Im Fadenkreuz (Erstes Kapitel)

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IM FADENKREUZ


ERSTES KAPITEL



Begonnen hatte es mit der Reedukation. Nachdem er den Auftrag seines Lebens verpfuscht hatte, blieb Wachtmeister Müller nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Er trug die Schuld daran, dass Timo Lechner – zeit seines Lebens flüchtiger Verbrecher und Systemgegner – aus der U-Haft entweichen konnte und die Öffentlichkeit wochenlang in Atem hielt. Er hatte versagt, denn selbst über dessen Tod hinaus geisterte der Computervirus von Timo Lechner durchs Netz und verursachte Schäden, die in die Millionen gingen. Müller konnte froh sein, dass ihn die Staatssicherheit nach dieser Blamage nicht sofort liquidiert hatte. Schwer angeschlagen trat der Wachtmeister den Weg in die Reedukation an.
Sie hatten ihm einen Chip in den Kopf gepflanzt.
Zuerst glaubte er, es sei eine einfache Operation, nach der er mit frischen Kräften wieder ins Arbeitsleben zurückkehren könnte. Das war eine Täuschung. Am Anfang nahm er den Unterschied nicht wahr, was auf die starke Medikation zurückzuführen war. Aber dann setzte die tägliche Zermürbung durch eine grauenhafte Bewusstseinsspaltung ein, von der er nie wieder genesen sollte. Man unterzog ihn der perfekten Gehirnwäsche. Sein ganzer Kopf war verdrahtet, und sobald die Elektronik einen verbotenen Gedanken aufspürte, griff sie durch elektrische Reizung komplementärer Zentren in den Gedankenfluss ein. Es war, als ob ständig jemand auf ihn einschlüge: Verboten! Verboten und dreimal verboten!
Das 22. Jahrhundert hatte einiges an ausgefeilter Computertechnik zu bieten. Selbst wenn die Programme noch lange nicht ausgereift waren, bastelte man ganz offen an dem Nachfolger des Homo Sapiens: dem Homuter. Er sollte eine Kreuzung aus Mensch und Rechner darstellen, ein Wesen, das der ständigen Kontrolle unterworfen war und nur das tat, was man ihm vorschrieb. Die Zukunft versprach ein Jahrhundert der perfekten Überwachung. Und an Wachtmeister Müller hatten sie es ausprobiert.
In seinen Träumen ersann er sich manchmal eines verbotenen Buches, das er gelesen hatte. Es war ein altes Buch, und es sollte das einzige Mal in seinem Leben bleiben, dass er mit verbotener Literatur in Kontakt kam. Die Handlung des Buches erschien ihm nach all den Jahren seltsam verschwommen. Nur wenn er in Morpheus‘ Armen lag, kam die eine oder andere Erinnerung ans Licht. Seine Träume drehten sich um eine plumpe Figur aus Lehm, kahl und in schlichtem Weiß, die dadurch zum Leben erwachte, dass ihr ein alter, gelehrter Rabbiner einen Zettel hinter die Zähne klebte, auf dem ein magisches Wort stand. War der Golem – denn so nannte man die magische Gestalt – zum Leben erweckt, so vollbrachte er die ungeheuerlichsten Dinge. Am Abend setzte der Rabbiner dem Spuk ein Ende, indem er den Zettel wieder entfernte, woraufhin das Wesen zu Lehm erstarrte.
Manchmal gelang es dem Wachtmeister für ein Weilchen, seine Gedanken der Überwachung zu entziehen. In solchen Momenten fragte er sich, was wohl ein Wesen empfinden mochte, das nicht Mensch und nicht Tier war, weder ein lebloser Gegenstand noch eine beseelte Kreatur, ein seltsamer Homunkulus, der durch eine Kette verworrener Umstände dazu imstande war, in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Der Golem erinnerte ihn auf unheimliche Weise an sein eigenes trauriges Dasein, über dem wie ein Damoklesschwert die Überwachung durch die Gedankenpolizei schwebte.
Die Gedankenpolizei: Wie oft hatte er diese unselige Einrichtung verflucht. Der Marschall selbst hatte die Truppe nach den großen Studentenunruhen vor zwanzig Jahren ins Leben gerufen. Die Technologie der neuralen Programmierung war seit langem bekannt, doch es bedurfte des Deckmäntelchens staatlicher Sicherheit, um sie ganz offen in den Alltag zu integrieren. Einmal in der Woche musste Müller den beschwerlichen Weg durch die halbe Stadt auf sich nehmen, um seine Schaltkreise von den Programmierern der Gedankenpolizei durchleuchten zu lassen. Am Hinterkopf trug er ein kleines Interface, das auf einfache Art an den Großrechner gekoppelt wurde. Nun spürte die Software elektrische Impulse in den Nervensträngen auf, die auf bestimmte Gedankenmuster hinwiesen. Trat eine verbotene Assoziation auf, so wurden die Synapsen auf biochemischem Weg blockiert und der Gedanke so unterbunden. Zusätzlich programmierte der Rechner bestimmte Gefühlsmuster ein, die an den Berufsalltag eines Streifenbeamten angepasst waren. Müller hatte keine Wahl: Die Alternative zur Reedukation war klammheimliche Liquidierung. Es blieb sowieso kein Ausweg offen, denn nach dem Eingriff musste er wie ein kleines Kind beginnen, den Umgang mit Worten und Gesten zu erlernen. Die Erinnerung an seinen Berufsalltag blieb ihm erhalten, doch alles, was mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hatte, seine geheimen Leidenschaften, der Hang zur Malerei: Es war wie ausgelöscht. Eine entscheidende Rolle spielte das nicht, da er ohnehin Malverbot hatte. Doch nun, da sein ganzer Charakter umprogrammiert wurde, hätte er selbst dann nicht malen können, wenn es sein größter Herzenswunsch gewesen wäre.
Es war an einem stickigen Tag im Spätherbst – was nicht ins Gewicht fiel, denn in Megalopolis K waren alle Tage trübe und klamm – als Müller nach der wöchentlichen Gehirnwäsche in das Arbeitszimmer seines Vorgesetzten gerufen wurde. Polizeirat Ehlert hatte wie üblich blendende Laune, kaute an seiner dicken Zigarre und genoss es sichtlich, dem ungeliebten Untergebenen eine Lektion zu erteilen. Müller war es gewohnt. Er kauerte sich schicksalsergeben in den abgewetzten Sessel und blickte starr auf den soliden Schreibtisch, der die Trennlinie zwischen ihm und dem selbstzufriedenen Leiter des Kommissariats bildete. Ehlert paffte zufrieden an seiner Havanna und musterte den Sündenbock der Abteilung wortlos einige Minuten. Müller wollte die unvermeidliche Standpauke hinter sich bringen, hob zum Sprechen an, als der Polizeirat keine Anstalten machte, ihm den Grund seiner Vorladung zu offenbaren. Doch Ehlert schnitt ihm sofort das Wort ab. „Sie sind ein Schandfleck für das Präsidium, und Sie wissen es, Müller.“
„EIN SCHANDFLECK“, zuckte es durch Müllers Gehirn, „setz dich gerade und benimm dich.“ Der Chip reizte das Broca-Zentrum, und Müller setzte erneut zum Sprechen an. „Gewiss, und ich...“
„Klappe halten. Wer oder was Sie sind, ist allein meine Entscheidung. Wir hätten Sie auch zur Organspende schicken können, aber ich muss zugeben, dass ich noch Pläne mit Ihnen habe.“
„Gewiss. Ich kenne meine Aufgaben und werde...“
„Klappe halten. Sie werden erst einmal in die Kleiderkammer versetzt, bis Sie wieder ordentlich sprechen gelernt haben.“ Er feixte und schob dem Wachtmeister eine matt glänzende Pistole über den Tisch. „Sie haben die Option. Nehmen Sie Ihre geliebte Walther und kooperieren Sie, oder geben Sie sich... Sagen Sie mal, hören Sie überhaupt zu?“
Müller zuckte zusammen. Mechanisch stammelte er eine Entschuldigung und wandte den Blick von dem rot und blau gemusterten Teppichboden ab. Er hätte schwören können, in dem Spalt zwischen Tisch und Wand einen fetten schwarzen Skorpion verschwinden zu sehen, der bedrohlich mit dem tödlichen Stachel wippte.
Der Polizeirat nahm keine Notiz von Müllers Beklemmung. Er schien keinen Gefallen mehr daran zu finden, den Beamten abzukanzeln und zerdrückte mürrisch seine Zigarre. „Mir ist es gleichgültig, wenn Sie Ihr Schicksal verwirken. Sie werden demnächst mit einem V-Mann zusammenarbeiten, der Ihnen übrigens schon länger bekannt sein dürfte. Die nötigen Instruktionen erhalten Sie nächste Woche im Rechenzentrum. Ihren Auftrag darf ich Ihnen derzeit leider noch nicht bekannt geben. So, und jetzt tun Sie mir den Gefallen und schwingen Sie sich aus meinem Büro. Ich habe es satt, mir dauernd Ihre dämliche Visage anzuschauen.“
„Gewiss.“ Müller blinzelte noch immer verstohlen auf den Spalt, in dem der Skorpion verschwunden war, besann sich dann aber und ging zur Tür. Der Polizeirat schnaufte noch ein Schimpfwort, dann stand Müller allein auf dem Flur, in der Rechten die Walther, in der Linken seine Dienstmarke.
Manchmal dachte Müller an Suizid.
Am Anfang war es nur ein flüchtiger Gedanke: Was wäre, wenn? Er trug die Dienstwaffe bei sich; nichts wäre einfacher gewesen. Schieb dir das Ding ins Maul, drück ab, fertig, aus. So hatte er es sich oft ausgemalt, wenngleich er anfangs in einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung darauf gewartet hatte, dass man ihn gewaltsam liquidierte. Aber nichts geschah, und seine Pein nahm kein Ende. Der Hass und die Verachtung, die ihm täglich entgegen schlugen, zehrten an seinen Nerven und verbrauchten all seine Energie. Die freundlichen Worte von Seiten seiner Umwelt wurden spärlicher und blieben schließlich ganz aus. Wie eine schlecht funktionierende Maschine fühlte er sich manchmal: abgenutzt und kraftlos. Mehr als einmal war es vorgekommen, dass er seine Dienstwaffe auseinander nahm, putzte und sich ausmalte, wie es wohl sein könnte, die letzte Reise anzutreten.
In seinem Kopf tobte der Dritte Weltkrieg, und es gab keine Linderung für seine kranke Seele. Kein Heilmittel und keine Medizin, nur eine grässliche Persönlichkeitsspaltung, die ihn all seiner früheren Wertvorstellungen und Ziele beraubte. Manchmal fühlte er sich schon fast wie einer jener Androiden, die zum Kampfmittelräumdienst und für Spezialaufträge eingesetzt wurden. Äußerlich glichen diese Roboter normalen Menschen, aber an ihrer abgehackten Sprechweise und den ruckartigen Bewegungen erkannte man rasch, wen man vor sich hatte. Müller wollte keine Maschine werden, und er suchte immer neue Mittel und Wege, um das menschliche Maß nicht zu verlieren.
Oft hörte er ohrenbetäubenden Techno, wenn er die Spaltung seiner Persönlichkeit zu übertünchen versuchte. Manchmal gelang es ihm mithilfe der hämmernden Musik, sich an Erlebnisse aus der Vergangenheit und an Gefühle zu erinnern, die er längst vergessen wähnte. Da war die Erinnerung an seinen Hund Toto, den brutale Grenzer mit einem Kopfschuss vor seinen Augen hingerichtet hatten. Von Zeit zu Zeit stiegen auch die längst vergessenen Bilder aus seiner Seele empor, die Ölgemälde, die er einst mit leichten Fingern auf die Leinwand gezaubert hatte, die Aquarelle und die unzähligen Kohlezeichnungen. Seit der Gehirnoperation war es ihm nicht möglich, ein Bild zu erschaffen. Er versagte schon, wenn es darum ging, einen einfachen Kreis auf das Papier zu bringen.
Doch auch die Musik brachte keine dauerhafte Linderung, und so beging er eines Nachts eine Verzweiflungstat. Er dachte nicht lange darüber nach, nahm einfach ein Kabel aus dem Schrank, vernetzte seine neuralen Schaltkreise mit dem Computer, der in keiner Wohnung fehlte, und spielte ein Virus direkt in sein Gehirn. Es war jenes zerstörerische Programm, an dem sein verstorbener Widersacher Timo Lechner zeit seines Lebens gearbeitet hatte. Nun war der Computervirus in seinem Kopf, und es begann eine unheimliche Schlacht zwischen seinen ureigenen Gedanken, dem Chip, den man ihm eingepflanzt hatte, und der Piratensoftware, die Lechner geschaffen hatte.
Aus diesem Zusammenspiel der Kräfte ergaben sich ungeahnte Konsequenzen. Es war nahezu unmöglich vorauszusagen, welcher der drei Faktoren die Oberhand gewinnen sollte. Und so wurde Müllers ehemals gefestigter Charakter unbeständig wie ein Fähnchen im Wind. Manchmal war er grundlos aggressiv, ballte schon die Faust in der Jackentasche, wenn ihn jemand freundlich begrüßte. Oft bewirkte dann der Chip in seinem Schädel, dass die Wut stets in geregelten Bahnen verlief und niemals das Auge des Gesetzes auf den Plan rief. Der Unmut kippte um in Selbstzerstörung. Es geschah wiederholt, dass Müller seine eigene Haut mit dem Feuerzeug versengte, nur um sich zu beweisen, dass er noch Schmerzen fühlen konnte. Der Computervirus, der sich in die neuralen Schaltkreise eingeklinkt hatte, wirkte subtiler. Er schlummert meist im Verborgenen, machte sich nur dadurch bemerkbar, dass sich Müllers Empfindungen merkwürdig verlangsamten, obwohl er sonst immer als heller Kopf galt. Dann geschah es, dass er eine geschlagene halbe Stunde an demselben Gedanken festhing, und sei es auch nur der Vorsatz, eine Kanne Malzkaffee aufzubrühen. Niemand nahm von Müllers Langsamkeit Notiz, denn in den Beurteilungen der Personalabteilung galt er seit jeher als begriffsstutzig, was sich wohl eher darauf zurückführen ließ, dass der zuständige Beamte ihn um seine mittlerweile verkümmerten künstlerischen Fähigkeiten beneidete.
Manchmal kam es auch vor, dass Müller sich auf seine früheren Prinzipien besann und sich für kurze Zeit von dem Joch befreite, das man ihm aufgebürdet hatte. Dann wirkte er seltsam benommen, starrte verträumt in die Luft und dachte an seine Bilder, die nun Leuten gehörten, die er nicht mochte und die niemals verstehen würden, was seine Malerei ausdrücken sollte. In solchen Momenten griff er oft zum Telefon und rief Lechners ehemalige Freundin an, Krankenschwester Bianca. Er sprach kein Wort, wartete nur, bis er ihre Stimme am anderen Ende der Leitung hörte und legte dann schnell auf, bevor sie erraten konnte, wer der anonyme Anrufer sein mochte. Er dachte dabei nicht an sexuelle Dinge oder vergangene Geschehnisse – denn das war ohnehin verboten – und hätte man ihn gefragt, weshalb er immer wieder die eine Nummer wählte, so wäre er sicher die Antwort schuldig geblieben. Aber es geschah hin und wieder, dass er nach diesen Anrufen einen Stift in die Hand nahm und zwanghaft versuchte, eine Skizze anzufertigen. Leider endete dieser Versuch stets in wirrem Gekrakel, aus dem kein Sinn zu erkennen war.
Als Müller nun allein auf dem Gang stand, liefen seine Gedanken langsamer, fast wie in Trance. Mühsam erinnerte er sich an seinen Wunsch, nach Hause zu fahren und sich den Kopf mit Techno voll zu dröhnen. Er hatte Feierabend, und den Namen seines Kontaktmannes würde er erst in der kommenden Woche erfahren. Da man ihm den Führerschein entzogen hatte, nahm er die Metro. Eine unangenehme Beklemmung überkam ihn, als er sich im Pulk der Menschen treiben ließ und in die überfüllte Bahn einstieg. Eine Gruppe Betrunkener machte Randale. Müller beschränkte sich darauf, die Diskussion unbeteiligt zu beobachten.
„Luur die Ahl an, die hätt ja woll unsre Plätz in Beschlaach jenomme.“
Ein junger Punker griff ein. „Lass die Ahl, dä Fette doh jäät mer mieh op de Nääve.“ Er gab Müller eine Kopfnuss. „Hüür ens, bess doh nit dä schääl Typ, dä letztens im TV wohr?“
Müller wollte sich zurückhalten, da er in der Reedukation gelernt hatte, offene Aggression zu vermeiden. Doch dann durchzuckte ihn eine wirre Erinnerung an das Alte Revier, in dem die Gesetzlosen wohnten. Sie hatten ihn mit Zigarettenstummeln gefoltert. Langsam, wie in Zeitlupe, griff er in das Achselhalfter und zog die Pistole hervor. Der Punker war beeindruckt. „Zeijens her, dat ess ja woll die jeilste Kanone, die isch ming Leefdaach lang jesiehn hann. Ess die ääsch?“
Müller versagte die Stimme, er räusperte sich mühsam, entsicherte die Pistole und lud sie durch. Der Punk bekam kalte Füße und verdrückte sich in die andere Hälfte des Abteils. Müller verzichtete darauf, seine Überlegenheit auszuspielen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, wartete darauf, endlich auszusteigen. Die Rentnerin lobte ihn: „Das nenn ich Zivilcourage. Tragen Sie ruhig Ihre Waffe bei sich, junger Mann, ich werde Sie nicht verraten. Seit meine Tochter im FKK aktiv geworden ist, habe ich nicht solch eine mutige Tat gesehen.“
Müller fuhr zusammen: DAS FKK! Vor Jahr und Tag war er bei einer Routineuntersuchung dem Feministischen Kampfkorps auf die Schliche gekommen. Anfangs hatte er geglaubt, es handele sich um eine kleine Gruppe von radikalen Frauen, die sich heimlich in einem Lagerraum trafen, um in der patriarchalischen Gesellschaft Zwietracht zu säen. Zu dieser Zeit war er längst in das Blickfeld der radikalen Organisation geraten. Sie organisierten die Demontage seiner Karriere und machten ihn mithilfe der Medien in aller Öffentlichkeit lächerlich. Er verlor den letzten Rest seiner Privatsphäre, die er in dem totalitären Regime noch genoss. Es handelte sich, wie Müller später desillusioniert feststellte, nicht um eine lokale Gruppe, sondern um einen landesweiten Geheimzirkel, der dezentral arbeitete und im Verborgenen die Fäden zog. Niemand wusste von dem anderen, sie tauschten die Einsatzbefehle über verschlüsselte Meldungen aus dem Hypernet aus und trafen sich in heimlichen Zirkeln an Orten, die keiner kannte. Der Einfluss des FKK war nicht zu unterschätzen. Die Organisation hatte ihre Spitzel überall, in den Rundfunkstationen, bei den Zeitungsverlagen und in den Spitalen. Sie wirkten in der Öffentlichkeitsarbeit, in den Geschäften und Unternehmen der Megalopolis, und selbst die Polizei war von den Feministinnen unterwandert. Müller bekam es nicht gut, sich in die Angelegenheiten des FKK einzumischen, denn bald grinste ihm sein eigenes Gesicht aus den Fernsehkanälen entgegen, und die Leute lachten an allen Ecken, wenn er seine Wohnung verließ, um sich eine Tüte Brötchen zu holen. Dennoch gab der Wachtmeister seine Recherchen nicht auf, denn er war ein Starrkopf von Geburt an. Immer noch hatte er einen Rest seiner Persönlichkeit bewahrt, und so hängte er sich weiterhin Abend für Abend vor den Computer und verfolgte die chiffrierten Mitteilungen der Ortsgruppe des FKK. Aber in all der Zeit war es noch nie vorgekommen, dass jemand in der Öffentlichkeit den Namen des geheimen Zirkels laut aussprach. Müller stutzte und nahm die Alte, die ein offenes Wort gewagt hatte, in Augenschein. Sie mochte jenseits der Siebzig sein und hielt sich nur mithilfe eines Krückstocks mühsam auf den Beinen. Offensichtlich hatte ihre Persönlichkeit unter den Unbilden des Alters gelitten, denn sie murmelte ununterbrochen einen Strom von Wortfetzen vor sich hin, seltsam unartikulierte, abgehackte Sätze, die nur dem Eingeweihten etwas sagen mochten. Vielleicht ein Fall von Alzheimer, mutmaßte Müller, denn sie trug trotz der niedrigen Temperaturen nur eine dünne Bluse und lief in Badeschlappen durch die endlosen Gänge der Metro. Müller folgte ihr unauffällig, was nicht weiter nötig gewesen wäre, denn die Alte war ohnehin so benebelt, dass sie von ihren Mitmenschen keine Notiz nahm. Sie verließ die Metro am Hahnentunnel und betrat ein verkommenes Haus am Ende der Passage. Offenbar befand sich dort ihre Wohnung. Müller notierte alle Namen am Klingelbrett und erinnerte sich dann daran, dass er eigentlich auf dem Heimweg war. Er hatte das starke Bedürfnis, seinen Schädel mit hämmernden Technorhythmen zu sprengen, bis der letzte Rest seiner Selbstzweifel aus dem Bewusstsein ausgelöscht sein würde und alle Gedanken in der Musik untergingen, er die Resonanz des Basses bis in den Magen spürte und ihm schließlich in einsamer Ekstase die Sinne schwanden.
Tage vergingen. Müller arbeitete vormittags in der Kleiderkammer des Präsidiums, wusch und bügelte Uniformen, putzte Schuhe und nahm kleine Ausbesserungen vor. Polizeirat Ehlert ließ nichts von sich hören, und fast erwartete der Wachtmeister den Termin bei der Gedankenpolizei mit heimlicher Vorfreude. In all der Zeit hatte sich die neurale Programmierung nur ungünstig auf seinen Charakter ausgewirkt. Nun sollte er zum ersten Mal einen wirklichen Auftrag bekommen, fast wie früher. Nach dem Dienst stellte er weitere Recherchen an, die sich mit dem Feministischen Kampfkorps beschäftigten. Er erstellte eine Liste von Adressen, die er bei Gelegenheit überprüfen wollte. Ab und zu stahl er ein Bündel Akten aus dem Magazin, um seine Kenntnisse zu vertiefen. Er hatte mehr Glück als Verstand, dass diese Übergehung der Dienstvorschriften niemandem auffiel. Vielleicht aber war der Polizeirat auch im Bilde und duldete den Diebstahl großmütig, da er seine Pläne mit Müller nicht gefährden wollte. Ansonsten erledigte der Wachtmeister seine Aufgaben zu aller Zufriedenheit. Er musste nicht viel reden, nahm die schmutzigen Uniformen entgegen und brummte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Außer ihm waren noch andere Kollegen in der Kleiderkammer, die den Fehler begangen hatten, sich an beschlagnahmtem Kokain zu bedienen. Müller kümmerte sich nicht um die anderen, schob seine Schicht und wartete auf den Feierabend. Zu Hause verbrachte er seine Zeit damit, seine Walther zu putzen.
Dann kam der Termin beim Rechenzentrum. Es war wie sonst auch: Am Eingang präsentierte Müller seine Dienstmarke, legte die Waffe ab und ging durch den Metalldetektor. Er stieg in den Fahrstuhl, wählte die fünfte Etage – Reedukation. Der Fahrstuhl war alt und fuhr die Etagen oft doppelt an, ächzte und knarrte, wenn er die Last auf alle Stockwerke verteilte. Stecken blieb er nie. Müller ging leichtherzig auf den Systemadministrator zu, ließ sich festschnallen und erlaubte es, dass der Beamte ihn mit dem Großrechner verband. Im Stillen griente Müller, denn es war ihm längst klar, dass der Großrechner von dem Virus infiziert war, das sich in seine Schaltkreise eingeklinkt hatte. Die Programmierer hatten das anscheinend noch nicht bemerkt. Das Programm startete, und Müller empfing die wöchentliche Lektion. Doch diesmal war etwas anders als sonst. Er war es gewohnt, dass sich Halluzinationen einstellten, wenn er sein Pensum lernte. Aber nie waren die Eindrücke so stark, zum Greifen nahe gewesen. Er sah den Programmierer am anderen Ende des Raumes stehen, dann teilte sich das Bild, und aus dem Off erklang die herrische Stimme von Polizeirat Ehlert. „Dies ist Ihr Auftrag, den Sie in aller Stille zu verfolgen haben. Sie werden undercover im Alten Revier ermitteln und alle Aktivitäten einer Person aus der autonomen Szene mit dem Codenamen Zappa überwachen. Zur Seite steht Ihnen ein V-Mann, dessen Name Ihnen hinreichend bekannt sein dürfte: Armin Lechner. Sie melden sich einmal in der Woche im Rechenzentrum, um Rapport zu erstatten. Sind die Informationen brauchbar, so werden Sie in den Personenschutz versetzt. Wenn Sie versagen, lautet die bestmögliche Alternative: Kleiderkammer und Toilettenreinigung.“
Es folgte eine elend lange Liste mit Namen, Adressen und Daten, die der Rechner direkt in seinem Kopf abspeicherte. Müller wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dass er mit Armin Lechner zusammenarbeiten sollte, gefiel ihm nicht. Der Cousin von Timo war ein durchtriebener Fuchs, mit allen Wassern gewaschen und nie um einen teuflischen Schachzug verlegen. Jetzt sollte er also als V-Mann ermitteln – ausgerechnet Lechner, der immer auf der anderen Seite des Gesetzes gestanden hatte. Wahrscheinlich tat er das nur, um seine eigene Haut zu retten, und es war nicht auszuschließen, dass er dabei eigene Ziele verfolgte. Müller war hundeelend zumute. Ausgerechnet im Alten Revier sollte er ermitteln. Die Autonomen kannten ihn schon, sicher würden sie ihm keinen angenehmen Empfang bereiten. Und auch von Seiten des Polizeirats war keine Nachsicht zu erwarten. Mit trüben Gedanken fuhr Müller nach Hause, setzte sich an den Computer und fertigte eine Liste mit verdächtigen Personen an.
Er entschied sich, zunächst eine Spur zu verfolgen, die auf den ersten Blick wenig erfolgversprechend schien. Im Alten Revier – dem Tummelplatz der Andersdenkenden – intrigierte nicht zuletzt das FKK. Er dachte an die Alte aus der Bahn und nahm sich vor, ihre Tochter aufs Korn zu nehmen. Es war kein weiter Weg bin ins Alte Revier, aber die Schwierigkeit bestand darin, dass er seine Dienstwaffe nicht mitnehmen konnte. Mit einer Perücke und einem falschen Bart ausstaffiert, mogelte er sich als Rastafari durch die Kontrolle. Das fiel nicht weiter auf, denn es wurde stillschweigend geduldet, dass die Freaks und Kiffer im Alten Revier ihren Rausch ausschliefen. So blieben die Straßen der Megalopolis sauber. Die elektronische Schutzglocke verhinderte, dass jemand außerhalb der Kontrollpunkte in das Hasch-Hippie-Paradies eindrang.
Müller irrte im Schein seiner Taschenlampe durch die Zeltstadt, verteilte hier und da eine Ohrfeige, um nicht belästigt zu werden. Die Zielperson wohnte in einem abrissreifen Haus am Rande des Reviers. Transparente hingen aus den Fenstern. „Freiheit für die Gefangenen“. Graffiti prangten an der Häuserwand. „Edelweißpiraten in Megalopolis K“. Müller seufzte, kramte eine Spraydose aus der Tasche hervor und verewigte sich auf der Hauswand. „Sif Sif Sif.“ Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wenn sie ihn beim Sprayen erwischten, war ihm eine Tracht Prügel gewiss. Er stolperte durch die Botanik, erreichte den Garten hinter dem Haus und machte noch ein Foto von dem besetzten Gebäude. Gerade wollte er sich klammheimlich durch die verwilderten Schrebergärten zum alten Bahndamm hinüber verdrücken, da stieß er – nein stolperte er buchstäblich – über einen leblosen Körper. Es war ein nackter Homosexueller, mager und ausgelaugt, dem sie vor nicht allzu langer Zeit den Schädel eingeschlagen hatten. Sein Hirn quoll aus dem Kopf, die Stiefmütterchen hatten das Blut über Nacht schon aufgesaugt, wahrscheinlich die Rache eines Strichers an dem zahlungsunwilligen Freier. Müller blieb die Luft weg. Er hatte viel erlebt in den langen Jahren auf Streife und bei den Ermittlungen im Fall Timo Lechner. Aber dass eine Untersuchung mit einer Leiche begann, noch bevor er sich darüber im Klaren war, wie er den Fall angehen sollte, das war zuviel für seine ohnehin schwachen Nerven. Er lehnte sich an den nächsten Apfelbaum und kotzte sich die Seele aus dem Leib.




© 2000 by Marcel Sommerick
 



 
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