Dinolinchen
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Wenn sie eins hasste, dann diese Nachtschichten. Die hasste sie fast so sehr, wie sie ihren Job mochte, das Busfahren. Sie saß am Steuer auf dem höchsten Sitzplatz im Wagen. Die Fahrgäste mussten weiter unten Platz nehmen. Sie hatte das Kommando.
Am liebsten fuhr sie die Frühschicht, wenn sich die Pendler, die aus den kleinen Dörfern der Umgebung zur Arbeit in die Kreisstadt wollten, hinter ihrem Fahrersitz unterhielten. Diese Gespräche waren zwar selten interessant. Meist ging es um Belanglosigkeiten, wie streikende Rasenmäher, den teuren Einkauf im Supermarkt, die lange Wartezeit im Arztzimmer oder die Schulnoten der Kinder. Aber es lenkte sie ab.
Jetzt in der Nachtschicht hatte sie wieder viel Zeit, um über ihr verpfuschtes Leben nachzudenken. Sie war Anfang 40 und immer noch Single. Dabei hatte sie als kleines Mädchen so sehr von einer eigenen Familie mit Vater, Mutter und drei Kindern geträumt. Einer richtigen Familie, in der der Vater nicht die Mutter schlug und die Mutter sich nicht jeden Abend mit irgendeinem billigen Fusel das Hirn aus dem Kopf soff. Ein eigenes Zuhause, Geborgenheit, Sicherheit, das war ihr Plan, seit sie zwölf geworden war. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie ihren zwei kleineren Schwestern die Mutter ersetzen müssen.
Der Plan von der heilen Familie hatte sich irgendwie zerschlagen, war nie in Erfüllung gegangen. Sie fand einfach nicht den passenden Mann. Anfangs hatte sie sich eingeredet, dass der Richtige schon noch auftauchen würde. In Internet-Börsen wie Tinder hatte sie von Anfang an keine Chance gehabt. Wer ihr Foto mit dem aufgedunsenen Gesicht sah, klickte sofort weiter.
Sie wusste, dass sie keine Schönheit war, aber so schlimm war es doch auch nicht. Oder doch? Na gut, sie war schon immer ein Pummel gewesen. Als Kind hatte sie in sich hineingestopft, was immer im Vorrat zu finden war: Chips, von denen Mutter einen reichlichen Vorrat hatte, aber auch Schokolade, fette Würste, Fertigfrikadellen, Kartoffel-, Nudel- und Eiersalat sowie das andere Zeugs, von dem sich ihre Eltern vorwiegend ernährten. Nur selten fand sie so etwas wie einen Müsliriegel.
Zur Zeit des Malers Rubens hätte sie als Schönheit gegolten, sagte sie sich. Ihre heute 157 Kilogramm Lebendgewicht hätte der sicher mit Lust auf seine Leinwand gebannt. Doch Rubens war schon seit fast 400 Jahren tot. Das wusste sie aus dem Kunstunterricht in der Hauptschule. Die hatte sie so gerade mit Ach und Krach abgeschlossen. Ein Wunder, dass sie den Job als Busfahrerin bekommen hatte. Heute jedenfalls gab es andere Schönheitsideale.
Auf Partys wurde sie nie eingeladen, zu peinlich für die Gastgeber. Und die Kollegen waren alle entweder schon vergeben oder nicht an ihr interessiert – oder meistens beides.
Vor ein paar Monaten war sie zum ersten Mal zu dem Typen gegangen, den Sie am Busbahnhof schon lange beobachtete. Er saß stets auf derselben Bank zwischen dem Kiosk, der so unglaublich leckere Frikadellen- und Eibrötchen verkaufte, und einem kleinen Parkplatz.
Sie hatte den Typen angesprochen: „Ich weiß, dass du hier Stoff verkaufst“, hatte sie gesagt. „Ich sehe dich jeden Tag aus meinem Bus heraus.“ „Und wenn schon“, war seine gelangweilte Antwort. „Das ist doch auch nicht gefährlicher als das, was du dir jeden Tag im Kiosk holst“. Sie signalisierte dem Mann, dass sie sein Zeug probieren wolle. Sie hatte von ihm ein kleines Tütchen mit weißem Pulver bekommen, außerdem eine mündliche „Bedienungsanleitung“. 100 Euro war es ihr wert gewesen.
Das Zeug war großartig. Sie schnupfte es in der Küche ihrer kleinen Zweizimmerwohnung durch die Nase. Fast augenblicklich fühlte sie sich so leicht wie noch nie. Sie schien zu schweben. Die Sache hatte natürlich einen Haken. Wenn die Wirkung nachließ, fühlte sie sich müde, unendlich erschöpft. Aber da half ein neuerlicher Zug durch die Nase.
Mittlerweile war sie die beste Kundin des Mannes auf der Bank geworden, da war sie sich sicher. Sie hatte ihm schon Unmengen seiner Tütchen abgekauft, zum Glück schien sein Vorrat unerschöpflich. Ganz im Gegenteil zu ihrem Bankkonto. Aber noch kamen die monatlichen Gehaltszahlungen pünktlich.
Gestern hatte sie Geburtstag gehabt und eine doppelte Ladung weißen Pulvers inhaliert. Das hatte sie mutig gemacht. Sie war in die Disco gefahren, sowas hatte sie noch nie gewagt. Sie tanzte zur Musik, ließ sich völlig gehen. Und dann wurde tatsächlich ein Mann auf sie aufmerksam. „Ich bin der Peter,“ hatte er gesagt und sich wirklich neben sie gesetzt. Neben SIE! Peter sah nicht schlecht aus. Er hatte wache Augen, war schlank und trug einen, wenn auch etwas altmodischen, Kinnbart. Sie redeten, und sie erfuhr, dass er eigentlich Peter Paul hieß. Das klinge ihm aber zu überholt, sie solle ihn einfach Peter nennen.
Der Abend war wunderbar gewesen. Er finde sie hübsch, man müsse sich wiedersehen. Wie wärs gleich morgen?, hatte er kurz vor Mitternacht gesagt. Sie hatte ihm erklärt, dass sie am nächsten Tag die Nachtschicht fuhr, aber übermorgen könne sie wieder an Ort und Stelle sein. Er freue sich auf das Wiedersehen, hatte Peter gesagt. Jetzt müsse er leider gehen, er habe noch eine Verpflichtung. Dann war er weg.
Dafür war plötzlich Oskar da, ein Kollege. Sie kannten sich vom Depot, in dem sie des Öfteren gleichzeitig ihre Busse übernommen hatten. Meist blieb da noch ein Moment für einen Plausch. Oskar war der einzige Kollege, der mehr mit ihr redete als nur „Moin“ oder „gute Fahrt“. „Na, so spät noch auf den Beinen“, hatte Oskar in der Disco festgestellt. Er wünschte ihr noch viel Spaß, er selbst müsse gehen. Er habe morgen zwei Schichten – die Frühschicht und die in der Nacht. Eine Kollegin sei krank geworden.
Sie ging noch einmal zur Toilette, um eine neue Portion Pulver einzuatmen. Dann schwebte sie nach Hause. Sie fiel ins Bett, schlief aber nicht sofort ein. Ihre Gedanken kreisten um Peter. Oder Peter Paul. Wenn sie es recht bedachte, war der Doppelname sogar niedlicher als das schlichte Peter. Das würde sie ihm bei ihrem nächsten Treffen unbedingt sagen müssen.
Als sie aufwachte, fühlte sich ihr Kopf an wie nach zwei Flaschen schweren, jugoslawischen Rotweins. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Sie sah auf den Wecker. Ein altmodisches Teil mit zwei messingfarbenen Glocken und einem Pendel, das in diesem Moment damit begann, hektisch auf die Glöckchen einzutrommeln. Ihr Notalarm. Es war schon wieder Abend, 20 Uhr. Die Prise in der Toilette war wohl doch etwas zu hoch ausgefallen.
Sie duschte lange und eiskalt, dann zog sie die Sachen an, die sie im Bus immer trug: einen blauen Hosenanzug in achtmal XL, eine Bluse gleicher Größe mit Perlmuttknöpfen und ihre Sportschuhe. Mit dem Fahrrad kam sie gerade noch rechtzeitig in der Fahrzeughalle am Rand der Kreisstadt an. Sie übernahm den „Blau-Weißen“, den Nachtbus, und fuhr sofort los.
Und da war sie nun, auf der Landstraße zwischen A-Dorf und B-Kaff. Schon auf der Hinfahrt war wenig los gewesen. Nur drei Fahrgäste wollten bis zur Endstation mitfahren. Jetzt, auf dem Rückweg in die Stadt, war sie allein in dem großen Wagen. Draußen regnete es leicht, ein Umstand, den sie besonders hasste. Man konnte kaum erkennen, ob an den Bushaltestellen, die alle zwei Kilometer auftauchten, ein Fahrgast im Halbdunkel der Wartehäuschen Platz genommen hatte und auf sie wartete. Wenn sie jemand übersehen und weiterfahren würde, kam der nächste Bus erst in einer Stunde. Ihr Bus, und dann konnten sitzengelassene Menschen schon mal sehr ungehalten reagieren.
Um das zu verhindern, hatte das Unternehmen rote, nach oben schwenkbare Signalstäbe anbringen lassen. Wenn der Bus halten sollte, konnten die Passagiere die Stange hochklappen. In dieser Stellung arretierte sie dann.
Das System war, glaubte sie, den Briefkästen im amerikanischen Westen nachempfunden. In einem Film hatte sie einmal gesehen, wie Halbstarke mit Baseballschlägern aus einem fahrenden Auto heraus auf diese Kästen zielten. Das Prinzip jedenfalls war denkbar einfach: Stange unten, weiterfahren, Stange in der Waagerechten, anhalten. Ein simpler Mechanismus sorgte dafür, dass die Stange nach einer halben Stunde automatisch wieder in die „Nicht-Anhalten-Position“ zurückfiel - Fehlalarm ausgeschlossen, sozusagen.
An der nächsten und übernächsten Haltestelle konnte sie weiterfahren. Die Signale zeigten nach unten. Oder doch nicht? Die rote Stange stand eindeutig waagerecht, als sie den üblichen zweiten Kontrollblick walten ließ, den sie vorsichtshalber immer tätigte, wenn sie schon soweit an die Haltestelle herangekommen war, dass sie das schwere Gefährt gerade noch würde stoppen können.
Unmöglich, dachte sie. Gerade noch hatte das Signal auf „Weiterfahren“ gestanden, doch jetzt zeigte es unmissverständlich „Anhalten“. Sie trat die Bremse durch. Schaukelnd und quietschend kam der schwere Wagen zum Stillstand. Draußen war kaum etwas zu sehen, der Regen musste stärker geworden sein. Sie drückte einen Knopf am Lenkrad, und mit einem lauten Zischen schwang die Vordertür nach außen.
Jetzt hörte sie, dass es draußen nicht nur regnete, sondern regelrecht stürmte. Der Wind peitschte das Wasser in den Bus hinein. Sie wurde nass. Aber das war es nicht, was sie elektrisierte. Der Mann, der aus dem Wartehäuschen trat und sich anschickte, die beiden Stufen in den Wagen zu nehmen, war Peter. Oder besser Peter Paul. Er trug einen großen schwarzen Hut mit breiter Krempe, und genauso breit war das Lächeln, das er zeigte.
Sie war so überrascht, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass Peter ein großes Paket mit sich trug. Er riss das Papier auf, und zum Vorschein kam – eine Leinwand. Aus seiner Manteltasche zauberte er einen Farbkasten und Pinsel. „Ich will dich malen“, sagte Peter Paul. „Nackt“.
„Das geht nicht, ich muss den Bus weiterfahren“, sagte sie. Doch Peter ließ keinen Widerspruch zu. Er sei nicht nur Maler, er könne auch Bus fahren, sagte er. Und er könne sogar beides gleichzeitig, fahren und malen. Das habe er schon oft getan. Außerdem wisse er, dass sie sich wünsche, jemand anderes würde diese verdammte Nachtschicht für sie übernehmen. Er sagte: „Vertrau mir, ich bringe uns an einen Ort, an dem wir ganz allein sind“.
Dann nahm er ein weiteres Päckchen aus seiner Manteltasche. Es enthielt Kokain, reiner und weißer, als sie es je von dem Typ auf der Bank am Busbahnhof bekommen hatte.
Peter riss das Päckchen auf, ließ das Pulver auf die Leinwand rieseln und bot es ihr an. Gierig sog sie den Stoff auf. Es gab eine regelrechte Explosion in ihrem Kopf. Sie fühlte sich so gut, so leicht wie noch nie in ihrem Leben. Das war der beste Stoff, den sie je probiert hatte.
Das nächste, was sie sah, war, dass Peter am Steuer des Busses, ihres Busses, saß. Sie befand sich auf einem der anderen Sitze – weit unten im Fahrgastraum. Peter steuerte den großen Wagen am Ortseingangsschild der Kreisstadt vorbei und bog nach geschätzt einem Kilometer in eine hell erleuchtete Seitenstraße ein. Sie erkannte rot-grün-gelb leuchtende Sterne, die Buden und Büdchen erhellten. Davor standen Menschen, viele Menschen. Sie hatten Glühweinbecher in der Hand oder Reibekuchen. Kinder fuhren auf Karussells. Ein überdimensionierter Nikolaus mit rotem Umhang und weißem Bart markierte den Anfang des Trubels.
„Das ist der Weihnachtsmarkt“, fasste sie endlich wieder einen klaren Gedanken. Der Bus raste auf die Buden zu, Peter trat das Gaspedal offenbar voll durch. Jetzt wurde ihr schlagartig klar, was Sache war. Dieser Typ hatte sie in der Disco nur angesprochen, weil er mit ihr eine Chance sah, seine perfiden Anschlagspläne zu verwirklichen. So wie vor wenigen Jahren am Berliner Breitscheidplatz geschehen, wollte der Mann, der sich Peter nannte, der aber bestimmt ganz anders hieß, auch hier ein Massaker mit vielen Toten und Verletzten anrichten. Vermutlich würde er danach aus dem Bus flüchten und die Polizei sie als Attentäterin festnehmen.
Jetzt galt es, schnell zu handeln. Sie sprang auf, griff ins Lenkrad und riss es scharf nach rechts. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Bus die ersten Holzhütten erreicht hatte, kam er mit einem gewaltigen Rumms an einem Lastwagen zum Stehen, der am rechten Fahrbahnrand geparkt war. „Auf der Plane hatte sie noch ein Bild von zwei gefüllten Biergläsern sehen können, die sich zuprosteten. Dann wurde es dunkel um sie.
„Ich glaube, sie kommt zu sich“, war das nächste, was sie hörte. Als sie die Augen aufmachte, sah sie Oskar, ihren Kollegen. Seine Tour kreuzte ein Stückchen weit ihre Route. Er kniete zusammen mit einer Frau, offenbar seiner einzigen Passagierin an diesem Abend, neben ihr auf der Straße. „Gott sei dank, du lebst“, sagte Oskar.
„Bist du gestern aus der Disco gut nach Hause gekommen?“, fragte sie, obwohl ihr diese Frage irgendwie unpassend vorkam. Aber ihr fiel nichts Besseres ein. „Ich gehe nie in Discos“, antwortete Oscar. „Nicht gestern, nicht vorgestern und auch nicht morgen“.
Dann stellte sie die Frage, die ihr wirklich wichtig war: „Wo, wo ist Peter?“. „Welcher Peter, du warst allein im Bus. Du bist kurz nach der letzten Haltestelle vor der Kreisstadt gegen den am Seitenstreifen geparkten Anhänger einer Brauerei gefahren“, sagte Oskar. „Wahrscheinlich hast du dich zu sehr darauf konzentriert, ob ein Fahrgast wartet.“ Und er fuhr fort: „Die Türen deines Busses waren völlig verkeilt. Ich musste eine Scheibe einschlagen, um dich zu befreien. Aber keine Angst, der Rettungswagen ist schon unterwegs. Die Ärzte werden sicher bald herausfinden, was mit dir nicht stimmt“.
Am liebsten fuhr sie die Frühschicht, wenn sich die Pendler, die aus den kleinen Dörfern der Umgebung zur Arbeit in die Kreisstadt wollten, hinter ihrem Fahrersitz unterhielten. Diese Gespräche waren zwar selten interessant. Meist ging es um Belanglosigkeiten, wie streikende Rasenmäher, den teuren Einkauf im Supermarkt, die lange Wartezeit im Arztzimmer oder die Schulnoten der Kinder. Aber es lenkte sie ab.
Jetzt in der Nachtschicht hatte sie wieder viel Zeit, um über ihr verpfuschtes Leben nachzudenken. Sie war Anfang 40 und immer noch Single. Dabei hatte sie als kleines Mädchen so sehr von einer eigenen Familie mit Vater, Mutter und drei Kindern geträumt. Einer richtigen Familie, in der der Vater nicht die Mutter schlug und die Mutter sich nicht jeden Abend mit irgendeinem billigen Fusel das Hirn aus dem Kopf soff. Ein eigenes Zuhause, Geborgenheit, Sicherheit, das war ihr Plan, seit sie zwölf geworden war. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie ihren zwei kleineren Schwestern die Mutter ersetzen müssen.
Der Plan von der heilen Familie hatte sich irgendwie zerschlagen, war nie in Erfüllung gegangen. Sie fand einfach nicht den passenden Mann. Anfangs hatte sie sich eingeredet, dass der Richtige schon noch auftauchen würde. In Internet-Börsen wie Tinder hatte sie von Anfang an keine Chance gehabt. Wer ihr Foto mit dem aufgedunsenen Gesicht sah, klickte sofort weiter.
Sie wusste, dass sie keine Schönheit war, aber so schlimm war es doch auch nicht. Oder doch? Na gut, sie war schon immer ein Pummel gewesen. Als Kind hatte sie in sich hineingestopft, was immer im Vorrat zu finden war: Chips, von denen Mutter einen reichlichen Vorrat hatte, aber auch Schokolade, fette Würste, Fertigfrikadellen, Kartoffel-, Nudel- und Eiersalat sowie das andere Zeugs, von dem sich ihre Eltern vorwiegend ernährten. Nur selten fand sie so etwas wie einen Müsliriegel.
Zur Zeit des Malers Rubens hätte sie als Schönheit gegolten, sagte sie sich. Ihre heute 157 Kilogramm Lebendgewicht hätte der sicher mit Lust auf seine Leinwand gebannt. Doch Rubens war schon seit fast 400 Jahren tot. Das wusste sie aus dem Kunstunterricht in der Hauptschule. Die hatte sie so gerade mit Ach und Krach abgeschlossen. Ein Wunder, dass sie den Job als Busfahrerin bekommen hatte. Heute jedenfalls gab es andere Schönheitsideale.
Auf Partys wurde sie nie eingeladen, zu peinlich für die Gastgeber. Und die Kollegen waren alle entweder schon vergeben oder nicht an ihr interessiert – oder meistens beides.
Vor ein paar Monaten war sie zum ersten Mal zu dem Typen gegangen, den Sie am Busbahnhof schon lange beobachtete. Er saß stets auf derselben Bank zwischen dem Kiosk, der so unglaublich leckere Frikadellen- und Eibrötchen verkaufte, und einem kleinen Parkplatz.
Sie hatte den Typen angesprochen: „Ich weiß, dass du hier Stoff verkaufst“, hatte sie gesagt. „Ich sehe dich jeden Tag aus meinem Bus heraus.“ „Und wenn schon“, war seine gelangweilte Antwort. „Das ist doch auch nicht gefährlicher als das, was du dir jeden Tag im Kiosk holst“. Sie signalisierte dem Mann, dass sie sein Zeug probieren wolle. Sie hatte von ihm ein kleines Tütchen mit weißem Pulver bekommen, außerdem eine mündliche „Bedienungsanleitung“. 100 Euro war es ihr wert gewesen.
Das Zeug war großartig. Sie schnupfte es in der Küche ihrer kleinen Zweizimmerwohnung durch die Nase. Fast augenblicklich fühlte sie sich so leicht wie noch nie. Sie schien zu schweben. Die Sache hatte natürlich einen Haken. Wenn die Wirkung nachließ, fühlte sie sich müde, unendlich erschöpft. Aber da half ein neuerlicher Zug durch die Nase.
Mittlerweile war sie die beste Kundin des Mannes auf der Bank geworden, da war sie sich sicher. Sie hatte ihm schon Unmengen seiner Tütchen abgekauft, zum Glück schien sein Vorrat unerschöpflich. Ganz im Gegenteil zu ihrem Bankkonto. Aber noch kamen die monatlichen Gehaltszahlungen pünktlich.
Gestern hatte sie Geburtstag gehabt und eine doppelte Ladung weißen Pulvers inhaliert. Das hatte sie mutig gemacht. Sie war in die Disco gefahren, sowas hatte sie noch nie gewagt. Sie tanzte zur Musik, ließ sich völlig gehen. Und dann wurde tatsächlich ein Mann auf sie aufmerksam. „Ich bin der Peter,“ hatte er gesagt und sich wirklich neben sie gesetzt. Neben SIE! Peter sah nicht schlecht aus. Er hatte wache Augen, war schlank und trug einen, wenn auch etwas altmodischen, Kinnbart. Sie redeten, und sie erfuhr, dass er eigentlich Peter Paul hieß. Das klinge ihm aber zu überholt, sie solle ihn einfach Peter nennen.
Der Abend war wunderbar gewesen. Er finde sie hübsch, man müsse sich wiedersehen. Wie wärs gleich morgen?, hatte er kurz vor Mitternacht gesagt. Sie hatte ihm erklärt, dass sie am nächsten Tag die Nachtschicht fuhr, aber übermorgen könne sie wieder an Ort und Stelle sein. Er freue sich auf das Wiedersehen, hatte Peter gesagt. Jetzt müsse er leider gehen, er habe noch eine Verpflichtung. Dann war er weg.
Dafür war plötzlich Oskar da, ein Kollege. Sie kannten sich vom Depot, in dem sie des Öfteren gleichzeitig ihre Busse übernommen hatten. Meist blieb da noch ein Moment für einen Plausch. Oskar war der einzige Kollege, der mehr mit ihr redete als nur „Moin“ oder „gute Fahrt“. „Na, so spät noch auf den Beinen“, hatte Oskar in der Disco festgestellt. Er wünschte ihr noch viel Spaß, er selbst müsse gehen. Er habe morgen zwei Schichten – die Frühschicht und die in der Nacht. Eine Kollegin sei krank geworden.
Sie ging noch einmal zur Toilette, um eine neue Portion Pulver einzuatmen. Dann schwebte sie nach Hause. Sie fiel ins Bett, schlief aber nicht sofort ein. Ihre Gedanken kreisten um Peter. Oder Peter Paul. Wenn sie es recht bedachte, war der Doppelname sogar niedlicher als das schlichte Peter. Das würde sie ihm bei ihrem nächsten Treffen unbedingt sagen müssen.
Als sie aufwachte, fühlte sich ihr Kopf an wie nach zwei Flaschen schweren, jugoslawischen Rotweins. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Sie sah auf den Wecker. Ein altmodisches Teil mit zwei messingfarbenen Glocken und einem Pendel, das in diesem Moment damit begann, hektisch auf die Glöckchen einzutrommeln. Ihr Notalarm. Es war schon wieder Abend, 20 Uhr. Die Prise in der Toilette war wohl doch etwas zu hoch ausgefallen.
Sie duschte lange und eiskalt, dann zog sie die Sachen an, die sie im Bus immer trug: einen blauen Hosenanzug in achtmal XL, eine Bluse gleicher Größe mit Perlmuttknöpfen und ihre Sportschuhe. Mit dem Fahrrad kam sie gerade noch rechtzeitig in der Fahrzeughalle am Rand der Kreisstadt an. Sie übernahm den „Blau-Weißen“, den Nachtbus, und fuhr sofort los.
Und da war sie nun, auf der Landstraße zwischen A-Dorf und B-Kaff. Schon auf der Hinfahrt war wenig los gewesen. Nur drei Fahrgäste wollten bis zur Endstation mitfahren. Jetzt, auf dem Rückweg in die Stadt, war sie allein in dem großen Wagen. Draußen regnete es leicht, ein Umstand, den sie besonders hasste. Man konnte kaum erkennen, ob an den Bushaltestellen, die alle zwei Kilometer auftauchten, ein Fahrgast im Halbdunkel der Wartehäuschen Platz genommen hatte und auf sie wartete. Wenn sie jemand übersehen und weiterfahren würde, kam der nächste Bus erst in einer Stunde. Ihr Bus, und dann konnten sitzengelassene Menschen schon mal sehr ungehalten reagieren.
Um das zu verhindern, hatte das Unternehmen rote, nach oben schwenkbare Signalstäbe anbringen lassen. Wenn der Bus halten sollte, konnten die Passagiere die Stange hochklappen. In dieser Stellung arretierte sie dann.
Das System war, glaubte sie, den Briefkästen im amerikanischen Westen nachempfunden. In einem Film hatte sie einmal gesehen, wie Halbstarke mit Baseballschlägern aus einem fahrenden Auto heraus auf diese Kästen zielten. Das Prinzip jedenfalls war denkbar einfach: Stange unten, weiterfahren, Stange in der Waagerechten, anhalten. Ein simpler Mechanismus sorgte dafür, dass die Stange nach einer halben Stunde automatisch wieder in die „Nicht-Anhalten-Position“ zurückfiel - Fehlalarm ausgeschlossen, sozusagen.
An der nächsten und übernächsten Haltestelle konnte sie weiterfahren. Die Signale zeigten nach unten. Oder doch nicht? Die rote Stange stand eindeutig waagerecht, als sie den üblichen zweiten Kontrollblick walten ließ, den sie vorsichtshalber immer tätigte, wenn sie schon soweit an die Haltestelle herangekommen war, dass sie das schwere Gefährt gerade noch würde stoppen können.
Unmöglich, dachte sie. Gerade noch hatte das Signal auf „Weiterfahren“ gestanden, doch jetzt zeigte es unmissverständlich „Anhalten“. Sie trat die Bremse durch. Schaukelnd und quietschend kam der schwere Wagen zum Stillstand. Draußen war kaum etwas zu sehen, der Regen musste stärker geworden sein. Sie drückte einen Knopf am Lenkrad, und mit einem lauten Zischen schwang die Vordertür nach außen.
Jetzt hörte sie, dass es draußen nicht nur regnete, sondern regelrecht stürmte. Der Wind peitschte das Wasser in den Bus hinein. Sie wurde nass. Aber das war es nicht, was sie elektrisierte. Der Mann, der aus dem Wartehäuschen trat und sich anschickte, die beiden Stufen in den Wagen zu nehmen, war Peter. Oder besser Peter Paul. Er trug einen großen schwarzen Hut mit breiter Krempe, und genauso breit war das Lächeln, das er zeigte.
Sie war so überrascht, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass Peter ein großes Paket mit sich trug. Er riss das Papier auf, und zum Vorschein kam – eine Leinwand. Aus seiner Manteltasche zauberte er einen Farbkasten und Pinsel. „Ich will dich malen“, sagte Peter Paul. „Nackt“.
„Das geht nicht, ich muss den Bus weiterfahren“, sagte sie. Doch Peter ließ keinen Widerspruch zu. Er sei nicht nur Maler, er könne auch Bus fahren, sagte er. Und er könne sogar beides gleichzeitig, fahren und malen. Das habe er schon oft getan. Außerdem wisse er, dass sie sich wünsche, jemand anderes würde diese verdammte Nachtschicht für sie übernehmen. Er sagte: „Vertrau mir, ich bringe uns an einen Ort, an dem wir ganz allein sind“.
Dann nahm er ein weiteres Päckchen aus seiner Manteltasche. Es enthielt Kokain, reiner und weißer, als sie es je von dem Typ auf der Bank am Busbahnhof bekommen hatte.
Peter riss das Päckchen auf, ließ das Pulver auf die Leinwand rieseln und bot es ihr an. Gierig sog sie den Stoff auf. Es gab eine regelrechte Explosion in ihrem Kopf. Sie fühlte sich so gut, so leicht wie noch nie in ihrem Leben. Das war der beste Stoff, den sie je probiert hatte.
Das nächste, was sie sah, war, dass Peter am Steuer des Busses, ihres Busses, saß. Sie befand sich auf einem der anderen Sitze – weit unten im Fahrgastraum. Peter steuerte den großen Wagen am Ortseingangsschild der Kreisstadt vorbei und bog nach geschätzt einem Kilometer in eine hell erleuchtete Seitenstraße ein. Sie erkannte rot-grün-gelb leuchtende Sterne, die Buden und Büdchen erhellten. Davor standen Menschen, viele Menschen. Sie hatten Glühweinbecher in der Hand oder Reibekuchen. Kinder fuhren auf Karussells. Ein überdimensionierter Nikolaus mit rotem Umhang und weißem Bart markierte den Anfang des Trubels.
„Das ist der Weihnachtsmarkt“, fasste sie endlich wieder einen klaren Gedanken. Der Bus raste auf die Buden zu, Peter trat das Gaspedal offenbar voll durch. Jetzt wurde ihr schlagartig klar, was Sache war. Dieser Typ hatte sie in der Disco nur angesprochen, weil er mit ihr eine Chance sah, seine perfiden Anschlagspläne zu verwirklichen. So wie vor wenigen Jahren am Berliner Breitscheidplatz geschehen, wollte der Mann, der sich Peter nannte, der aber bestimmt ganz anders hieß, auch hier ein Massaker mit vielen Toten und Verletzten anrichten. Vermutlich würde er danach aus dem Bus flüchten und die Polizei sie als Attentäterin festnehmen.
Jetzt galt es, schnell zu handeln. Sie sprang auf, griff ins Lenkrad und riss es scharf nach rechts. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Bus die ersten Holzhütten erreicht hatte, kam er mit einem gewaltigen Rumms an einem Lastwagen zum Stehen, der am rechten Fahrbahnrand geparkt war. „Auf der Plane hatte sie noch ein Bild von zwei gefüllten Biergläsern sehen können, die sich zuprosteten. Dann wurde es dunkel um sie.
„Ich glaube, sie kommt zu sich“, war das nächste, was sie hörte. Als sie die Augen aufmachte, sah sie Oskar, ihren Kollegen. Seine Tour kreuzte ein Stückchen weit ihre Route. Er kniete zusammen mit einer Frau, offenbar seiner einzigen Passagierin an diesem Abend, neben ihr auf der Straße. „Gott sei dank, du lebst“, sagte Oskar.
„Bist du gestern aus der Disco gut nach Hause gekommen?“, fragte sie, obwohl ihr diese Frage irgendwie unpassend vorkam. Aber ihr fiel nichts Besseres ein. „Ich gehe nie in Discos“, antwortete Oscar. „Nicht gestern, nicht vorgestern und auch nicht morgen“.
Dann stellte sie die Frage, die ihr wirklich wichtig war: „Wo, wo ist Peter?“. „Welcher Peter, du warst allein im Bus. Du bist kurz nach der letzten Haltestelle vor der Kreisstadt gegen den am Seitenstreifen geparkten Anhänger einer Brauerei gefahren“, sagte Oskar. „Wahrscheinlich hast du dich zu sehr darauf konzentriert, ob ein Fahrgast wartet.“ Und er fuhr fort: „Die Türen deines Busses waren völlig verkeilt. Ich musste eine Scheibe einschlagen, um dich zu befreien. Aber keine Angst, der Rettungswagen ist schon unterwegs. Die Ärzte werden sicher bald herausfinden, was mit dir nicht stimmt“.
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