Hey Markus!
Man kann es für frivol oder zumindest weltfremd halten, sich mit Fragen der Qualtität von Gedichten zu beschäftigen, wenn gerade ein neuer Teil der Welt in Flammen aufgeht, nachdem diese Region nun lange genug in einem von (vielen von) uns einigermaßen anstrengungslos ignorierbaren Schwelbrand lag.
Vielleicht ist es aber auch eine gesunde Gegenbewegung, sich einem Kulturthema zuzuwenden. Man kann darüber streiten. Aber lieber in einem anderen Thread würde ich sagen.
Jetzt komme ich nach viel Text zur eigentlichen Frage: Bei längeren Texten glaube ich, dass es Kriterien zum Anhalten gibt, die über das reine Gefallen hinaus gehen. Bei Lyrik bzw. Ungereimten wüsste ich nicht, wie ich erkennen könnte, was "gut" ist. Gibt es sowas?
Ich denke, im Zentrum Deiner Frage steht: Welche handwerklichen Kriterien gibt es, nach denen man bei einem ungereimten Gedicht ohne regelmäßige, metrische Struktur die handwerkliche Qualität beurteilen kann? Tatsächlich ist hier das Stichwort "handwerklich" wichtig, weil oberhalb des Levels vom Kunsthandwerklichen, also da, wo es um Literatur im engeren Sinne geht, die Einhaltung formaler Kriterien bei einem metrisch gebundenen Reimgedicht nicht mehr hinreichend für gehobene Qualität sind (sofern diese Form bedient werden soll, was selbstverständlich auch in der heutigen Zeit "zulässig" ist).
Im Bereich der Literatur könnte man es vielleicht am kürzesten (aber auch missverständlichsten) mit dem Stichwort der "Originalität" umschreiben. Wenn heute ein(e) Dichter*in daherkommt und Rilkes Panther einen sprachlich ebenso kunstvoll bedichteten Löwen zur Seite stellt, genau in diesem Rilke-Sound, dann ist das zwar kunsthandwerklich beachtlich, aber es ist keine Kunst (ebensowenig, wie wenn heute ein(e) Artist*in ein Gemälde im Stil eines van Gogh malt und von mir aus die Sonnenblumen durch Tulpen ersetzt.
Zurück aber zu Deiner Frage nach dem "Handwerk" bei nicht formgebundener Lyrik.
Ich würde sagen, gutes Handwerk bei einem Gedicht ohne Reim & Metrum zeigt sich in drei Punkten:
1. Kenntnis der
Tradition
2. Bewusstsein für
Assoziationsräume
3. Vorhandensein eines
poetologischen "Programms" (nicht als allgemeine "Bauanleitung" sondern für diese spezielle Gedicht)
Damit ist gemeint:
Ad 1: Wenn ein Gedicht Anspielungen auf frühere Gedichte enthält (Traditionsbewusstsein) ist das eine gute Sache, diese Anspielungen sollten aber weder zufällig zustande gekommen sein noch im Rahmen eines "Ideenklaus", sondern diese Bezüge zu älteren Werken sollten im Gedicht irgend eine Funktion besitzen und ein bewusstes Gestaltungsmittel sein.
Ad 2: Die Lyrikerin oder der Lyriker sollte außerdem ein Gefühl für die aktuelle gesellschaftliche Diskurshöhe besitzen (Assoziationsräume). Selbstverständlich muss sie oder er dann dem "Mainstream" von Influencern und/oder Stammtischen nicht anbiedernd das Wort reden, ganz im Gegenteil: Provokation ist ein handwerklich probates Mittel. Sie sollte aber bewusst eingesetzt werden und dabei etwas mehr bieten als nur plumpe Effekthascherei.
Ad 3: Das Gedicht sollte irgend eine Art von Gestaltungswillen erkennen lassen. Selbst wenn als Technik ein "automatisches Schreiben" gewählt wurde, bei dem frei assoziierend die Wörter aneinander gereiht werden, sollte doch zumindest eine gewisse Kontrolle über den Spannungsbogen (Begriff nicht zu eng fassen) erkennbar sein. Das Gedicht sollte, ähnlich wie ein Musikstück, eine gewisse Struktur besitzen, meinethalben eine Art Paukenschlag zu Beginn, gefolgt von einer leisen, nachdenklichen Passage, dann einem stürmischen Aufbegehren und schließlich einem melancholischen Schlussmotiv (nur mal als Beispiel).
Am Ende dieser drei Punkte steht dann wie oben betont keineswegs ein "Kunstwerk", sondern erst einmal nur ein gut gemachtes Handwerksstück (was nicht zu verachten ist!). Den Sprung zum Kunstwerk folgt dann noch einmal ganz eigenen "Regeln" (naja), aber auch hier gilt keinesfalls: Alles nur Geschmackssache. Es gibt, davon bin ich überzeugt, auch in der Kunst einen objektiven Korridor.
LG!
S.