Im Beinhaus

„Da ist noch das Beinhaus“, sagte Ben, „der Karner … Interesse?“ So abgehackt zu fragen, war sonst nicht seine Art. Es war ihm nur zu spät, erst beim Reden, eingefallen, dass er Max den Anblick von Totengebein vielleicht ersparen sollte.
Sie waren eben aus der Kirche gekommen und standen jetzt wieder auf dem Vorplatz. Weißer Sand und weiß strotzend die Blütenkerzen der Rosskastanien. Es war ein warmer Nachmittag Anfang Mai.
„Aber ja, gern. Nach Sankt Julian kommen wir noch früh genug.“ Max schien sehr gelassen. Sie gingen langsam hinein, ließen die Eisentür hinter sich offen stehen.
Während es drüben im gotischen, wieder einmal barockisierten Kirchenschiff angenehm kühl gewesen war – und es hatte nach den Blumen vom Altar und nach frischer Farbe gerochen -, stand im kreisrunden Beinhaus nur trockene Stickluft, den ganzen Tag erwärmt von den hoch gelegenen Fensteröffnungen. Sie brauchten nicht einmal herumzugehen, nur sich umzuwenden, und hatten als halbrundes Panorama das knöcherne Inventar vor sich.
Eine Registratur des Todes. Die vielen elfenbeinernen Schädel, Hunderte, vielleicht Tausende. Gesondert die langen und die kurzen Röhrenknochen. Beckenschaufeln und Schlüsselbeine. Alles für sich, in schöner Ordnung dicht gepackt auf Podesten und Hängeböden. Gesichert durch dünne Drahtvorhänge. Das Sortieren und Einordnen musste mühsam und zeitraubend gewesen sein.
Für Ben war es nicht der erste Karner, in dem er sich umsah, nur der erste auf dieser Fußreise. Und wohl auch der letzte, sagte er sich, zehn von den vierzehn Tagen sind schon um. Bin eigentlich ganz froh, dass die Zeit mit ihm so schnell vergeht … Nicht dass sie sich gestritten hätten, dass etwas zwischen sie getreten wäre. Sie kamen wie immer gut miteinander aus. Nur: Ben kam nicht über den Anfang hinweg. Sie hatten sich in T. treffen sollen und Ben hatte stundenlang im Hotel auf ihn gewartet. Keine Nachricht von ihm, keine Erklärung für sein Ausbleiben. Am Ende würde er, Ben, morgen früh allein Richtung Osten aufbrechen müssen … Und da verspürte er statt Beunruhigung und Ärger – Vorfreude. Am Abend traf Max doch noch ein.
Einen Augenblick lang den eigenen seelischen Apparat nicht genügend unter Kontrolle gehabt und nun plagte Ben sich mit der jäh aufgetretenen, unwillkommenen Selbsterkenntnis, dass er die Reise lieber allein statt mit dem alten Freund unternommen hätte.
In Max ging jetzt im Beinhaus anderes vor. Er dachte sofort wieder daran, dass er seinen künftigen Leichnam nicht der Wissenschaft zur Verfügung stellen konnte, aus den bekannten Gründen - sie nahmen keine AIDS-Leichen. Schade, damit wäre er die Sorge um sein Skelett los gewesen. Wie die Knochen hier gestapelt waren, das war doch entwürdigend. Blieb also nur Einäschern übrig, doch das war für ihn auch nicht verlockend. (Es war ruhmlos, er dachte es nicht, fühlte es nur.)
Seine Verstimmung nahm zu, die Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit Ben kehrte zurück. Noch ein Angebot abgelehnt … Er hatte den Freund gebeten, ihm etwas zu benennen, das er ihm testamentarisch vermachen könne. Und Ben hatte nichts bezeichnen wollen. Stattdessen vom Wert immaterieller Erinnerungen gesprochen. Und dass es ohnehin noch lange nicht so weit sei, denn er sei ja noch immer ohne Symptome. Nicht nur Sterben, auch die Vorbereitung darauf schien Max jetzt mühselig und verdrießlich. Wie lange kannten sie sich denn schon, zehn Jahre, fünfzehn Jahre?
Ben versuchte unterdessen, im Geist die früheren Eigentümer der Knochen wiedererstehen zu lassen. Selbstverständlich sah er nur jüngere Männer vor sich, lauter Renaissancemenschen, und er wollte sich auch ihre Stellungen zueinander vergegenwärtigen, ihre Leidenschaften, ihr Lieben, ihr Hassen. Eifersucht, Rivalität. Sich vorzustellen, dass die Reste der größten Feinde von damals jetzt eng aufeinander lagen, liegen mussten … Nähe, du bist der Fluch der Materie … Und nicht mal im Tod gibt es Einsamkeit?
Ohne sich darüber zu verständigen, brachen sie den Aufenthalt im Karner plötzlich ab und gingen schnell hinaus, Ben voran. Draußen wies er auf die Blütenkerzen und sagte: „Aber hier ist es schön … Noch kein Anzeichen des Verblühens. Sie sind jetzt auf dem Höhepunkt.“
 



 
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