Im Abseits

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Ji Rina

Mitglied
Mein Platz war immer der vor der Veranda in der Nähe des Wasserhahns. Fünf Jahre hatte ich dort gestanden. Es gab nie einen Grund, mich zu beschweren. Ich stand neben kleinen Gruppierungen hübscher, violetter Blumen und genoss den Blick auf einen schönen Rasen. Er war stets gut gepflegt und verbreitete, besonders abends, nachdem er gegossen wurde, einen angenehmen Duft. Alles um mich herum strahlte in seiner vollen Schönheit. Im Vergleich zu den anderen Blumen und Pflanzen, die mich umgaben, war ich hässlich. Ein unförmiges Gewächs mit langen Tentakeln, die richtungslos um sich griffen. Ich war nichts weiter als ein gewöhnlicher Kaktus in einem Land voller Kakteen, in dem man normalerweise einem solchen Gewächs, wie ich es war, kaum einen zweiten Blick gewährte. Aus diesem Grund war ich mir bewusst, dass ich mich besser über nichts beklagen sollte. Und es gab ja auch keinen plausiblen Grund zur Klage: Das Fleckchen Erde, auf das man mich gepflanzt hatte, war ein Geschenk Gottes. Und doch habe ich immer geahnt, dass diese guten Zeiten ein Privileg waren, ein Glücksfall, der nicht ewig anhalten würde.

Dort, wo ich stand, in der Nähe der Veranda und des Wasserhahns, hätte ich bis an mein Lebensende stehen können: Im Winter war ich windgeschützt, weil sich die Verandaflügel hinter mir und die hohen Palmen vor mir befanden. Und im Sommer erwies sich der nahe gelegene Wasserhahn als ein ständiger Retter in der Not. Zwar brauchte ich weniger Wasser als alle anderen, aber es war immer vorhanden: Vergaß man, mich zu gießen, so hatte ich immer Glück. Vielleicht lief jemand an mir vorbei, und es schwappte etwas von einem vollen Eimer oder einer Gießkanne in meine Richtung, oder eine lange Pfütze breitete sich vom Hahn bis zu mir aus. Wasser fehlte mir nie.

Das Übel begann, als man mich eines Tages einfach aus der Erde zog. Es geschah im Frühling: Eine Hand – oder besser gesagt ein Handschuh – griff nach mir und zog mich mit einem Ruck heraus, einfach so, völlig brutal und ohne zu zögern. Ich erlitt einen Schock, von dem ich mich nie mehr richtig erholt habe. Man steckte mich in ein Gefäß aus Plastik, das, so meine ich, in der Mitte einfach durchgeschnitten war. Ja, es war nicht einmal ein normaler, dezenter Blumentopf aus Ton oder Keramik, wie die, in denen andere Blumen und Pflanzen ihr Leben verbringen. Möglicherweise hatte man es auf meine Größe reduzieren wollen. Dann stellte man mich nach draußen, außerhalb des Grundstücks, neben das Eingangstor.
Bereits nach wenigen Tagen, als ich dort wartete und nichts passierte, wurde mir einiges klar: Ich war ausgeschlossen. Ich gehörte nicht mehr der Gemeinschaft an. Der Garten dieser prachtvollen Villa, in dem ich geboren wurde, war nicht mehr mein Zuhause. Man hatte mich ausgestoßen, verabschiedet, und mich an einen Platz abgeschoben, der mir jede Lebensfreude nahm. Einige Autos fuhren mehrmals am Tage dicht an mir vorbei. Sie fuhren durch das Tor hinaus und irgendwann im Laufe des Tages wieder hinein. Ich atmete Abgase und konnte außer einer asphaltierten Straße kaum noch etwas sehen. Ein winzig kleiner Spalt zwischen den Stäben des Tores gewährte mir noch Einblick auf eine kleine hintere Ecke des Gartens, dort, wo die Gänseblümchen und die Rosen standen. In meiner Nähe jedoch stand niemand, ich war allein. Mit der Zeit fand ich mich damit ab, ich schlug die Stunden tot, indem ich dort einfach stand und in den Himmel blickte. Ich wollte die Hoffnung, dass es für mich möglicherweise noch ein Zurück gäbe, nicht aufgeben. Ich hoffte, es sei vielleicht nur eine provisorische Lösung. Aber dass dies nicht der Fall war, wurde mir klar, als der Sommer kam, und ich merkte, dass man mir kein Wasser mehr gab. Man vergaß, mich zu gießen. Nicht nur versehentlich, hin und wieder, wie es früher geschah. Nein, man verweigerte mir absichtlich das Wasser. Ich konnte jedoch sehen, wie alle anderen Blumen, Pflanzen und Bäume im Garten gegossen wurden.

Jeden Abend musste ich mit anschauen, was dort im Garten vor sich ging. Ich sah, wie man sogar den großen, kräftigen Palmen stundenlang den Wasserschlauch hinlegte. Die Palmen! Die, die es nun wirklich nicht nötig hatten. An manchen Abenden vergaß man dort sogar den Schlauch, und das Wasser sickerte bis auf die andere Seite des Gartens, dort, wo überhaupt keine Blumen oder Pflanzen standen. Irgendwann bin auch ich dran, dachte ich, irgendwann werden sie sich an mich erinnern. Sie werden merken, dass ich nicht mehr an meiner gewohnten Stelle stehe, dass man mich versehentlich neben dem Tor abgestellt hat, und dann werden sie kommen.
Aber niemand kam.

Der Sommer brach mit seiner ganzen Kraft herein. Schon am frühen Morgen warf die Sonne ihre Strahlen erbarmungslos auf mich herab, Stunde um Stunde. Und gegen Mittag, wenn die Luft richtig glühte, dachte ich, ich müsse verbrennen. Ich brannte tatsächlich. Meine Haut entzündete sich, sie wurde wund und braun. Nach einigen Wochen trocknete sie vollkommen aus, wurde fransig und löcherig. Jegliche Lebenskraft begann, aus meinem Körper zu entschwinden. Es kamen Tage, an denen ich mich kaum noch halten konnte, ich war kraft- und mutlos. Manchmal wehte ein starker Wind. Das machte alles nur noch schlimmer. Kein Schatten, nur noch Sonne und warmer Wind aus Afrika. Eines Tages fegte ein Windstoß mit solch einer Kraft gegen mich, dass der Behälter, in dem ich stand, umfiel. Da lag ich nun wehrlos am Boden. Niemand hob mich auf. Der Behälter war viel zu eng geworden. Meine Wurzeln, mein Körper, alles war eingequetscht. Meine Glieder hatten sich längst verformt, sie schmerzten und begannen abzusterben. Als man mich eines Tages, mehr tot als lebendig, von dieser Stelle wegtrug, da dachte ich, man hätte sich an mich erinnert. Jetzt würde man mich wieder an meine alte, gewohnte Stelle bringen, um mich zu bewässern und zu pflegen. Doch stattdessen brachte man mich auf ein weites Feld, und ich landete auf einem großen, dunklen Haufen. Als ich mich umschaute, sah ich, dass ich auf einem Riesenberg Unkraut lag, auf verfaultem Laub, Wurzeln, Ästen und herausgerissenen Pflanzen, die längst tot waren. Einige lebten noch und vegetierten stumm vor sich hin. Der Geruch war muffig und abstoßend. Der Anblick war so furchtbar hoffnungslos … und ich begriff: Dies war mein Ende.

Nachts hörte ich seltsame Stimmen, die von irgendwoher – weit unter mir – drangen. Es hörte sich an wie ein endloses Klagen. Ich hörte jemanden sagen, man würde uns verbrennen. Wir seien zu nichts mehr nützlich. Jemand sagte, dass das so üblich sei: Man würde den Haufen mit Benzin beträufeln und uns daraufhin anzünden. Als ich dies hörte, entwickelten sich solche Horrorszenen in meinem Kopf, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte: verbrennen? Würde man das einfach so tun? Uns bei lebendigem Leibe verbrennen? Obwohl doch jeder wissen müsste, wie brutal es ist, wie undenkbar brutal, lebende Wesen auf solch eine Art zu quälen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Kleine, zarte und hilflose Blümchen, die unter der Last der Äste lagen, wimmerten ständig vor sich hin. Ich erkannte versengte Skelette, die unförmig um mich herum aus der Erde ragten. Im Mondschein sahen sie aus wie Gespenster.
Wochenlang lag ich dort, unbeweglich, gespannt auf eine Folter, in der es nur noch darum ging, die Stunden zu zählen, bis man uns umbringen würde.

Ich beobachtete den Mond, der sich langsam durch den schwarzen, wolkenlosen Himmel fortbewegte, und ich fragte mich: Wie lange noch? Wie lange müssen wir das hier noch über uns ergehen lassen? Ich begann zu beten: Lieber Gott, lass es ein bisschen regnen, lass ein paar Tropfen auf die Erde fallen, damit ich wieder halbwegs zu Kräften komme. Wenn ich etwas Wasser aufnehmen könnte, und seien es nur ein paar Tropfen, dann würde ich es vielleicht irgendwie schaffen. Mit einem heftigen Windstoß könnte ich von dieser Stelle wegkommen, weg von diesem Haufen. Manchmal fing ich einfach an zu schreien. Ich schrie so laut, dass man mich Kilometer weit hören musste. Blitzige Augen starrten mich dann aus der Dunkelheit verwirrt an. Ich hörte leise Stimmen, die sagten, mein Geschrei würde nichts nützen. Dass auch andere lange, sehr lange gebetet und gehofft hätten.

Ich starb am 15. September 2009.

Es war gegen sieben Uhr in der Früh, und ich erinnere mich, dass ich noch das laute Rauschen des Wasserschlauchs drüben im Garten hörte. Aber ich nahm es kaum noch wahr. Ich wusste nur, es ging jetzt zu Ende. Das endlos weite Feld, auf dem ich lag, begann sich zu bewegen. Es bewegte sich wellenartig, ganz sanft, hin und her. Tausende bunte Blumen tauchten plötzlich auf der Fläche auf, und neigten sanft ihre Köpfe. Das gesamte Feld sowie alle Sträucher und Bäume verfärbten sich langsam in ein unendliches Blau und einige Sekunden später in ein zartes Violett. Der Himmel glänzte rosarot. Ich wusste nicht mehr –, war es ein Traum oder Wirklichkeit? Dann wurde langsam alles dunkler, so, als zöge ein Schwarm großer Vögel vor die Sonne, bis es ganz schwarz wurde.
Kurz danach war ich weg.

Seitdem ist sehr viel Zeit vergangen. Und seit jenem Tage beobachte ich alles von hier oben. Auf diesem Feld, auf dem ich einst lag, sehe ich noch immer einen Haufen mit neuem Laub, verdorrten Ästen und halb toten Blumen. Nachts höre ich ihr Schreien. Aber es gibt nichts, was ich für sie tun könnte.

Ich könnte für immer hier oben bleiben, denn hier brauche ich nichts und es gibt hier nichts zu befürchten. Aber ich weiß, dass ich irgendwann wieder dort runter muss. Eine unbestimmte Energie wird mich eines Tages auf völlig unerwartete Weise einfach aufsaugen und wieder herunterziehen. Und mir ist klar, dies kann jederzeit geschehen.

Nun schaue ich tagtäglich auf all diese Häuser herab.
Manche haben schöne Gärten voll saftiger Rasenflächen und bunter Blumen. Ich entdecke Teiche und jede Menge Wasserhähne und Schläuche. Andere Häuser hingegen haben verkommene Gärten; sind kahl und vertrocknet.
Aber ich sehe auch sehr viele Häuser, in denen niemand wohnt. Es scheint mir, als seien sie vergessen worden.
Und ich habe Angst.

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Das Foto, das mich zu dieser Geschichte inspiriert hat, ist hier
:

http://img5.fotos-hochladen.net/uploads/kaktusctogwufy08.png
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Liebe Ji!

Gut, dass die Pflanzen nicht wirklich fühlen, denken und sprechen können! Wovon sollten wir Menschen uns letztlich ernähren?
Du hast dich in die "Seele" des armen Kaktus hineinversetzt und sehr einfühlsam sein hartes Schicksal geschildert. Bis zu seinem Tod (am 15. September 2009) konnte ich mit ihm mitfühlen, aber den Aufstieg in den 'Pflanzenhimmel' fand ich dann doch arg konstruiert.

Trotzdem: Wie immer gern gelesen!

Gruß, Hyazinthe
 

Ilona B

Mitglied
Hallo Ji,
wie immer ist Deine Geschichte ganz toll geschrieben. Du hast einen lebhaften, einfühlsamen Stil und ich lese Deine Beiträge sehr gerne. :)

Es hätte mich interessiert, warum der Kaktus auf einmal aus dem Garten musste und warum er so lange vor der Tür stand, bis er entsorgt wurde. Was aber für die Story nicht wichtig ist.

Mir ist nicht ganz klar, ob er der einzige Kaktus im Garten war?
Im Vergleich zu den anderen Blumen und Pflanzen, die mich umgaben, war ich hässlich. Ein unförmiges Gewächs mit langen Tentakeln, die richtungslos um sich griffen. Ich war nichts weiter als ein gewöhnlicher Kaktus in einem Land voller Kakteen,
Die Schreie würden mich interessieren, aber ich denke sie sind nur von anderen Pflanzen zu Hören. ;)

Manchmal fing ich einfach an zu schreien. Ich schrie so laut, dass man mich Kilometer weit hören musste.
Meines Erachtens hätte der Teil im Himmel (oder war es die Hölle), wegfallen können, der war mir auch ein bisschen zu pathetisch, jedenfalls für eine Pflanze.
Ich überlege gerade, wenn der Kaktus im Himmel war, ist er zu Lebzeiten recht artig gewesen und kommt vielleicht als Rose wieder. :)

Herzliche Grüße Ilona
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Hyazinthe & Ilona

Vielen Dank, dass ihr euch mit dem Kaktus beschäftigt habt! Nun, ein wenig Humor hatte ich schon im Hinterkopf, als ich die Geschichte schrieb. Sehr ernst sollte man sie nicht nehmen…Anlass dazu war einfach dieses Foto im Anhang, das ihr (glaube ich) nicht gesehen habt, es hatte ein sehr ungutes Gefühl in mir ausgelöst. Nicht nur das Ende ist konstruiert/pathetisch – sondern die ganze Geschichte. Denn ein Kaktus, der schreit und auf die Strasse blickt, wo er den Verkehr beobachtet...nun...
@Ilona:
Ich hab mal nachgefragt und folgende Antworten bekommen:
Der Kaktus musste aus dem Garten, weil er dort störte, anscheinend wolte man dort etwas anderes hinpflanzen; ursprünglich wollte man ihn auch gleich auf dem Berg Unkraut entsorgen, liess ihn aber dann doch am Eingangstor stehen. Hab gefragt, warum er denn am Tor stehenblieb und die Antwort war: Damit Du Deine Geschichte schreiben kannst (lach) . Auf die andren Fragen habe ich keine Antwort bekommen. Und das Ende… ähm ja, manchmal brennts wohl ein wenig mit mir durch. Ich denk, meine nächste Geschichte wird wieder eine ganz “normale” sein.
Ganz lieben Dank an Euch für Eure Kommentare! Wir werden uns lesen.
Mit Gruss,
Ji
 
Hallo Ji,
warum entschuldigst du dich so oft für das, was du schreibst?
- Eine die Phantasie anregende und berührende Geschichte. Und sie stimmt nachdenklich. Viel Besseres kann man über Geschichten eigentlich nicht sagen.

Nicht richtig verstanden habe ich die Schlusssätze. Der Kaktus scheint mit einer Wiedergeburt zu rechnen, als was auch immer. Er hört die Klagen von unten und sieht tote Häuser. Gibt er auch denen eine Seele? Hält er jede Art von irdischer Existenz für leidend und hat deswegen Angst vor einer Wiederholung? - Gibt es kein Leben, das bis zum Schluss "lebenswert" ist? Den Satz: "Ich habe Angst." hab ich nicht verstanden.
Viele Grüße
GH
 

Ji Rina

Mitglied
Lieber Jörg,

Ich wollt hier gerade etwas nachsehen - und sehe plötzlich Dein Kommentar!
Hab mich so gefreut...:)

Entschuldige ich mich so oft, für das was ich schreibe? mh...

Zum Satz "Ich habe Angst":
Von oben sind viele schöne Häuser mit bewässerten Gärten zu sehen - und auch andere, verlassene Häuser.
Der Kaktus (oder auch der Mensch) hat Angst, im nächsten Leben in einem der verlassenen Häuser zu landen, wo sich das gleiche Schicksal nochmal wiederholen würde.
Alles sehr bizarr (oh! Sorry!) Aber die Idee zu dieser Geschichte entwickelte sich aus einem sehr präzisen Gefühl, dass ich hatte, als ich den Kaktus sah (Foto-unterhalb des Textes).

Du hast so viel von mir gelesen...Vielen Dank dafür!!!
 



 
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