Ich zähle vierundzwanzig Schritte

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Ich zähle vierundzwanzig Schritte

Die Küche duftet nach Vanille,
Im Ofen brennt das letzte Scheit -
Und mühelos führt mich die Stille,
In das Verlies der Einsamkeit.

Ich zähle vierundzwanzig Schritte
Und warte, bis Du kommst - vom Flur,
Doch zeugt ein Stich, zur Herzensmitte,
Von meinem Sehnsuchtsfieber nur.

Acht Monate und fünfzehn Tage,
In mir verebbt ein ganzes Meer,
So weit ich auch zu blicken wage,
Dein Platz, er bleibt für immer leer.

Die Wiesen duften nach Kamille,
Begleiten meinen Weg ins Tal,
An deinem Grab führt mich die Stille,
In einen Seelenspiegelsaal.

Auch wenn ich jeden Berg erklimme,
Den man mit Seil besiegen kann,
Nie wieder hör ich deine Stimme,
Lehnst Du den Kopf an meinen an.

Jetzt sehe ich dem Tod ins Auge,
Ist alles gründlich, gut durchdacht,
Denn wenn ich nicht zum Leben tauge,
Dann sei für mich nun ewig Nacht.

Ich atme flach - noch eine Pille,
Dein Foto in der Hand, ein Kuss.
Und mühelos führt mich die Stille -
Sie weiß, wohin sie gehen muss.
 
O

orlando

Gast
Hallo A.D.

ich habe mir dieses düstere Gedicht um einen geplanten Freitod herausgesucht, weil es mir so gut gefällt, weil es absolut sauber gearbeitet ist und inhaltlich irgendwie an Vera-Lenas Hierogyphen anschließt.
In beiden Texten geht es um unsterbliche Liebe. In deinen Versen ist ein Weiterleben ohne den Erwählten nicht möglich.

Schon den Titel finde ich wunderbar gewählt: Ich zähle 24 Stunden - ich zähle vierundzwanzig Schritte ...

Die Küche duftet nach Vanille,
Im Ofen brennt das letzte Scheit -
Und mühelos führt mich die Stille,
In das Verlies der Einsamkeit.
Schon hier wird den Lesern offenbar, dass es sich um etwas Schreckliches handeln muss, weil du einen heimeligen Duft das Verlies der Einsamkeit gegenüberstellst.

Ich zähle vierundzwanzig Schritte
Und warte, bis Du kommst - vom Flur,
Doch zeugt ein Stich, zur Herzensmitte,
Von meinem Sehnsuchtsfieber nur.
Der Tod des geliebten Partners wird offenbar.

Acht Monate und fünfzehn Tage,
In mir verebbt ein ganzes Meer,
So weit ich auch zu blicken wage,
Dein Platz, er bleibt für immer leer.
Der Überlebende weiß um die verstrichene Zeit, die aber eben nicht immer alle Wunden heilt.

Die Wiesen duften nach Kamille,
Begleiten meinen Weg ins Tal,
An deinem Grab führt mich die Stille,
In einen Seelenspiegelsaal.
Jetzt stellst du zum zweiten Mal einem (gesunden) Lebensduft die Kühle des Grabes gegenüber (vortrefflich: die Wahl der Kamille).

Auch wenn ich jeden Berg erklimme,
Den man mit Seil besiegen kann,
Nie wieder hör ich deine Stimme,
Lehnst Du den Kopf an meinen an.
Wie anmutig-zart wird hier die Liebe durch das Kopfanlehnen beschrieben ... :):)

Jetzt sehe ich dem Tod ins Auge,
Ist alles gründlich, gut durchdacht,
Denn wenn ich nicht zum Leben tauge,
Dann sei für mich nun ewig Nacht.

Ich atme flach - noch eine Pille,
Dein Foto in der Hand, ein Kuss.
Und mühelos führt mich die Stille -
Sie weiß, wohin sie gehen muss.
Zu den beiden letzten Strophen bleibt mir nichts zu sagen. -

Ich finde es mehr als mutig, sich an ein solches Thema zu wagen, gleichsam den Tod im letzten Augenblick zu zeichnen, noch dazu auf eine so bravouröse Weise.

Herzliche Grüße
orlando
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