Hallo, Silbenstaub
Auch von mir zunächst noch einmal ein herzliches Willkommen im Haifischbecken der LeseLupe.
Plot:
Du präsentierst uns hier eine Kurzgeschichte mit dem Basisplot „Kampf“, speziell hier Mensch gegen Mensch mit dem Grundgerüst der Rache oder verspäteter Selbstverteidigung.
Konflikt:
Der Typ „Karl“ – ihr auserkorenes Opfer – wird als unangenehmer Fiesling kurz vorgestellt, aber relativ spät in der Geschichte eingeführt. Seine Verfehlungen ihr gegenüber waren grapschen und betatschen, was aber offensichtlich bereits Jahre zurückliegt.
Hier sehe ich ein Problem mit dem Leitmotiv. Es fehlt die Steigerung des Grundkonflikts, die für mich als Leser notwendige Erklärung, warum sein „grapschen“ von damals zu ihren Mordgedanken von heute führt.
Story:
Der Einstieg ist gut gemacht, mit einem „krachen“ werde ich als Leser direkt in die Geschichte hineingeworfen.
Die Sprache und die Erzählperspektive sind angemessen und flüssig zu lesen.
Szenen:
Ich verzichte mal auf eine detaillierte Szenenanalyse weil ich denke, Du solltest an diesem Stück noch einmal etwas umbauen bzw. ergänzen.
Logikfehler:
Mehrere Logikfehler sind mir aufgefallen.
1. Das Eingesperrtsein
Warum sollte die Protagonistin nicht in der Lage sein, die Tür von innen zu öffnen während es ein kleines Mädchen von außen mit Leichtigkeit schafft?
Für das „Eingesperrtsein im Keller“ lieferst Du zu Beginn (der einleitende Satz) bereits einen recht guten Lösungsansatz:
Ich stehe auf und gehe zur Tür. Sie lässt sich nicht öffnen. Ich rüttle an der Klinke.
Wie wäre es, wenn die Klinke abbricht, weil sie beim „gegen die Wand krachen“ einen Schlag abbekommen hat? Zwischendurch könntest Du erwähnen, dass die Tür immer nur langsam ins Schloss fällt.
Wieso benutzt sie kein Telefon, um Hilfe zu rufen, damit sie jemand dort herausholt?
Warum muss die Protagonistin das Mädchen nach der Uhrzeit fragen?
Klar, ein theatralischer Effekt, insbesondere die Frage: „Morgens oder Abends?“ Da sie aber selbst eine Uhr besitzt erscheint es mir etwas übertrieben.
2. Die Konfliktsteigerung (der Auslöser)
Seit zwei Jahren fahre ich oft nach Hagen bei Wind und Wetter und lege mich auf die Lauer und warte. Letzte Woche habe ich Karl wieder beobachtet.
Dies legt leider eher den Schluss nahe, dass die Protagonistin den „armen Karl“ stalkt.
Umgekehrt könnte daraus eine Steigerung des Konflikts entstehen – er stalkt sie. Verfolgt sie in den sozialen Medien, schickt ihr anonyme Briefe, belästigt sie mit anzüglichen Bemerkungen. Sie hat Albträume von ihm.
In der Nacht, die sie im Keller verbringt, könnte sie darüber reflektieren, das seine Aufdringlichkeiten es ihr unmöglich machen, eine Beziehung zu führen. Auslöser für die Mordgedanken könnte eine vorangegangene Trennung gewesen sein. Damit würde auch die Notwendigkeit, es vor seiner Auswanderung zu tun, erklärt.
Fazit:
Unterschwellig erzählst Du mir als Leser, es gebe eine „höhere Macht“, die dafür sorgt, dass sie ihren Mordplan nicht ausführt.
Als Leser vermisse ich aber die „poetische Gerechtigkeit“. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Karl nicht nur mit der Protagonistin „herummachte“. Nur ... wenn es eine höhere Macht gibt, die den Mord verhindert, wird Karl dadurch „beschützt“. Dies ist für mich als Leser extrem unbefriedigend. Ich glaube, dies ist es, was DocSchneider als „sie (die Geschichte) ist ohne Ausweg“ bezeichnet.
Am Ende könnte ein kleiner Zeitsprung erfolgen, aus einem Telefonat mit ihrer Mutter erfährt sie vielleicht, das Karl an dem Abend, als sie im Keller eingesperrt war, mit einem allergischen Schock (Schutzimpfung?) in ein Krankenhaus gebracht und dort die Nacht nicht überstanden hat.
Ich hoffe, ich habe Dich jetzt nicht entmutigt und Dir genügend Stoff zum nachdenken geliefert. Die Grundidee und das Setting (Szenerie) Deiner Geschichte sind sehr interessant. Lediglich im Storylauf hakelt es ein wenig.
Aufmunternde Grüße aus Westfalen
Frank