbilder angelastet, der alle Handgriffe besser hätte trainieren müssen. Er erhielt eine Rüge und unser Gefreiter grinste nur ein wenig, als wir uns am Abend wieder in unserer Stube trafen.

Von der Grundausbildung zur Kampfeinheit, erste Erfahrungen über den Status eines Resi und das Bandmaß aller Dinge


Die Zeit der Grundausbildung war wie im Flug vergangen. Das schöne Wetter des Frühlings, die tägliche Routine der Ausbildung und für mich vor allem die Beobachtung all dessen, was sich Nationale Volksarmee nannte, hatten für viel Kurzweil gesorgt. Anders als die jungen Wehrpflichtigen war meine Zeit bis zum Ende dieses Abenteuers absehbar, was meine Laune zusätzlich beflügelte. Beim Abschiedsapell der Grundausbildung erhielt ich noch einen Blick in die Sonne, als der Kommandeur wissen ließ, das mit meiner Gitarre etwas Kultur und Stimmung in die Truppe gekommen sei. Ich wurde der Raketenstellung in „S“ zugeteilt und bepackt mit Seesack und Geschirr erreichten wir auf der Pritsche eines GRASZ die Kampfeinheit. Das Areal bestand aus einem Neubaublock, der vor dem Objekt stand und den Offiziersfamilien als Unterkunft diente, einer eingezäunten Kaserne mit Nebenanlagen und großen Kraftfahrzeughallen. Versteckt hinter Hügeln lagen die Abschussrampen, die ich während meiner ganzen Zeit in „S“ nur einmal zu Gesicht bekam. Wir wurden auf verschiedene Stuben aufgeteilt. Ich stellte mich meinen neuen Kameraden vor und räumte meinen Spind ein. Bereits am nächsten Morgen nach dem Frühsport lernte ich das EK-System (Entlassungs-Kandidat-System) kennen. Der Einfachheit halber nannte man den Entlassungskandidaten, also den Soldaten, der das dritte Diensthalbjahr erreicht hatte und als nächster die Stube verlassen darf, den „E“. „Der E“ verrichtet keinerlei niedere Tätigkeit, „der E“ ist nur dafür verantwortlich, dass alle Aufgaben erfüllt werden. Nach dem Frühstück wurde die Stube geputzt und ich griff beherzt zum Besen. Es dauerte nur wenige Sekunden und ich wurde vom E mit Dringlichkeit und Nachdruck von allen niedrigen Arbeiten entbunden. Ich solle mich schleunigst hinlegen, lesen oder schlafen aber um Gottes Willen nichts anfassen und die jungen Dachse versauen, wobei zwischen den Jahrgängen eine strenge Hierarchie herrschte. „Der E“ hatte gleich am ersten Tag mitbekommen, dass mein Entlassungstermin noch vor seinem Abschied lag, was mir einen unerhörten Statusschub verlieh. Alle nannten mich liebevoll „der Resi“. Wurden die Fahrzeuge geputzt, wurde der Resi zum Ausruhen in eine Fahrerkabine geschickt. Wenn es Essenszeit war, wurde der Resi geweckt, die Jungs sorgten sich rührend um mich.

Auf diese Weise erholte ich mich derart, dass ich nach meiner Entlassung, auf der Fahrt in den Urlaub zwanzig Stunden ohne Ermüdungserscheinungen auf der Reise nach Rumänien hinter dem Steuer meines Wartburg sitzen konnte. Und Extragewicht mit Speckröllchen in der Hüftgegend hatte ich mir außerdem zugelegt. Das E-System wurde von den Offizieren geduldet, ja ich denke sogar bewusst gesteuert und gefördert. Hatten sie doch auf diese Art ihre Ruhe und konnten die Truppe an ruhigen Tagen dem Selbstlauf überlassen, ohne böse Überraschungen fürchten zu müssen. Statussymbol des E-Systems war das Bandmaß. Ab dem zweihundertsten Tag vor der Entlassung begann man, täglich von einem 2m-Bandmaß einen Zentimeter abzuschneiden. Trafen in der Kneipe EKs in feuchter Runde zusammen und es erklang der Ruf „Zeigen!“, holte man das Bandmaß hervor und hielt es sich in voller Länge vor die Nase. Das Bandmaß musste man immer am Mann haben. Der mit den meisten Tagen musste dann die nächste Runde zahlen und der mit dem kürzesten Maßband hatte immer das Sagen. Besonders aufmüpfige EKs erkannte man an dem Knick im Schulterstück, was nicht erlaubt war und auch Strafmaßnahmen nach sich ziehen konnte. Der E auf meiner Stube nahm seinen Status richtig ernst. Er wusste genau, wer wann Urlaub hatte und kümmerte sich darum, dass seinen Jungs kein Ungemach zustieß.

Und immer herrschte Krieg – Überflug von Zivilmaschinen außerhalb des Berlin-Korridors

Man kann sich denken, dass es für die Alliierten Streitkräfte damals von großem Interesse war, wo sich in der DDR die Raketenstützpunkte befanden und vor allem, wie sie bestückt waren. Der Flugverkehr zwischen der BRD und der DDR war streng geregelt und nur schmale Korridore waren frei für zivile Flugzeuge. In der Regel hielten sich die Alliierten daran, aber es gab viele Ausnahmen. Passagiermaschinen ausgerüstet mit Kameras dienten zur Aufklärung, wurde uns erzählt. Die ständige Parole war, der Klassenfeind nutze alle Mittel, auch die Gefährdung von Passagieren, um die Standorte der Luftabwehrraketen auszuspähen. Und sie taten es häufig. Jede Luftraumverletzung zog einen scharfen Alarm nach sich und mir sträuben sich heute noch die Haare, wenn ich dieses Alarmgeheul, das durchdringende brööök, brööök, brööök zu hören bekomme. Wir wussten, dass bei jedem Alarm die Raketen scharf gemacht wurden. Das wurde „Versteckern“ genannt, weil die Elektronik der Abschussrampe über Steckkontakte mit der Feuerleitstelle physikalisch verbunden wurde. Danach wurde das Ziel über Radar aufgenommen und es fehlte nur noch der Druck auf den roten Knopf, um die Rakete zu starten. Gott sei Dank durfte, und ich glaube auch konnte die NVA diesen letzten Schritt nicht ohne die Zustimmung der Russen tun. Es war noch eine weitere Verschaltung oder ein Code erforderlich, um die Rakete abzufeuern. Trotzdem brachte diese sich oft wiederholende Provokation ein Kriegsgefühl von ständiger Bedrohung und Unruhe mit sich.

Fernsehabend zum Feiertag

Der Achte Mai, der Tag der Befreiung wurde auch bei der Truppe ordentlich gefeiert. Der Einfachheit halber legte man die Feierlichkeiten mit dem Ersten Mai zusammen, so gab es nur eine Feier. Schon am Vorabend wurden Vorbereitungen getroffen, es sollte wieder einmal einen gemeinsamen Fernsehabend geben. Fernsehen war bei der Truppe sehr gefragt, weil es normaler Weise für die Soldaten nicht gestattet war. Der Fernseher wurde aus dem Lager geholt und in die Mitte des Aufenthaltsraumes postiert und auf den Stuben wurden entsprechende Getränke vorbereitet. Beliebt war eine rote Limonade, angereichert mit Wodka, scheußlich schmeckend aber von guter Wirkung. Am Abend hatte sich der Aufenthaltsraum gefüllt, jeder hatte seine Limonade dabei und der Fernseher wurde eingeschaltet. Interessanterweise war der Fernseher von den Jungs so postiert worden, dass er von der Tür nicht sofort einsehbar war. Es war dunkel geworden, es lief das Ballett Schwanensee und alle waren guter Dinge. Zwei Kameraden hatten sich in der Nähe der Tür postiert mit scharfem Blick über Hof und Gang. Nachdem der OVD seine erste Runde gedreht hatte und sich freute, dass alle so aufmerksam Ballett schauten, ging er, wohl um auch etwas zu feiern. Kaum war er verschwunden, holte unser Gefreiter einen langen und superdünnen Schraubenzieher aus seiner Hose. Wie bei einem Einbruch schob der das lange Werkzeug vorsichtig von der Fontseite des Apparates tief in sein Inneres und begann, vorsichtig tastend irgendetwas zu suchen und zu hebeln. Dann knackte es kaum hörbar, das Ballett verschwand und es tauchte ein ungewohntes Bild auf. Plötzlich lief ein Actionfilm, es war ein Westsender, vielleicht ZDF oder ARD, ich bekam es nicht mit. Das hätte ich nicht erwartet, Westfernsehen bei der Fahne! Im Nu herrschte richtiges Gaudi im Raum und alle vertieften sich in das Geschehen auf der Mattscheibe. Nur die zwei Wachen beobachteten aufmerksam den Außenbereich. Vielleicht nach einer Stunde kam von der Tür ein Zeichen, ein unverfängliches Husten und Naseschnauben. Mit ruhigem und sicherem Griff bediente unser Gefreiter wieder seinen langen Schraubenzieher, es erschien der letzte Akt von Schwanensee und der Schraubenzieher verschwand. Der Offizier vom Dienst trat ein und war hoch erfreut, dass sich seine Truppe so diszipliniert einen Ballettabend anschaute. Ich weiß nicht, ob er wusste oder ahnte, was seine Truppe von Ballett hielt. Ich hatte einen neuen Mosaikstein des vielfältigen Soldatendaseins bei der NVA kennen gelernt.

Das Wissen der Wachen

Wachsoldat zu sein war einerseits eine Last. Man musste, vor allem nachts, mit scharf geladener Waffe auf Patrouille rund um das Objekt laufen und lange Zeit auf einem Fleck stehen, um in die Nacht zu starren und zu lauschen, ob alles in Ordnung ist. Aber es gab auch Abwechslung. Das Wachhäuschen befand sich genau gegenüber vom Neubaublock, den die Offiziersfamilien bewohnten und die Langeweile brachte es mit sich, dass die Kameraden besonders in der Nacht alle Bewegungen im Neubaublock genau studierten. Man wusste, welcher der Offiziere gerade auf Lehrgang oder bei einer Übung in der Steppe war. Man konnte auch gut beobachten, wer im Neubaublock nächtens ein und aus ging und in welchen Schlafzimmern und Badezimmern in welcher Frequenz die Lichter an und ausgingen. Die Wachen gaben vor zu wissen, wer mit wem wann und wie oft schlief und ob es ein eheliches oder uneheliches Treffen war. Alles war durch dauernde Beobachtung transparent. Beliebt waren die Wachsoldaten auch als Tippgeber, welche der jungen Frauen vielleicht gerade etwas Trost brauchte. Am Ende wird viel Wachsoldatenlatein dabei gewesen sein, wobei, ob wahr oder unwahr, die Stories der Wachleute immer für willkommene Abwechslung sorgten.

Soldatenkameradschaft, das Heimweh, der Urlaub und der Tag der Entlassung

In der Zeit vor dem Wehrdienst hatte ich mich immer gewundert und oft auch mokiert, wenn an Entlassungstagen volltrunkene entlassene NVA-Soldaten durch die Bahnhöfe randalierten. Ich konnte nicht verstehen, warum man sich so völlig dem Alkohol hingeben konnte. In den Wochen bei der Kampfeinheit erfuhr ich dann viel von dem Elend, das junge Rekruten während der 18 Monate Wehrdienst in der ehemaligen DDR durchlebten. Da waren die jung verheirateten oder verlobten Männer, deren Frauen und Bräute sich in ihrer Abwesenheit anderweitig vergnügten. Weil immer einige Kameraden aus der gleichen Gegend kamen, sickerten diese schlechten Nachrichten schnell durch. Wegen der rigiden Urlaubsregelung, es gab nur alle 6 Wochen Heimaturlaub und der wurde von den Offizieren als disziplinarisches Erpressungsmittel benutzt, konnten die Ärmsten auch nichts tun, konnten den Nebenbuhler nicht stellen oder vertreiben. Die Gespräche der Jungen vor dem Einschlafen waren rührend. Sie wussten auf den Tag und die Stunde genau, wo und wie sie sich treffen würden und was sie dann unternehmen würden. Diese Gespräche richteten sie auf und ließen die tristen Wochen und Monate leichter ertragen. Ich begriff sehr schnell, dass die jungen Männer unter diesen Umständen nur Eines im Sinn hatten, weg von dem verhassten System, weg von der unbarmherzigen Knute des Staates. Aus diesem Druck entwickelte sich auch eine Kameradschaft, sich zu helfen, wenn Not am Manne war. Wir hatten auf der Stube einen Jungen, der zu Hause einige Probleme hatte und eigentlich dringend auf Urlaub musste. Der war ihm wegen Aufmüpfigkeit schon einmal gestrichen worden und nun war der Zeitpunkt des nächsten Urlaubes heran. Aber beim Ausgang vor dem Urlaubwochenende hatte er sich wieder schwer betrunken. Es war kurz vor 23 Uhr. Wenn er bis Mitternacht nicht an der Wache vorbei war, ging auch der nächste Urlaub verloren. Unser „E“ fragte, wer ihn wo gesehen hatte und dann stürmten zwei Mann hinaus. Sie hatten ein Auto zur Verfügung und fuhren in den Ort. Irgendwo im Graben der Landstraße fanden sie Ihn dann. Einige Minuten vor Mitternacht brachten sie ihn hereingeschleift und warfen ihn wie einen nassen Sack auf sein Bett. Am nächsten Morgen, der Kater war mächtig, war der Junge heil froh, dass ihn seine Kameraden gerettet hatten und er seinen Urlaub antreten durfte.

Der Major, seine Frau und der hübsche Wachsoldat

Es war das Kurioseste, was ich in den drei Monaten NVA erlebt habe. Ich kann mich auch sonst nicht an Ähnliches erinnern. Es war ein Entlassungstag. Für einen kleinen Teil der Wachsoldaten waren die 18 Monate vorüber. Die Truppe war vor der Kaserne, direkt vor dem Wohnblock der Offiziere im hellen Sonnenschein zur Verabschiedung angetreten. Major U., der Standortchef, ein Offizier mit einem kräftigen Bauch, hatte seine schmucke Ausgehuniform angelegt. Die Entlassungskandidaten standen in vorderer Reihe und es wurden feierliche Belobigungen ausgesprochen und Schützenschnüre verteilt, als plötzlich aus einem der Hauseingänge des Wohnblockes eine weinende Frau gestürzt kam. Die Frau war jünger, trug eine Kittelschürze und hatte die blonden Haare in Lockenwickler gedreht. Es war die Frau des Majors, die aufgelöst und bitterlich weinend zu einen der entlassenen Wachsoldaten rannte und ihm aufgeregt die Hand schüttelte, sich an ihn hing und ihn herzte. Der Major trat etwas verwirrt hinzu und versuchte seine Frau zu beruhigen. Der junge Mann war wohl der Liebhaber der Majorin, was der Major offensichtlich wusste und auch tolerierte. Er hatte in den nächsten Minuten alle Hände voll zu tun, um seine Frau zu beruhigen und wir hörten, wie er immer wieder besänftigend und fast beschwörend sagte, er kommt doch zu Besuch, Du brauchst nicht weinen. Die Entlassungsfeier löste sich danach wie von selbst auf und jeder ging völlig unmilitärisch seiner Wege. Es war eine komische und sehr einprägsame Szene.

Der Tag der Entlassung

Ich hatte großes Glück. Zwei Wochen vor der Entlassung war ich auf Heimaturlaub und konnte mein Auto mit zur Kaserne bringen. Von nun an zählte ich die Tage und fieberte der Entlassung entgegen. Die letzten Stunden waren herrlich, vor allem der Augenblick, an dem ich wieder meine eigenen Klamotten, die etwas abgetragene Jeans, das rot-schwarz-karierte Hemd und die Sommerjacke überziehen konnte und die Uniform und den ganzen Ausrüstungskrempel samt der Standardunterwäsche über den Tresen schieben durfte. Diese drei Monate waren geschafft. Verglichen mit der vollen Dienstzeit war das ein Klacks. Mir fiel wieder der Spruch ein „Armeezeit – verlorene Zeit“. Den Spruch kann ich für mich nicht ganz so stehen lassen. Vor meiner Reservistenausbildung hatte ich immer die Nase gerümpft über die an Entlassungstagen randalierenden und alkoholisierten Soldaten, die vor allem die Bahnhöfe bevölkerten. Ich fragte mich immer, warum man sich so volllaufen lassen musste. Nach den drei Monaten verstand ich, welchem Druck die jungen Soldaten in den 18 Monaten des Wehrdienstes bei der VNA ausgesetzt waren. Die raren und als fieses Druckmittel benutzten Heimaturlaube. Der sinnlose Drill, der geforderte übertriebene Gehorsam und das Wissen um den maroden Zustand der wichtigsten Einrichtung des Staates DDR, der Armee. Ich habe Zusammenhalt und richtige Kameradschaft erlebt und auch das EK-System mit seiner Eigenjustiz studieren können. Man kann Menschen durch die Einteilung in Privilegien-Kasten ohne Druck von außen regieren. Es entsteht eine Selbstjustiz.
Wir waren fertig und der Wartburg war startklar. Drei Kameraden wollten mitfahren, um in Arnstadt gemeinsam ein Eisbein mit Sauerkraut zu essen. Beinahe wäre aus allem nichts geworden, denn mein Überschwang war so groß, dass ich vom Seeberg abwärts fast aus der ersten Kurve geflogen wäre. Als ich danach mit verhaltenem Gas und zitternden Knien gen Arnstadt rollte, war ich zum zweiten Mal heilfroh, am Ende alles unbeschadet überstanden zu haben. Das Eisbein schmeckte übrigens vorzüglich.


- E N D E -
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arooliqu,

Eine interessante Geschichte und Fleißarbeit, die ich noch nicht ganz durchhabe und da liegt auch das Problem für die meisten Leser. Der Beitrag ist einfach zu umfangreich, um ihn in einem Rutsch durchzulesen. Vielleich hättest du ihn auch unter Geschichten, statt Tagebuch veröffentlichen können, das ist aber zweitrangig und Ansichtssache.

Aber zumindest hättest du ihn in mehreren, einzelnen Kapiteln einstellen können. Der Leser der LL, meistens ist er auch ein Schreiber, will sich ja nicht nur mit deiner Geschichte befassen, sondern auch viele andere Beiträge wollen gelesen werden/sein, um eventuell einen Kommentar dazulassen. Bei diesem Umfang generierst du hauptsächlich Klicks und erhältst fast keine Kommentare. Darüber hinaus denke daran, dass das Interesse der LL-Mitglieder zum großen Teil auch dem Verfassen und Veröffentliche der eigenen Geschichte gehört, was natürlich auch zeitaufwendig ist. Du selbst hast sicher viel Zeit für diesen Beitrag gebraucht, gern geopfert, weil ja das Schreiben auch deine Passion ist.

Wie gesagt, interessant! Für mich ist es auch deshalb, weil ich in meiner Rekruten- und Dienstzeit die andere Seite in denselben Jahren bei der westdeutschen Luftwaffe erlebt habe. Da war vieles ähnlich dem, was du hier beschrieben hast.

OK, jetzt erst mal Luftholen! Ich bleib dran und du hoffentlich auch!

Gruß, J. Wein
 

Arooliqu

Mitglied
Hallo John,
Ganz lieben Dank für Deinen kritischen Kommentar, der für weitere Projekte sehr hilfreich ist. Ich bleibe auf alle Fälle dran.
Herzliche Grüße
Ulrich
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Arooliqu,

erst einmal herzlich willkommen auf der Leselupe!

Ich muss gestehen, mir ging es ähnlich wie John - ich glaube, so ungefähr nach der Hälfte bin ich beim ersten Mal ausgestiegen.
Das liegt aber auch daran, dass die einzelnen 'Kapitel', die ja Zeichen einer klaren Struktur sind, zwar in sich einen Erzählfaden haben, aber nicht mit mehr verbunden sind als der Person, die sie erlebt.
Und durch diese Struktur wirken sie auch eher wie ein Bericht - der aber dennoch Interesse wecken kann! - in dieser Form aber tatsächlich Tagebuchcharakter haben.

Wenn Du aber einen Text in mehreren Kapitel einstellen würdest, wie John vorschlug, müssen die Teile eine Verbindung haben, eine Art Überleitung, und dann ist man schon dabei, etwas zu fiktionalisieren, was eher schwer fällt, wenn man sich an eigene Erlebnisse hält. Aber das ist ein Prozess.

Viel Spaß dabei!

Liebe Grüße
Petra
 

Arooliqu

Mitglied
Guten Morgen Petra,
Ganz herzlichen Dank für Deine Kritik. Als absolutes Greenhorn habe ich einfach geschrieben, ohne an die Leser zu denken. Der zweite Versuch ist in Warteposition und ich werde versuchen, die Hinweise des Forums zu verinnerlichen.
Liebe Grüße
Ulrich
 

Kai Kernberg

Mitglied
Hallo Ulrich, es bietet sich fast an, die Geschichte nochmals neu als Tagebuch zu erfinden und stückweise einzustellen. Ich könnte mir das Element "Postkarte(n)" als verbindende vorstellen. Schau bei dieser Gelegenheit noch einmal auf die Einberufungskarte: 14. März 1976? Bist Du Dir sicher?
Die Kapitel habe auch ich nur im Schnelldurchgang gelesen. Mir würden mehr Stimmungsbilder gut gefallen; ganz hervorragend bei den Doktori gelungen!
VG Kai
 

Arooliqu

Mitglied
Hallo Kai,
Die Einberufung war tatsächlich am 14.März 1976, woraus Du entnehmen kannst, dass ich schon ein etwas älteres Modell bin, und nein, dieses Dokument ist im Mahlstrom der darauf folgenden Jahrzehnte zerrieben worden und verschwunden. Wenn Zeit und Muse passen, werde ich weiter am Text arbeiten.
Herzliche Grüße.
Ulrich
 



 
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