Ich werde fliegen

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Harle Kin

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Ich werde fliegen


„Mama?“
„Hm?“
„Warum müssen wir eigentlich jeden Abend auf einen Baum klettern?“

Die Mutter hielt inne.
Ihr linker Vorderfuß war bereits auf einer Wurzel abgestützt, die Rinde war vom ständigen Aufstieg glatt geschmirgelt.
Sie drehte langsam den Kopf zu ihrem Sohn, der etwas abseits stand –
mit gesenktem Blick, die Ohren leicht hängend.

„Was meinst du, warum?“, fragte sie.
„Weil es eben so ist.“

„Aber… das ist doch komisch“, sagte der Kleine.
„Ich meine – wir sind doch so groß.
Und die Äste… die biegen sich jedes Mal durch.
Es ist eng.
Und unbequem.
Und... ich mag es da oben nicht.“

Neben ihnen raschelte es im Busch.
Drei alte Elefanten traten hervor,
faltig und ernst, mit einem Blick, der schon viele Generationen hinaufsteigen gesehen hatte.

„Na, weigert sich der Bengel wieder, seiner Natur zu folgen?“
Die Stimme des vordersten Alten klang wie knarrendes Holz.

„Ich will einfach nicht da hoch!“, rief der Kleine.
„Ich hab letzte Nacht fast den ganzen Schlaf verloren, weil mein Bein eingeklemmt war! Und die Äste haben in meinen Bauch gedrückt!“

Die drei Alten sahen sich an.
Dann kam das erste Schnauben.
Dann ein Hüsteln.
Dann das Lachen.
Langsam.
Tief.
Wie ein uraltes Echo in einem hohlen Baumstamm.

„Hört euch das an“, sagte der Zweite.
„Er hinterfragt das Klettern.“
„Unser Uropa hat schon auf Bäumen gelebt“, sagte der Dritte.
„Und sein Uropa auch.“
„Und dessen Uropa hat das erste Nest auf der großen Eiche gebaut. Da, wo heute das Ehrenblatt hängt!“

„Aber... warum denn?“, wagte der Kleine.
„Warum können wir nicht einfach in der Steppe leben, Mama?
Dort hinten, wo es flach ist, da gibt es viel Platz – und weiches Gras zum Liegen?“

Einen Moment lang war es still.
Dann: ein Prusten.
Und dann – brach es aus ihnen heraus.
Die Alten lachten.
Laut.
Befreit.
Spöttisch.
Selbst die Mutter konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.

„In der Steppe!“, japste einer.
„Dieser Bengel ist ja völlig übergeschnappt!“ „Mit solchen Ideen kommst du nirgends hoch, mein Junge!“
„Blühende Fantasie, aber kein Realitätssinn.“ „Was glaubst du denn, wofür dein Rüssel da ist?“, sagte die Mutter liebevoll, aber streng.
„Zum Festhalten, zum Hochziehen.
Zum balancieren auf den Ästen.“
„Und deine breiten Füße?“, fügte einer der Alten hinzu.
„Die sind da, um sich zwischen Zweigen einzuklemmen. Damit du nicht abrutschst.“

Der Kleine sah auf seinen Rüssel.
Dann auf seine Füße.
Dann auf den Baum vor ihm – hoch,
verästelt,
voller eingedrückter Stellen, wo Elefantenpo-Abdrücke vergangener Generationen sichtbar waren.
Er sagte nichts mehr.
Doch seine Augen blieben auf der Steppe.

Der Baum vor ihnen ragte auf wie ein müder Veteran – knorrig, vernarbt, an mehreren Stellen leicht eingesackt, wo über Jahre hinweg schwere Körper dieselbe Stelle beansprucht hatten.
Die Mutter trat wieder als Erste vor.
Sie stemmte sich mit dem Hinterbein an eine schräge Wurzel, wackelte dabei bedenklich zur Seite und tastete mit dem Rüssel nach einer Astgabel in Kopfhöhe.

„Immer schön aus dem Becken“, murmelte sie. „Nicht verkanten.“
Der Erste der Alten stand daneben und kommentierte:
„Sehr schön, sehr schön. Erst der Rüsselgriff und dann die Beine.“
Ein lautes Krachen.
Die Wurzel splitterte leicht.
Die Mutter fluchte –
(mit geschlossenem Mund natürlich) -
und wuchtete sich dann mit einem bedenklichen Ruck auf den ersten dicken Ast.

„Ah!“, rief sie. „Schon besser.
Das ist der Ruf der Natur, mein Kleiner.
Du musst dich einfach drauf einlassen.“

Der Kleine sagte nichts.
Er stand unten,
den Rüssel leicht schräg, und beobachtete, wie sich nun auch der zweite Alte in Bewegung setzte.
Sein Bauch schob sich seitlich über eine Astgabel, während seine Beine noch auf dem Boden waren.

„Ich nenn das ‚die Windmühle‘“, schnaufte er.

„Sieht eher aus wie ein steckengebliebener Kürbis“, murmelte der Kleine.

„Was war das?“, rief der Alte.
„Nichts!“, rief die Mutter über die Schulter.
„Er bewundert nur die Anmut deiner Technik, Onkel Tambo.“

Nach und nach quälten sie sich alle hinauf.
Mit Rüsseln um Äste geschlungen.
Mit Beinen, die verzweifelt Halt suchten, wo keiner war.
Einmal rutschte ein Hinterbein ab und schlug gegen die Rinde.
Es gab einen kurzen, peinlichen Moment der Stille – dann ein verlegenes Hüsteln:

„Alles… ganz nach Plan.
Bloß ein Test ob der Stamm noch fest steht.“

Oben angekommen, saßen sie. Oder vielmehr: sie verteilten sich irgendwie auf den Ästen.
Ein Bein hing immer irgendwo ungewollt.
Die Nester – halb Laub, halb zerdrückte Äste – quietschten bedrohlich.
Der kleinste der Alten versuchte, seinen Rüssel aufzurollen, um ihn irgendwo ablegen zu können, und murmelte:
„Siehst du, Kleiner?
Was für ein herrlicher Ort zum Schlafen!
Hoch über der Gefahr. Umgeben von Natur. Und frischer Wind am Hintern. Was will ein Elefant mehr?!“

Der Kleine blickte nach oben.
Er sah vier riesige Körper, die aussahen, als hätte jemand Medizinbälle in einen zu kleinen Weihnachtsbaum gestopft.
Er hörte sie schnaufen, ächzen, ruckeln.
Er sah eine Schwanzspitze zappeln, weil sie eingeklemmt war.

„Warum haben wir eigentlich Stoßzähne, wenn wir auf Bäume schlafen?“, fragte er.
„Ich meine… wir bleiben ständig hängen.“

Stille.
Dann sagte seine Mutter:
„Das ist der natürliche Ast-kratzschutz.
Ohne Stoßzähne würden wir uns den Rüssel einzwicken.“

Die Alten nickten ernsthaft.
Der Kleine wandte sich um.
Er sah zur Steppe.
Dann wieder nach oben.
Sein Blick war nicht wütend.
Auch nicht traurig.
Nur… wacher als er sein sollte, für sein Alter.

Am nächsten Morgen lag Nebel über dem Tal. Die Äste waren feucht, die Nester zerdrückt.
Der Kleine hatte kaum geschlafen.
Er war irgendwann einfach vom Baum gefallen – leise, ungewollt.
Niemand hatte es bemerkt.
Jetzt saß er am Rand einer Klippe.
Der Ausblick war groß.
Viel zu groß für einen kleinen Elefanten.
Ein Vogel landete neben ihm.
Ein unscheinbarer, grauer Vogel mit durchdringenden Augen.

„Na? Du wirkst bedrückt.“

Der Elefant zuckte mit den Schultern.
„Ich denke nur nach.“
„Über was?“

„Über das Leben in den Bäumen.
Mama sagt, das ist unsere Natur.
Sie sagt, wir gehören da hin.“

Der Vogel sah ihn an.
Dann in die Tiefe.
Dann wieder zu ihm.
„Ja, klar. Natürlich. Jeder hat doch irgendwo seinen Platz.“

Der Kleine nickte langsam.
Dann sah er den Vogel direkt an.
„Aber du lebst auch auf Bäumen.“

„Stimmt.“

„Und du kannst fliegen.“

„Stimmt auch.“

Der Kleine zögerte.
„Dann… kann ich vielleicht auch fliegen?“

Der Vogel lachte.
Nicht spöttisch.
Nicht laut.
Fast wie ein Windstoß.
„Natürlich kannst du das.“

Der Elefant runzelte die Stirn.
„Aber… warum klettern wir dann jeden Abend so mühsam da rauf?
Es ist schwer.
Es tut weh.
Wir könnten doch einfach… fliegen!“

Der Vogel blinzelte.
„Keine Ahnung.
Vielleicht… wissen sie es nicht besser.“
Dann breitete er die Flügel aus.
Ein sanfter Schlag.
Ein kurzer Schwung.
Und er war weg.

Der Kleine blieb noch eine Weile sitzen.
Er sah den Punkt am Himmel kleiner werden. Dann sah er nach unten.
In die Tiefe.
Etwas hatte sich in ihm verschoben.
Nicht laut.
Aber spürbar.
Er trat einen Schritt näher an die Klippe heran. Der Abgrund lag unter ihm wie eine schlafende Frage.

„Natürlich kannst du das…“
Die Worte des Vogels hallten nach.
Nicht spöttisch.
Sondern wie ein Versprechen.

Er lächelte.
Ganz weich.
Ganz ruhig.
Sein Gesicht hellte sich auf wie nach einem langen Schlaf.

„Jetzt versteh ich’s.“
Er sah zum Himmel.
Sein Rüssel hob sich leicht,
fast feierlich.
Die Ohren spannten sich im Wind.
Er trat noch einen Schritt vor.
Ein Kieselstein löste sich –
fiel lange,
lautlos.

„Ich war nie zu schwer.
Ich war nur zu… überzeugt vom Boden.“

Ein Zittern ging durch seine Schultern.
Dann: absolute Klarheit.

„Ich werd fliegen.
Und alle werden es sehen.
Ich werde ihnen zeigen, dass wir nie auf Bäume gehört haben – sondern in die Luft!“

Er atmete tief ein.
So tief wie nie zuvor.

Und dann sprang er.

Die Klippe war still.
Der Wind trug nichts.
Nur den Gedanken:


Ich werde fliegen.



"Wir gehen zugrunde an den Wirklichkeiten, die wir erfinden."
-Emil M. Cioran
 

trivial

Mitglied
Lieber Harle Kin,

eine wirklich schöne Fabel, mit genau der richtigen Dosis Pathos und Absurdität.
Deine anderen Geschichten hatte ich "überflogen", aber hier bin ich hängengeblieben.

Liebe Grüße
Rufus
 



 
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