Ich gab nach und ging zum Arzt. Ich gebe ja zu, das eine oder andere Organ in meinem Körper ist nicht mehr ganz so intakt, aber immerhin fühle ich mich sauwohl. Und deshalb empfinde ich einen erzwungenen Arztbesuch jetzt mal grundsätzlich als eine Zumutung, auch wenn er aus Sorge um mein Leben erfolgte. Aber nun war ich da und saß im Wartezimmer von Dr. Brüggen, der vor fünfundzwanzig Jahren in der Schule eine Bank vor mir gesessen war. Wir haben keinen persönlichen Kontakt mehr, aber wir wohnen beide in einer Kleinstadt, und da blieb es nicht aus, dass wir uns hin und wieder über den Weg liefen.
Statt einer hübschen Arzthelferin stand plötzlich der Doktor in der Tür, schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte mit monotoner Stimme: „Komm rein, Stefan.“
Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch, und da saßen wir nun, und jeder schaute den anderen an. Während ich dachte, dass der Besuch wahrscheinlich eh wieder für die Katz' sei, schien mich mein Gegenüber regelrecht abzuscannen.
„Du hast schon mal besser ausgesehen, mein Freund“, sagte er leise vor sich hin und blätterte in meiner Krankenakte. „Letzter Besuch: vor sieben Jahren. Das ist ein bisschen lange her, meinst du nicht? Richte dich mal künftig auf eine jährliche Routineuntersuchung ein. Hast du Schmerzen?“
„Eigentlich nicht“, gab ich mich gelassen.
„Was heißt eigentlich? Hast du welche oder nicht? Deute mal mit dem Finger auf die Stellen, die wehtun.“
Ich tat, was er verlangte und ergänzte: „Es sind eigentlich keine richtigen Schmerzen, manchmal tut es nur so ...“
Der Doktor ließ mich nicht ausreden, sondern forderte, dass ich mein Hemd ausziehe. „Oberkörper freimachen und da auf die Liege!“ Er deutete mit der Hand auf die mit einem weißen Papier belegte Liegefläche. Da kam er auch schon gleich mit dem Stethoskop, einer Blutdruckmanschette, zwei routinierten Händen und dem Blick eines Sadisten, der sein Opfer gefunden hatte. Mir wurde mulmig. Vielleicht hatte er gemerkt, wie unangenehm mir das alles war, und dass ich deshalb schwieg. Eine ganz Viertelstunde lang. Ist ja auch nicht jedermanns Sache, wenn ein Fremder einem die Organe abtastet und knetet und drückt und abhört. Als er fertig war, durfte ich mich wieder anziehen und auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nehmen.
„Das ging ja schneller, als ich dachte“, konnte ich meine Freude nicht verheimlichen.
„Wir sind noch nicht fertig“, kam es trocken zurück.
Ich schwieg betroffen, wohl ahnend, dass da noch eine unangenehme Nachricht hinterherkommen könnte.
„Stefan“, begann er ganz vertraulich, „wieviel kippst du dir jeden Tag ins System?“
„Och“, reagierte ich ganz locker. „Vielleicht ein Bier und abends vielleicht noch eines und zwei Schnäpse. “ Und dann schob ich nach: „Höchstens.“
Er sah mich an und begann das Gehörte zu notieren. Hatte er meine Angaben wirklich gefressen? Ich konnte es kaum glauben und beugte mich leicht nach vorn, um zu lesen, was er in das Patientenformular eingetragen hatte: Sechs bis zehn Biere, über den Tag verteilt, und wenigstens zehn Schnäpse.
„Seit wann trinkst du?“
„Hhhm“, zögerte ich. „Vielleicht seit sechs oder acht Monaten. Vielleicht ein bisschen länger.“
Er schrieb auf: Vermutlich seit mindestens zehn Jahren.
Ich protestierte und wollte ihn fragen, warum er meine Angaben fälsche, aber er fiel mir ins Wort: „Wenn du es darauf anlegst, unterziehen wir deine Leber einer näheren Untersuchung. Meine Schätzung beläuft sich auf zehn bis fünfzehn Jahre. Und das bedeutet im Grunde, dass du schon immer gesoffen hast. Um hier mal zu einem Abschluss zu kommen, stelle ich dir mal ganz vorsichtig folgende Diagnose:
Deine Leber ist stark verfettet. Deine linke Niere hat schätzungsweise kaum noch fünfzig Prozent Leistung. Deine Haut passt besser zu einem Elefanten als zu einem Menschen. Deine Galle ist hyperaktiv, dein Herz schlägt arhythmisch, dein Blutdruck ist eine Katastrophe, und der Ranzen, den du da vor dir herträgst, bringt dich fast aus dem Gleichgewicht.
Du musst mindestens zwanzig Kilo abspecken und sofort die Finger vom Alkohol lassen, sonst wird er dich eines Tages niederstrecken. Und zwar ohne weitere Vorwarnung. Deine Lungen bewältigen täglich mindestens 20 Zigaretten, und mit dem Kraut, das du da inhalierst, haben sie früher die Ratten vergast. Das folgere ich aus dem Röcheln und Pfeifen beim Abhören. Und eines solltest du noch wissen: Mit Medikamenten ist bei deinen Symptomen nichts zu machen, solange du säufst. Es liegt jetzt an dir, selbst etwas für deine Gesundheit zu tun.“
Es hörte sich an, als wollte er mir persönlich den Krieg erklären. Ich sah ihn an, nickte stumm und legte meine Stirn in Falten. „Hör mal, Doktor, Du hast ja studiert und saugst dir das alles nicht aus den Fingern. Aber ich glaube, was das richtige Leben angeht, hast du ein paar Defizite.“
Der Doktor stutzte. „Jetzt machst du mich aber neugierig, Stefan“, murmelte er seufzend und tat so, als gäbe es am Wahrheitsgehalt seiner Worte keinen Zweifel. „Wenn du nicht ein lupenreiner Alkoholiker bist, dann habe ich im Studium etwas falsch gemacht.“„Alles eine Sache der Definition, mein Freund. Gib deinen Tunnelblick auf und sieh die Dinge so, wie sie sind. Die Weltgesundheitsorganisation sagt, wer sich bei der Arbeit auf sein tägliches Feierabendbier freut, sei bereits ein Alkoholiker. Jetzt sag du mir: Wenn ich mich nach einem Anschiss von meinem Chef am frühen Morgen auf mein tägliches Schäferstündchen mit Brigitte freue, bin ich dann sexsüchtig? Oder spielsüchtig, nur weil mir nichts über meinen wöchentlichen Skatabend geht?
Ich will dir was sagen, Doktor, für mich ist Alkohol Lebensqualität. Er befreit mich von all dem Stress, der an der Arbeit, beim Einkaufen und Kartenspielen, beim Sex oder beim Doktor entsteht. Und den willst du mir entziehen? Weißt du, was du da überhaupt tust?“
Er verdrehte die Augen und zeigte mit ausgestrecktem Arm plus Mittelfinger zur Tür.
Ich sah ein, dass ich etwas tun musste, und ich tat etwas. Ich lief weg. Eine solche Lebensumstellung war mit mir nicht zu machen. Ich war ja bereit, im Interesse meiner eigenen Gesundheit zu leiden, aber ein bisschen Spaß am Leben musste einem Menschen doch bleiben, oder?
Ich akzeptierte eine örtliche Veränderung, auch, um diesem intoleranten Doktor nicht mehr über den Weg zu laufen. Zum Glück erklärte sich meine Schwester Gerti am Telefon bereit, mich aufzunehmen. Sie wohnte etwas abgelegen im Thüringer Wald und hatte gerade ihre Scheidung hinter sich. Da ich im Moment keine Arbeit und sie keine Kinder hatte, war es nur logisch, dass ich in das Haus, das einsam nahe einer Kreisstraße zwischen zwei Dörfern gelegen war, vorübergehend einzog. Ich deutete das als Wink des Schicksals und brach am nächsten Tag auf.
Als ich bei ihr eintraf, schaute sie mich genauso an wie Dr. Brüggen nach der Untersuchung. Kein Wunder, die beiden kannten sich. Wir waren uns schnell einig, dass ich die Einsamkeit und die heilende Kraft des Waldes nutzen sollte, um mich wieder in Ordnung zu bringen. Vorsichtshalber verlangte sie von mir, dass ich mich in die Hände eines Naturarztes begeben solle. Damit die Heilkräfte der heimischen Pflanzen auch wirklich voll ausgeschöpft werden könnten.
Nach zwei Tagen begann ich mich an das Haus, die menschenleere Landschaft und die stark reduzierte Menge an Alkohol, die Gerti mir noch zugestand, zu gewöhnen. Am dritten Tag rückte sie am frühen Morgen, als ich noch dabei war, meine Gedanken zu sortieren und Mut für den neuen Tag zu schöpfen, mit der Sprache heraus und erklärte mir, wie sie mich von all den gesundheitlichen Problemen befreien könnte.
„Ich habe dir einen Termin bei Dr. Wollweber gemacht“, überraschte sie mich. „Er war der beste Naturarzt, den es je im Thüringer Wald gegeben hat.“
„War? Praktiziert er nicht mehr?“, wollte ich in der
Hoffnung wissen, dass mir eine zweite Untersuchung erspart bliebe.
„In Ausnahmefällen schon. Er schuldet mir noch einen Gefallen, und deshalb hat er sich breitschlagen lassen. Du sollst ihn übrigens morgen Nachmittag aufsuchen. Er will dich noch einmal durchchecken, und zwar unter ganzheitlichen Gesichtspunkten. Da kommt erfahrungsgemäß etwas ganz anderes heraus als bei einem Schulmediziner wie Dr. Brüggen.“ Das klang hoffnungsvoll.
Gerti wollte mir ganz offensichtlich Mut machen, aber auch ohne ihren Zuspruch hätte ich mich seiner Untersuchung unterzogen. Das Ergebnis konnte ja nicht schlimmer werden; im Gegenteil, und nahmen diese Naturleute den Alkoholkonsum nicht sowieso ein bisschen lockerer?
Dr. Wollweber gewann gleich im ersten Moment meine Sympathien. Er trug Jeans, die Ewigkeiten nicht mehr gewaschen waren, ein buntes Hemd über der Hose und keine Strümpfe. Seine Füße steckten barfuß in Birkenstocksandalen. Sein Stethoskop, das er um den Hals gelegt hatte, wirkte auf dem karierten Stoff des Hemdes wie ein überdimensionierter Hippie-Schmuck. Er war der Aussteiger in Person, und ich hätte gern gewusst, wie er aufgetreten ist, als er noch praktiziert hat.
Um die Sache kurz zu machen: Er hörte mich noch einmal ab, maß den Blutdruck und erwähnte weder den Alkohol noch meine Bauchtrommel mit keiner einzigen Silbe. Ich war sofort von seiner Person überzeugt: Diesem Fachmann der Natur musst du vollends vertrauen, sagte ich mir voller Überzeugung.
„Ich bin mir ziemlich sicher, mein junger Freund“, begann er das Abschlussgespräch, „dass ich Ihre paar Wehwehchen ziemlich schnell in den Griff kriege. Mit Medizin aus der Chemiefabrik ist da allerdings schlecht was zu machen, aber es gibt Hoffnung. Wir haben hier im Thüringer Wald ein paar Stellen, an denen man hydrophylax aniferans findet. Tut mir leid, dafür gibt es keinen deutschen Namen, und man findet die Pflanze auch in keinem deutschen Lehrbuch. Sie gehört in südliche Gefilde. Aber wie gesagt, es gibt sie vereinzelt hier bei uns, und ...“
„Aber da gibt es doch bestimmt ein Präparat in der Apotheke?“, unterbrach ich ihn.
„Ja, gibt es, aber das Zeug hilft nicht.“
„Aber die Pflanze hilft!?“, meldete ich Zweifel an.
„Ja, natürlich, sonst würde ich sie ja nicht empfehlen. Der Unterschied liegt darin, wie der menschliche Körper die Wirkstoffe aufnimmt und verarbeitet. Bei den Tabletten kommt der Wirkstoff nicht da an, wo er hin soll, die Pflanze aber wird komplett und sehr schnell verstoffwechselt und dabei gelangen die frischen Wirkstoffe sofort ins Blut. Das ist entscheidend.“
Ich nickte, als hätte ich verstanden.
„Gut, dann machen wir uns morgen früh auf den Weg und suchen sie. Sagen wir um neun Uhr, und nehmen Sie sich eine Brotzeit mit. Wir kommen erst am Nachmittag zurück. Getränke brauchen Sie nicht, wo wir suchen, befinden sich zwei Quellen. Und noch etwas: Wenn Sie die Behandlung durchziehen, ist sie für Sie kostenlos. Wenn Sie es nicht schaffen, berechne ich meine Arztleistungen mit 60 Euro die Stunde, die Suche im Wald inklusive.“
Ich war nicht davon begeistert, dass ich mitgehen musste, aber er bestand darauf. Er sei nicht der Depp, der für mich Kräuter suche, wandte er ein, soviel müsste ich schon selber für meine Gesundheit tun. Ich wusste nicht, mit welchem Argument ich widersprechen sollte.
So starteten wir den ersten von insgesamt achtzehn Ausflügen von jeweils zehn bis fünfzehn Kilometern Länge. Er erklärte mir stundenlang, wie das gesuchte Kraut aussah und in welchem Biotop es zu finden sei. Er zählte mir die Stellen entlang des Rennsteigs auf, die wir konsequent abwandern würden, bis wir fündig geworden wären. Während der Ausflüge erklärte er mir die Flora des Thüringer Waldes und hielt stundenlange Vorträge, wenn wir mal einen etwas selteneren Vogel vor die Augen bekamen wie etwa einen Tannenhäher oder über einen Hirschkäfer stolperten. Was ich erst ziemlich spät begriff: Er führte mich ausschließlich in das Grüne Band, den Sperrstreifen der früheren Grenzanlage, der heute ganz Deutschland wie ein endlos langer Naturpark durchzieht.
Ich will das Ergebnis unserer Exkursionen vorwegnehmen: Wir fanden dieses Kraut mit dem unaussprechlichen Namen nicht, aber ich fühlte mich mit jedem Ausflug besser. Heute betrachte ich mich persönlich als geheilt. Sogar mein Bauch ist weg, was meinem Blutdruck zugute kommt. Mein Herz ist entlastet, was mich leistungsfähiger macht, die drei Liter Wasser unterwegs waren die beste Entgiftungskur meines Lebens, meine Leber atmete auf und die Lungen pfeifen und rasseln nicht mehr, weil ich wegen der Waldbrandgefahr … na ja, und so weiter und so fort. Das Beste aber ist, dass ich jetzt weiß, wie Heilung in der Natur funktioniert.
Dr. Wollweber ist inzwischen mein Freund. Ich bewundere ihn noch immer, wie er mich mit hydrophylax aniferans auf den Trimm-dich-Pfad der Natur gelockt hat.
Als er neulich meine Schwester besuchte, lüftete er das Geheimnis um Hydrophylax und erklärte uns, was es mit dieser „Heilpflanze“ auf sich habe. Sie existiere nicht; die Bezeichnung stünde für ein Wasserinsekt, für ein aquatisches Insekt mit dem volkstümlichen Namen „Köcherfliege“, deren Nachbildung er zum Fliegenfischen verwende.
Statt einer hübschen Arzthelferin stand plötzlich der Doktor in der Tür, schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte mit monotoner Stimme: „Komm rein, Stefan.“
Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch, und da saßen wir nun, und jeder schaute den anderen an. Während ich dachte, dass der Besuch wahrscheinlich eh wieder für die Katz' sei, schien mich mein Gegenüber regelrecht abzuscannen.
„Du hast schon mal besser ausgesehen, mein Freund“, sagte er leise vor sich hin und blätterte in meiner Krankenakte. „Letzter Besuch: vor sieben Jahren. Das ist ein bisschen lange her, meinst du nicht? Richte dich mal künftig auf eine jährliche Routineuntersuchung ein. Hast du Schmerzen?“
„Eigentlich nicht“, gab ich mich gelassen.
„Was heißt eigentlich? Hast du welche oder nicht? Deute mal mit dem Finger auf die Stellen, die wehtun.“
Ich tat, was er verlangte und ergänzte: „Es sind eigentlich keine richtigen Schmerzen, manchmal tut es nur so ...“
Der Doktor ließ mich nicht ausreden, sondern forderte, dass ich mein Hemd ausziehe. „Oberkörper freimachen und da auf die Liege!“ Er deutete mit der Hand auf die mit einem weißen Papier belegte Liegefläche. Da kam er auch schon gleich mit dem Stethoskop, einer Blutdruckmanschette, zwei routinierten Händen und dem Blick eines Sadisten, der sein Opfer gefunden hatte. Mir wurde mulmig. Vielleicht hatte er gemerkt, wie unangenehm mir das alles war, und dass ich deshalb schwieg. Eine ganz Viertelstunde lang. Ist ja auch nicht jedermanns Sache, wenn ein Fremder einem die Organe abtastet und knetet und drückt und abhört. Als er fertig war, durfte ich mich wieder anziehen und auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nehmen.
„Das ging ja schneller, als ich dachte“, konnte ich meine Freude nicht verheimlichen.
„Wir sind noch nicht fertig“, kam es trocken zurück.
Ich schwieg betroffen, wohl ahnend, dass da noch eine unangenehme Nachricht hinterherkommen könnte.
„Stefan“, begann er ganz vertraulich, „wieviel kippst du dir jeden Tag ins System?“
„Och“, reagierte ich ganz locker. „Vielleicht ein Bier und abends vielleicht noch eines und zwei Schnäpse. “ Und dann schob ich nach: „Höchstens.“
Er sah mich an und begann das Gehörte zu notieren. Hatte er meine Angaben wirklich gefressen? Ich konnte es kaum glauben und beugte mich leicht nach vorn, um zu lesen, was er in das Patientenformular eingetragen hatte: Sechs bis zehn Biere, über den Tag verteilt, und wenigstens zehn Schnäpse.
„Seit wann trinkst du?“
„Hhhm“, zögerte ich. „Vielleicht seit sechs oder acht Monaten. Vielleicht ein bisschen länger.“
Er schrieb auf: Vermutlich seit mindestens zehn Jahren.
Ich protestierte und wollte ihn fragen, warum er meine Angaben fälsche, aber er fiel mir ins Wort: „Wenn du es darauf anlegst, unterziehen wir deine Leber einer näheren Untersuchung. Meine Schätzung beläuft sich auf zehn bis fünfzehn Jahre. Und das bedeutet im Grunde, dass du schon immer gesoffen hast. Um hier mal zu einem Abschluss zu kommen, stelle ich dir mal ganz vorsichtig folgende Diagnose:
Deine Leber ist stark verfettet. Deine linke Niere hat schätzungsweise kaum noch fünfzig Prozent Leistung. Deine Haut passt besser zu einem Elefanten als zu einem Menschen. Deine Galle ist hyperaktiv, dein Herz schlägt arhythmisch, dein Blutdruck ist eine Katastrophe, und der Ranzen, den du da vor dir herträgst, bringt dich fast aus dem Gleichgewicht.
Du musst mindestens zwanzig Kilo abspecken und sofort die Finger vom Alkohol lassen, sonst wird er dich eines Tages niederstrecken. Und zwar ohne weitere Vorwarnung. Deine Lungen bewältigen täglich mindestens 20 Zigaretten, und mit dem Kraut, das du da inhalierst, haben sie früher die Ratten vergast. Das folgere ich aus dem Röcheln und Pfeifen beim Abhören. Und eines solltest du noch wissen: Mit Medikamenten ist bei deinen Symptomen nichts zu machen, solange du säufst. Es liegt jetzt an dir, selbst etwas für deine Gesundheit zu tun.“
Es hörte sich an, als wollte er mir persönlich den Krieg erklären. Ich sah ihn an, nickte stumm und legte meine Stirn in Falten. „Hör mal, Doktor, Du hast ja studiert und saugst dir das alles nicht aus den Fingern. Aber ich glaube, was das richtige Leben angeht, hast du ein paar Defizite.“
Der Doktor stutzte. „Jetzt machst du mich aber neugierig, Stefan“, murmelte er seufzend und tat so, als gäbe es am Wahrheitsgehalt seiner Worte keinen Zweifel. „Wenn du nicht ein lupenreiner Alkoholiker bist, dann habe ich im Studium etwas falsch gemacht.“„Alles eine Sache der Definition, mein Freund. Gib deinen Tunnelblick auf und sieh die Dinge so, wie sie sind. Die Weltgesundheitsorganisation sagt, wer sich bei der Arbeit auf sein tägliches Feierabendbier freut, sei bereits ein Alkoholiker. Jetzt sag du mir: Wenn ich mich nach einem Anschiss von meinem Chef am frühen Morgen auf mein tägliches Schäferstündchen mit Brigitte freue, bin ich dann sexsüchtig? Oder spielsüchtig, nur weil mir nichts über meinen wöchentlichen Skatabend geht?
Ich will dir was sagen, Doktor, für mich ist Alkohol Lebensqualität. Er befreit mich von all dem Stress, der an der Arbeit, beim Einkaufen und Kartenspielen, beim Sex oder beim Doktor entsteht. Und den willst du mir entziehen? Weißt du, was du da überhaupt tust?“
Er verdrehte die Augen und zeigte mit ausgestrecktem Arm plus Mittelfinger zur Tür.
*
Ich sah ein, dass ich etwas tun musste, und ich tat etwas. Ich lief weg. Eine solche Lebensumstellung war mit mir nicht zu machen. Ich war ja bereit, im Interesse meiner eigenen Gesundheit zu leiden, aber ein bisschen Spaß am Leben musste einem Menschen doch bleiben, oder?
Ich akzeptierte eine örtliche Veränderung, auch, um diesem intoleranten Doktor nicht mehr über den Weg zu laufen. Zum Glück erklärte sich meine Schwester Gerti am Telefon bereit, mich aufzunehmen. Sie wohnte etwas abgelegen im Thüringer Wald und hatte gerade ihre Scheidung hinter sich. Da ich im Moment keine Arbeit und sie keine Kinder hatte, war es nur logisch, dass ich in das Haus, das einsam nahe einer Kreisstraße zwischen zwei Dörfern gelegen war, vorübergehend einzog. Ich deutete das als Wink des Schicksals und brach am nächsten Tag auf.
Als ich bei ihr eintraf, schaute sie mich genauso an wie Dr. Brüggen nach der Untersuchung. Kein Wunder, die beiden kannten sich. Wir waren uns schnell einig, dass ich die Einsamkeit und die heilende Kraft des Waldes nutzen sollte, um mich wieder in Ordnung zu bringen. Vorsichtshalber verlangte sie von mir, dass ich mich in die Hände eines Naturarztes begeben solle. Damit die Heilkräfte der heimischen Pflanzen auch wirklich voll ausgeschöpft werden könnten.
Nach zwei Tagen begann ich mich an das Haus, die menschenleere Landschaft und die stark reduzierte Menge an Alkohol, die Gerti mir noch zugestand, zu gewöhnen. Am dritten Tag rückte sie am frühen Morgen, als ich noch dabei war, meine Gedanken zu sortieren und Mut für den neuen Tag zu schöpfen, mit der Sprache heraus und erklärte mir, wie sie mich von all den gesundheitlichen Problemen befreien könnte.
„Ich habe dir einen Termin bei Dr. Wollweber gemacht“, überraschte sie mich. „Er war der beste Naturarzt, den es je im Thüringer Wald gegeben hat.“
„War? Praktiziert er nicht mehr?“, wollte ich in der
Hoffnung wissen, dass mir eine zweite Untersuchung erspart bliebe.
„In Ausnahmefällen schon. Er schuldet mir noch einen Gefallen, und deshalb hat er sich breitschlagen lassen. Du sollst ihn übrigens morgen Nachmittag aufsuchen. Er will dich noch einmal durchchecken, und zwar unter ganzheitlichen Gesichtspunkten. Da kommt erfahrungsgemäß etwas ganz anderes heraus als bei einem Schulmediziner wie Dr. Brüggen.“ Das klang hoffnungsvoll.
Gerti wollte mir ganz offensichtlich Mut machen, aber auch ohne ihren Zuspruch hätte ich mich seiner Untersuchung unterzogen. Das Ergebnis konnte ja nicht schlimmer werden; im Gegenteil, und nahmen diese Naturleute den Alkoholkonsum nicht sowieso ein bisschen lockerer?
Dr. Wollweber gewann gleich im ersten Moment meine Sympathien. Er trug Jeans, die Ewigkeiten nicht mehr gewaschen waren, ein buntes Hemd über der Hose und keine Strümpfe. Seine Füße steckten barfuß in Birkenstocksandalen. Sein Stethoskop, das er um den Hals gelegt hatte, wirkte auf dem karierten Stoff des Hemdes wie ein überdimensionierter Hippie-Schmuck. Er war der Aussteiger in Person, und ich hätte gern gewusst, wie er aufgetreten ist, als er noch praktiziert hat.
Um die Sache kurz zu machen: Er hörte mich noch einmal ab, maß den Blutdruck und erwähnte weder den Alkohol noch meine Bauchtrommel mit keiner einzigen Silbe. Ich war sofort von seiner Person überzeugt: Diesem Fachmann der Natur musst du vollends vertrauen, sagte ich mir voller Überzeugung.
„Ich bin mir ziemlich sicher, mein junger Freund“, begann er das Abschlussgespräch, „dass ich Ihre paar Wehwehchen ziemlich schnell in den Griff kriege. Mit Medizin aus der Chemiefabrik ist da allerdings schlecht was zu machen, aber es gibt Hoffnung. Wir haben hier im Thüringer Wald ein paar Stellen, an denen man hydrophylax aniferans findet. Tut mir leid, dafür gibt es keinen deutschen Namen, und man findet die Pflanze auch in keinem deutschen Lehrbuch. Sie gehört in südliche Gefilde. Aber wie gesagt, es gibt sie vereinzelt hier bei uns, und ...“
„Aber da gibt es doch bestimmt ein Präparat in der Apotheke?“, unterbrach ich ihn.
„Ja, gibt es, aber das Zeug hilft nicht.“
„Aber die Pflanze hilft!?“, meldete ich Zweifel an.
„Ja, natürlich, sonst würde ich sie ja nicht empfehlen. Der Unterschied liegt darin, wie der menschliche Körper die Wirkstoffe aufnimmt und verarbeitet. Bei den Tabletten kommt der Wirkstoff nicht da an, wo er hin soll, die Pflanze aber wird komplett und sehr schnell verstoffwechselt und dabei gelangen die frischen Wirkstoffe sofort ins Blut. Das ist entscheidend.“
Ich nickte, als hätte ich verstanden.
„Gut, dann machen wir uns morgen früh auf den Weg und suchen sie. Sagen wir um neun Uhr, und nehmen Sie sich eine Brotzeit mit. Wir kommen erst am Nachmittag zurück. Getränke brauchen Sie nicht, wo wir suchen, befinden sich zwei Quellen. Und noch etwas: Wenn Sie die Behandlung durchziehen, ist sie für Sie kostenlos. Wenn Sie es nicht schaffen, berechne ich meine Arztleistungen mit 60 Euro die Stunde, die Suche im Wald inklusive.“
Ich war nicht davon begeistert, dass ich mitgehen musste, aber er bestand darauf. Er sei nicht der Depp, der für mich Kräuter suche, wandte er ein, soviel müsste ich schon selber für meine Gesundheit tun. Ich wusste nicht, mit welchem Argument ich widersprechen sollte.
So starteten wir den ersten von insgesamt achtzehn Ausflügen von jeweils zehn bis fünfzehn Kilometern Länge. Er erklärte mir stundenlang, wie das gesuchte Kraut aussah und in welchem Biotop es zu finden sei. Er zählte mir die Stellen entlang des Rennsteigs auf, die wir konsequent abwandern würden, bis wir fündig geworden wären. Während der Ausflüge erklärte er mir die Flora des Thüringer Waldes und hielt stundenlange Vorträge, wenn wir mal einen etwas selteneren Vogel vor die Augen bekamen wie etwa einen Tannenhäher oder über einen Hirschkäfer stolperten. Was ich erst ziemlich spät begriff: Er führte mich ausschließlich in das Grüne Band, den Sperrstreifen der früheren Grenzanlage, der heute ganz Deutschland wie ein endlos langer Naturpark durchzieht.
Ich will das Ergebnis unserer Exkursionen vorwegnehmen: Wir fanden dieses Kraut mit dem unaussprechlichen Namen nicht, aber ich fühlte mich mit jedem Ausflug besser. Heute betrachte ich mich persönlich als geheilt. Sogar mein Bauch ist weg, was meinem Blutdruck zugute kommt. Mein Herz ist entlastet, was mich leistungsfähiger macht, die drei Liter Wasser unterwegs waren die beste Entgiftungskur meines Lebens, meine Leber atmete auf und die Lungen pfeifen und rasseln nicht mehr, weil ich wegen der Waldbrandgefahr … na ja, und so weiter und so fort. Das Beste aber ist, dass ich jetzt weiß, wie Heilung in der Natur funktioniert.
Dr. Wollweber ist inzwischen mein Freund. Ich bewundere ihn noch immer, wie er mich mit hydrophylax aniferans auf den Trimm-dich-Pfad der Natur gelockt hat.
Als er neulich meine Schwester besuchte, lüftete er das Geheimnis um Hydrophylax und erklärte uns, was es mit dieser „Heilpflanze“ auf sich habe. Sie existiere nicht; die Bezeichnung stünde für ein Wasserinsekt, für ein aquatisches Insekt mit dem volkstümlichen Namen „Köcherfliege“, deren Nachbildung er zum Fliegenfischen verwende.