Im Netz der Flüsse und Creeks

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Bonaventura

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Raschelnde Palmwipfel wiegen sich im Wind. Über den Garten des britischen Gouverneurs spannt sich der leuchtendblaue tropische Himmel. Es ist schon später Nachmittag. Aber immer noch scheint eine weiße Sonne auf Calabars Lagune. Viele Damen tragen feine Spitzensonnenschirme. Schatten der Spitzenmuster fallen auf die jungen und älteren hellhäutigen Gesichter. Mary Kingsley trägt einen kleinen schwarzen Hut, weiße Blüten dekorieren ihn rechts und links. Sie schaut sich um. Die Herren stehen in Gruppen, sie schwitzen in ihren Anzügen und steifen weißen Hemden, wischen sich mit Taschentüchern den Schweiß vom Gesicht. Ein junges Mädchen reicht den Gästen Erfrischungen. Mary nimmt ein Glas und trinkt den kalten Mangosaft. „Ein nettes Mädchen“ bemerkt sie und lächelt Gouverneur McDonald an. „Der Saft schmeckt köstlich“ fügt sie hinzu und nimmt noch einen Schluck.
Sie schaut den Gouverneur an und fragt: „Und haben Sie schon etwas von Miss Slessor gehört?“
„Ja, Miss Kingsley, sie hat uns eine Botschaft geschickt. Sie freut sich sehr auf ihren Besuch. Sie wartet schon. Wir bringen sie hin mit einer unserer Pinassen, sowie Sie bereit sind.“
„Oh, sehr freundlich, damit werden wir ja schnell vorankommen“. Viel schneller, denkt sie bei sich, als mit dem schweren Holzkanu, mit dem ich mich sonst durch die Flussarme und Sümpfe zwänge.
Sie kann es kaum abwarten, ihre britische Landsmännin zu treffen. Sie hat schon so viel von ihr gehört. Während sie selbst seit zwei Jahren die westafrikanische Küste bereist, lebt Mary Slessor schon seit 18 Jahren in dieser Gegend, fern von Schottland, ihrem Geburtsland.
„Ich möchte gleich morgen fahren, wenn es Ihnen recht ist und die Pinasse frei.“
„Gut, dann morgen früh. Mein Adjutant wird sie begleiten.“
„Ich danke Ihnen“ antwortet sie erfreut. Bald wird sie Mary, ihre Namensschwester, sehen.

„Guten Morgen, Miss Kingsley, kommen Sie bitte mit mir!“ begrüßt der Gouverneur Mary, die am nächsten morgen die Treppe im Flur hinuntersteigt. Samuel, einer der Hausdiener, nimmt ihr die Reisetasche ab und geht über den Gartenweg voraus zum Bootssteg. Da liegt schon die Pinasse, weiß in der Morgensonne. Auf Deck sieht sie geschäftiges Treiben. „Dies ist Mr. Smith, mein Adjutant“, stellt der Gouverneur einen jungen Mann vor, der seinen Hut vor Mary zieht. „Guten Morgen, Sir, sehr liebenswürdig“, grüßt Mary zurück. Sie trägt eine hellgraue Haube, ihren schwarzen Wollrock, eine hochgeschlossene weiße Bluse und ihre bewährten Knopfstiefel. Der beste Freund einer Reisenden durch die westafrikanischen Sümpfe ist ein fester Wollrock und die Stiefel. Das ist ihre feste Überzeugung. Aus Erfahrung.
„Auf Wiedersehen, Sir, und vielen Dank für ihre freundliche Unterstützung“. Sie reicht dem Gouverneur ihre Hand und wendet sich dem Laufsteg zu. Gefolgt von Mr. Smith. Sie setzen sich auf die überdachten Bänke, und das Boot legt ab.
Bald kreuzen sie in der Flussmündung des Calabar Flusses, auf dem Weg nach Okoyong zu Mary Slessor.
Dieser Morgen kommt ihr wie ein Traum vor.
Ruhig liegt die Lagune vor ihnen. Der Wasserweg führt zu den Flussarmen. Große und kleine Grasinseln, schwimmen im Wasser und verändern ständig ihre Position. Manche tauchen plötzlich unter, dafür tauchen neue auf. Weiße und rosa Seerosenblüten wenden sich hin zur Sonne. Einige Wasservögel kreisen über der Lagune. Graue Wolkenfetzen bedecken noch die Sonne, die Morgenluft fächelt um Marys Gesicht. Sie entspannt sich auf ihrer Bank. Bald biegen sie in eine schmalere Wasserstraße.
„Sehen Sie, da sind Affen“ Mr. Smith deutet zum rechten Ufer hinüber. Mary hat die Affen auch schon entdeckt, ihre Augen sind an die grünen Mauern, die dichten Regenwälder und Mangrovensümpfe gewöhnt. Ein kleines Äffchen sitzt ganz oben auf einem Baum, ein weiteres springt auf den Ast gleich daneben und ein drittes schwingt sich hinüber in den Nachbarbaum. Lange noch hören sie ihr heiseres Geschrei, sogar noch, als sie längst im Inneren des Waldes verschwunden sind.
Marys schaut auf die vielen Grasinseln, auf denen winzig kleine zarte gelbe Blüten auf dünnen Stängeln wie hingetupft wachsen. Am Ufer recken sich die riesigen Aronstäbe und Gummibäume in die Höhe. Farne in Übergrößen entrollen ihre Blattspitzen, lila Blumen leuchten dazwischen. Im schwarzen, aber klaren Wasser spiegeln sich die Blüten. Mary ist glücklich, hier fühlt sie sich zu Hause. Die langen, Mangrovenluftwurzeln senken sich armdick ins Wasser.
In den Seitenarmen wölben sich die Äste der Bäume zu einem undurchdringlichen Blätterdach. Zwei Kanus gleiten vorüber, in einem sitzen zwei Männer, in dem anderen ein Mann und eine Frau. Silbrige Fische glänzen im Heck. Sie winken und Mary winkt zurück. Ein leichter Sprühregen beginnt, malt konzentrische auf das Wasser. Sie genießt diesen Regen, der so gut zu dem bleigrauen Himmel passt. Sie entdeckt vereinzelte Häuser am schräg abfallenden Ufer, mit Reet gedeckt, aus Latten gebaut, sogar Hühner scharren dort im Sand.
„Es ist nicht mehr weit“ sagt Mr. Smith, „wir sind gleich da“.
Mary schaut angestrengt nach vorn, versucht, den Landeplatz zu entdecken. In der Ferne ragt etwas aus dem Wasser, die Pinasse nähert sich schnell. Deutlich sieht sie jetzt die Umrisse einer schmalen Holzbrücke.
Die Pinasse wird langsamer und legt schließlich neben der Holzbrücke an.
Aus dem Wald beginnt nicht weit vom Ufer. Sie hören hohle Axtschläge und schrilles Schreien und Wortwechsel. Mary fängt Fetzen der Efiksprache auf, die sie schon so oft gehört hat.
„Soll ich Sie nicht lieber begleiten, Miss Kingsley?“ fragt Mr. Smith besorgt.
„Oh, danke, sehr liebenswürdig, ich werde meinen Weg finden“, antwortet Mary. Sie nimmt ihre Reisetasche, verabschiedet sich, macht einen großen Schritt von der Brücke auf das Ufer. „In drei Tagen hole ich Sie wieder ab!“ grüßt Mr. Smith. Sie winkt noch kurz zurück. Die Geräusche werden lauter. Sie geht zielstrebig weiter. Da entdeckt sie eine Lücke im dichten Gebüsch. Ein Weg führt hinein. Niemand ist zu sehen. Lauter und lauter werden die Axtschläge. Jetzt tritt ein junger Mann mit der Axt in der Hand aus dem schmalen, kaum sichtbaren Pfad. Es folgt noch einer mit einer großen Machete. Beide haben Tücher um die Taille geschlungen, die Oberkörper glänzen von Schweiß. Buntbestickte Mützen schmücken die Köpfe mit den tiefschwarzen Haaren. Da sieht Mary eine zierliche kleine Frau, ihr braunrotes Haar leuchtet in der Abendsonne, auch sie schwitzt. Sie macht große Schritte, läuft jetzt durch das hohe Gras. In beiden Armen hält sie eine Holzkiste mit der Aufschrift „Gordon’s Gin“. Sie trägt ein einfach geschnittenes graues Kleid aus Leinen. Hinter ihr taumelt mehr als das sie geht eine junge Frau, ihr Kopf hängt herunter, ihr blaues Kleid ist von Schweiß durchnässt, die Kopfbedeckung, ein rotes Wickeltuch löst sich auf und hängt von ihrer Schulter herab. Und von der anderen Seite kommt eine Gruppe brauner Kinder, sie winken und stürmen vorwärts, ihre Kleider hängen wie gerade Säcke an ihren Körpern. Die die dünnen Beine rennen. „Ma, Ma“ rufen sie und umringen die Frau, ihre weiße Ma, Mary Slessor.
„Willkommen, Mary Kingsley“ ruft diese jetzt freudig, stellt die Kiste ab und reicht Mary die Hand. “Schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren,“ stößt sie hervor, nimmt die Kiste wieder hoch und läuft eilig auf dem Weg weiter, den Mary gerade von der Landungsbrücke gekommen ist. Auch Mary eilt ihr jetzt nach. Sie erreichen ein flaches Haus, mit Gras gedeckt, bunte Hühner laufen herum, braune und schwarze Ziegen grasen am Waldrand. Hohe Bäume geben Schatten und überragen den Hof.
„Kommen Sie herein Mary“.
Die Tür steht offen, Mary Slessor geht hinein und stellt die Kiste ab. Die Kinder stehen an der Wand und beobachten alles. Sie öffnet den Deckel. „Schauen Sie nur, Mary“ sagt sie wieder und hebt ein kleines Bündel, in bunte Tücher gewickelt heraus. Sie legt es auf den Tisch, öffnet die Tücher und da liegt ein Baby, das Köpfchen blutig, über einem Ohr eine dicke Blutkruste. Mary hebt es hoch, schlaff liegt es in ihrer Ellenbeuge. „Wir sind zu spät“ wispert sie und Tränen mischen sich mit dem Schweiß auf ihrem Gesicht. Sie wickelt es wieder zu und hebt das andere Bündel heraus. Noch ein Baby, die Atemzüge heben und senken den kleinen Brustkorb, die zarten Ärmchen hängen neben dem Körper und die dünnen Beinchen liegen übereinander. Es lebt und atmet. Mary wickelt es schnell in saubere Tücher und gibt es der Mutter, die es trotz ihrer Erschöpfung an die Brust legt und das kleine füttert. Mary geht schnell in eine Zimmerecke, sie nimmt eine Banane vom Regal, zerkleinert sie und verrührt sie mit etwas abgekochtem Wasser. Die kleine Schale gibt sie der Mutter des Babys.
„Ich gehe und begrabe den kleinen Jungen, bitte setzen Sie sich so lange“ sagt Mary Slessor zu Mary Kingsley, nimmt den kleinen toten Körper und geht nach draußen. Sie findet eine Kiste, legt den kleinen hinein, ruft die älteren Jungen und fordert sie auf, eine Grube zu schaufeln. Das ist schnell fertig, sie kniet nieder, bettet den Sarg in die feuchte rote Erde, spricht ein Gebet und dann schaufeln die Jungen die Erde zurück, legen einige schwere Steine oben drauf, damit kein Tier das Loch öffnet.
Sie geht zurück zum Haus, gefolgt von den beiden Jungen.
Mary steht auf, als Mary Slessor eintritt.
„Womit kann ich helfen?“ fragt sie sofort.
„Dann machen Sie bitte Tee“ antwortet Mary Slessor, „er steht dort in dem Schrank, auch der Zucker“.
Draußen ist es jetzt dunkel. In der Ferne quaken Ochsenfrösche. Regenzeit. Die älteren Mädchen haben ölgetränkte Stoffdochte in kleine Tontöpfe gelegt und sie angezündet, ihr Licht wirft Schatten an die Wände. Die Mutter mit dem Baby liegt auf einem Bett in einem der Schlafräume, die vom Wohnzimmer abgehen.
„Oh, Miss Kingsley, was für ein Willkommen“, sagt Mary. Sie sitzt auf einem niedrigen Holzhocker. Der Duft von frischgebrühtem Tee zieht durchs Zimmer. Mary bringt den Topf und Tassen, Porzellan aus England.
„Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich über ihren Besuch freue. Ich habe mir so lange gewünscht, daß ich Sie treffen darf.“
„Genau wie ich, glauben Sie mir, und nun sind wir beide hier, zwei Engländerinnen“ antwortet Mary Kingsley.
„Eine Engländerin und eine Schottin“ antwortet Mary Slessor und trotz der traurigen Stimmung müssen beide lachen.
Die Kinder sitzen auf kleinen Stühlen an den Wänden und schauen den beiden zu. Sie dürfen auch Tee trinken, aus Tonschalen. Sie sagen nichts, schauen nur. Nach einer Weile stehen sie auf, sagen „Asie ro“, „Gute Nacht“ in der Efiksprache, und gehen leise fort.
Mary Slessor schlägt jetzt vor „Bitte lassen Sie mich Mary sagen“. Mary nickt, es wäre doch lächerlich, so förmlich zu sein unter Frauen.
„Es war ein anstrengender Tag, aus dem Dorf Ekenge haben sie mich gerufen. Ein großes Palaver gab es wieder. Eine Frau hat Zwillinge geboren und die Dorfeinwohner wollten sie töten. Durch eine Zwillingsgeburt, so glauben die Menschen hier, ist dann das ganze Dorf verflucht, Mutter und die Kinder werden getötet, wenn eines am Leben bleiben darf, so ist das ein Geschenk. Aber beide sind dann verstoßen. Ach, der Aberglaube ist es, der die Menschen hier immer wieder zurückwirft. Sie haben große Angst vor Geistern und allen möglichen Gefahren, die ihrer Meinung nach überall lauern. Ich durfte sie mitnehmen, die Dorfbewohner hatten die Babies schon in die Kiste gezwängt und dabei den Schädel des Jungen zertrümmert .“
Sie stützt ihren Kopf in die Hand und schaut ihren Gast an. Die beiden Marys lächeln sich zu. Sie wissen, welche denkwürdige Stunde ihr Treffen ist.
„Die beiden bleiben jetzt hier. Niemand wird ihnen etwas tun. Sie haben alle Angst, sich meinem Haus zu nähern, weil Mutter und Kind hier sind. Ich hoffe trotzdem, daß es sonst ruhig bleibt. Wir haben ja auch nicht den Weg genommen, den die Dorfbewohner benutzen. Denn hätten wir dies getan, wäre der Weg für die Einwohner nicht mehr benutzbar. Darum sind die Jungen gleich mitgekommen und haben einen neuen Pfad geschlagen, bis hierher. Jedes Dorf hat hier seinen eigenen Weg, besonders zum Markt. Die Bewohner dürfen sich nicht in die Quere kommen, sonst gibt es sofort einen neuen Krieg.“
Mary Kingsley schenkt sich selbst und Mary noch mehr Tee ein, sie trinken eine Tasse nach der anderen vom starken und süßen belebenden Getränk. Sie knabbern einige Haferkekse, nach all der Aufregung reicht ihnen das.
Sie rücken ihre Stühle auf die Veranda vorm Haus. Der Mond leuchtet über den filigranen Palmenwipfeln, die Blätter hängen schlaff herunter, wie sie es immer abends tun. Kein Wind weht. Schwer hüllt die feuchtwarme Luft die beiden ein. Die Grashüpfer zirpen ihren schrillen Gesang. Ein blinkender Stern nach dem anderen erscheint am dunkelgraublauen Himmel. Aus der Ferne tönen Trommelrhythmen.
„Oh, Mary, es ist unglaublich, wie du diese Strapazen schaffst. Hast du denn kein Heimweh nach Deiner Mutter und Schwester in England?“
„Sie sind vor zwei Jahren gestorben und seitdem vermisse ich Dundee nicht mehr. Sie starben kurz nachdem ich von meinem letzten Aufenthalt bei ihnen hierher zurückkehrte. Aber wenn ich morgens hier aufwache und die grünen Baumriesen vor meinem Fenster sehe, bin ich glücklich“.
„Oh, Mary, das wußte ich nicht. Das war bestimmt ein großer Schock für Dich. Ich verstehe dich sehr gut. Auch ich kann mir ein Leben nur in England nicht mehr vorstellen. Es gibt nichts Friedlicheres für mich, als durch die stillen, Wasserarme zu fahren, nach Fischen zu suchen und den Lauten des Waldes zu lauschen“.
Wie als Zeichen der Zustimmung beginnt ein Vogel zu singen, seine dunklen und immer heller werdenden Töne weben ein Gespinst zwischen die raschelnden Blätter, wie eine Kordel spannen sich die Tonreihen zwischen die Äste. Beide Frauen fühlen die erstaunliche Wärme, mit der eine zur anderen spricht. Marys Kingsleys weißer Spitzenkragen leuchtet hell im Lichtkreis der Öllampe. Hin und wieder torkelt ein Nachtfalter dem Licht entgegen, verbrennt sich die zarten Flügel und fällt schwer auf den rohen Holztisch.
Mary Slessor streicht sich das feuchte Haar aus der Stirn.
"So viele Freunde habe ich hier gefunden. Ich respektiere ihre Überzeugungen. Natürlich versuche ich, ihnen von unserem Gott zu erzählen. Ihr Gott heißt Abassi, der Allmächtige bedeutet das in Efik. Es gibt doch nur einen Gott, nicht wahr? Aber wenn sie mir zuhören, wenn nur einer nicht mehr so große Angst vor Geistern hat und Vertrauen in Gott gewinnt, bin ich so dankbar. Diese Bekehrten helfen mir dabei, ihre Brüder und Schwestern davon zu überzeugen, daß es auch ohne Töten geht. Damit kann ich sie besser überzeugen als mit irgendeiner Predigt, die ich halte. Heute, bei deiner Ankunft hast du ja einen kleinen Eindruck davon bekommen, wie sehr sie ihrem alten Aberglauben verbunden sind“.
„Ich weiß, Mary. Auch ich erlebe dies immer wieder auf meinen Fahrten, wenn ich die Dörfer besuche. Aber denk doch mal an unsere Vorfahren. Die Kelten. Sie lebten in den dunklen, undurchdringlichen Wäldern Albions und verehrten den Hirschkönig und die grausame Göttin Morgana le Fay. Es war doch nicht anders. Sie glaubten auch an ihre blutrünstigen keltischen Götter, ja sie verehrten sogar die abgeschlagenen Köpfe ihrer gefallenen Könige, hoben sie auf, steckten sie auf Stangen und holten sich Rat bei ihnen, sprachen mit den Köpfen wenn sie Entscheidungen treffen mussten. So ist es überliefert. Aber sie hatten auch ihre Weisen Männer, die Druiden sowie die Menschen hier ihre Weisen haben, die ihnen Rat und Hilfe geben und zwischen den Menschen und Göttern vermitteln“.
„Ja, das stimmt. Und mit den Efik hier und den Ibibio kann ich sehr gut reden. Sie hören mir zu. Ich verstehe sie. Ich habe auch viel von ihnen gelernt. Auch Dinge, die mir bei der Krankenpflege helfen, so zum Beispiel, welche Pflanzen und Kräuter ich benutzen kann gegen Fieber und Entzündungen. Und seit ich ihre Streitfälle schlichten muss, habe ich sie noch viel besser kennengelernt und sehe, wie klug sie sind.“
„Und niemand steht dir bei, alle Entscheidungen triffst du ganz allein?“
„Ja, Mary. Als der Gouverneur mir vorschlug, Vizekonsulin zu werden und das britische Recht hier zu vertreten, glaubte ich nicht, daß ich es schaffen könnte. Wenn sie mich jetzt rufen, dann nehme ich mein Strickzeug und setze mich zu ihnen. Ich stricke während der ganzen stundenlangen Diskussionen. Die größeren Kinder passen zu Hause solange auf die kleineren auf und versorgen sie, bis ich zurück bin. Ich lasse jede Partei so lange erzählen, was sie denken, bis alles gesagt ist. Das dauert oft tagelang. Am Ende bitte ich sie, alles noch mal zusammenzufassen. Dann komme ich zu meiner Entscheidung. Und weißt du, wie sie sie bekräftigen? Sie holen den Weisen Mann des Dorfes. Die beiden Chiefs reichen sich die Hände. Der Weise ritzt in jede Hand eine Wunde. Dahinein kommt Salz, Pfeffer und Maismehl. Zur Bekräftigung lecken sie sich gegenseitig die Wunde. Und dann ist der Frieden beschlossen. Ich habe mich daran gewöhnt.“
„Vermisst Du denn nicht manchmal einen verständnisvollen Partner?“
„Oh, ja, lange Zeit sehr sogar. Aber jetzt geht es wieder. Vor einigen Jahren kannte ich einen wundervollen Mann. Wir wollten sogar heiraten, er liebte mich, obwohl ich soviel älter war als er. Noch immer denke ich oft an ihn, rede in Gedanken mit ihm. Es war Charles Morrison“.
Sie steht auf und setzt noch mal Teewasser auf.
„Er war Missionar unserer Kirche. Wir verstanden uns ohne Worte. Er wußte, was nötig war, was wir hier brauchen. Er setzte sich für mich und meine Arbeit ein, wie niemand zuvor. Als er unsere Heirat beantragte, verlangte die Mission von mir, daß ich mit ihm in Duke Town leben sollte und dort die Missionsarbeit mit ihm machen. Aber ich konnte die Menschen hier in Ekenge nicht verlassen. Ach, Mary, zu niemandem habe ich bisher darüber gesprochen. Du bist die erste.“
Sie seufzt in der Erinnerung an ihren geliebten Charles.
„Wir haben uns lange geschrieben.. Er ist nach England zurückgekehrt, ging später nach Amerika und starb dort an einer Krankheit, die niemand kannte und heilen konnte. Meine Entscheidung, hier zu bleiben, war richtig“.
Mary steht auf und umarmt die andere. Sie halten sich einen langen Augenblick umschlungen.
„Weißt Du, Mary, ich möchte Dir gern hier helfen. Ich fahre bald nach England zurück, um meine Funde aus den Gewässern und die Ergebnisse in London vorzustellen. Ich werde versuchen, die Geographische Gesellschaft zu überzeugen, deine Arbeit hier zu unterstützen. Ich möchte zu dir kommen und eine kleine Schule mit dir zusammen beginnen. Während du deine Gerichtsverhandlungen führst, kann ich die Kinder unterrichten. Ich könnte auch eine Lehrerin ausbilden, die mir dann dabei hilft. Und meine Wasserstudien würde ich auch weiterführen und die Kinder dazu anleiten, ihre eigene Umgebung kennen zu lernen.“
„Oh, Mary, als ob du meine Gedanken lesen kannst. Schon lange wünsche ich mir das. Hier in Okoyong ist so viel zu tun. In Calabar hat die Mission schon eine Schule gegründet. Ich mußte so sehr kämpfen, um hierher zu kommen und hier zu arbeiten. Morgen zeige ich dir die Krankenhütten für meine Patienten. Manche sind so krank, daß ich sie hier behalte. Nach ein paar Tagen können sie dann wieder in ihr Dorf zurück“.
Ein starker Wind ist aufgekommen. Donner grummelt nicht weit entfernt und wird lauter, die Abstände zwischen den zuckenden Blitzen und dem Donner werden kürzer. Die Palmen biegen sich, trockene Blätter wirbeln durch die Luft. Und da ergießt sich schon der schwere Tropenregen aus dem Himmel. Die Frauen räumen den Tisch und die Stühle ins Zimmer, schließen die Tür und verriegeln sie mit dem schweren Holzbalken, der innen am Türrahmen lehnt.
„Es ist spät, Mary, laß uns schlafen. Ich fühle ich mich so wohl in deiner Gesellschaft, es ist wundervoll. Komm, ich zeige dir dein Bett. Die Jungen haben schon Wasser in dein Zimmer gebracht“.
Sie stehen auf, Mary geht mit einer Lampe voran.
Der Sturm heult.
Die beiden Marys umarmen sich.
„Morgen zeige ich Dir das Dorf Ekenge, Mary. Wir werden Chief Edem besuchen, ohne ihn und seine Weisheit hätte ich niemals dieses Haus bauen können und dürfen. Er ist mein bester Freund hier“.
„Gute Nacht, Mary, ich danke Dir.“
Sie gehen in ihre Zimmer, draussen orgelt der Wind.


Mary Kingsley und Mary Slessor waren zwei bedeutende Frauen ihrer Zeit.

Mary Kingsley, die am 13. November 1862 geboren wurde, erforschte die Tier- und Pflanzenwelt in den Mangrovensümpfen und Flüssen der westafrikanischen Küste. Ihre Fahrten führten sie durch Kamerun bis ins heutige Gabun und auf die Insel Fernando Poo (heute Bioko) im Golf von Guinea. Nach ihrer zweiten Reise in diese Gegend fuhr sie nach Südafrika, um im Burenkrieg als Krankenschwester zu helfen. Sie starb 1900 nach kurzer Zeit an Typhus.

Mary Slessor wurde am 2. Dezember 1848 in Aberdeen geboren. Sie arbeitete als Weberin in den Baumwollspinnereien. Schon als Kind und Jugendliche sehnte sie sich danach, Schottland zu verlassen. Ihr Wunsch erfüllte sich, sie wurde Missionarin der schottischen Calabar Mission und fuhr 1876 nach Calabar, um dort zu arbeiten.

Die beiden Marys trafen sich im Dezember 1894 in Okoyong. Das Treffen wird in der Literatur erwähnt und kommentiert. Der Dialog ist fiktiv. Beide hatten Pläne, etwas zusammen zu machen. Doch Mary Kingsley starb unerwartet früh im Burenkrieg. Mary Slessor lebte dort mitten im tropischen Regenwald mit ihrem Haushalt. Dazu gehörten größere Mädchen und Jungen, Waisenkinder, die sie vor Tötungen, wie in der Geschichte erwähnt, gerettet hatte. Sie halfen ihr, kleine Kinder, die sie aufgenommen hatte, zu erziehen. Auch Haustiere hielt sie. Sie starb am 13. Januar 1915.

Ich habe im März dieses Jahres Calabar und andere Orte aufgesucht, an denen Mary Slessor wirkte. Mehrmals habe ich selbst Fahrten im Regenwald und in den Mangrovensümpfen unternommen.


Literatur:
Benge, Janet and Geoff: Mary Slessor, Forward into Calabar, Seattle, 1999
Christian, Carol/Plummer, Gladys: God and one Redhead, London, 1971
Kingsley, Mary: Die grünen Mauern meiner Flüsse, München, 1989
Kingsley, Mary: West African Studies, London, 1964
Lütgen, Kurt: Lockendes Abenteuer Afrika, Würzburg, 1971
McFarlan, Donald: White Queen, The Story of Mary Slessor, Cambridge, 1955
 

Zefira

Mitglied
Höchste Zeit...

...daß sich zu dieser Erzälung jemand meldet. Sie ist naturgemäß nicht rasend spannend, aber liebevoll erzählt, atmosphärisch dicht, angenehm leise, wie es dem Thema angemessen ist. Man wird sofort in diese fremde Welt hineingezogen.
"Ein leichter Sprühregen beginnt, malt konzentrische auf das Wasser." - da fehlt ein "Ringe" o.ä.
"...gibt es der Mutter, die es trotz ihrer Erschöpfung an die Brust legt und das kleine füttert." Da würde ich "stillt" setzen.
Im Gespräch zwischen den Frauen ist das Drumrum, die hereinbrechende Nacht, das Gewitter etc. wunderbar geschildert. Glückwunsch, gefällt mir sehr!
Grüße, Zefira
 

Amanita

Mitglied
Mary Kingsley und die Sache mit dem Krokodil

Als ich deine Geschichte gelesen hab, dachte ich sofort: »Afrika!«
Und: »Mensch! Von der Kingsley hab ich schon mal was gehört.«

Also kurzerhand Bücherkiste durchwühlt und folgendes gefunden:

Mary Kingsley war ganz sicher eine aussergewöhnliche Frau. Eine viktorianische Lady, die in hochgeschlossenen langen Kleidern durch Westafrika reist musste ein herrlich schräges Bild gewesen sein.

In ihren Reiseberichten erwähnt sie einige recht abenteuerliche Begebenheiten, deren Gefährlichkeit sie jedoch mit typisch britischem Humor herunterspielt. Ich habe ein wirklich schönes Zitat gefunden, welches ich allen Interessierten ganz und gar nicht vorenthalten möchte :)

(aus »Travels in West Africa« von Mary Kingsley)

»Vom Deck eines Dampfers aus ist ein Krokodil, das im tiefen Wasser herumtreibt oder offenen Mauls auf einer sonnigen Sandbank schläft, ein malerischer Anblick. Man kann darüber nach Hause berichten, die Verwandten sorgen sich um einen. Wenn man aber in einem schmalen Einbaum die Sümpfe durchquert und jenes Krokodil und sein Anhang wach sind, wird es hoch interessant; man berichtet vielleicht nicht mehr nach Hause und sorgt sich um sich selbst. Krokodile können hier nach den Insassen kleiner Kanus schnappen, und tun es auch oft.
Einem fiel es einmal ein, hinten auf mein Kanu zu klettern, wohl um unsere Bekanntschaft zu vertiefen. Ich zog mich des Gleichgewichts wegen zum Bug zurück, und als es wieder verschwand, gab ich ihm noch eins auf die Schnauze.
Dann paddelte ich mitten in die Lagune, wo das Wasser für ihn und seine Freunde hoffentlich zu tief wäre, um die Vorstellung zu wiederholen. Was es vermutlich auch war, denn keines hat es mehr probiert. Jenes Krokodil war wohl zweieinhalb Meter lang; daß mir aber nun keiner behauptet, ich hätte es gemessen oder das sei mein längstes Krokodil.
Ich habe welche gemessen, die von anderen Leuten erlegt worden waren, und bin auf vier, fünf, sechs Meter und mehr gekommen. Mein Krokodil war nur eine stürmische junge Kreatur ohne jeden Anstand.«
 

Bonaventura

Mitglied
Mary Kingsley

Schön, Amanita, daß meine Geschichte Dich inspiriert hat, weiter zu forschen.
Die beiden Frauen sind es wert, beachtet zu werden. Mary Kingsley hat viele Bücher hinterlassen. Ihr trockener Humor hat ihr sehr oft weitergeholfen in ausweglos scheinenden Situationen.
Nochmal: Das Treffen der beiden hat es gegeben, wie die Begegnung verlief, das jedoch ist meiner Phantasie entsprungen. Was Mary Slessor jedoch tat, ist auch keine Fiktion. Sie hat so vielen Babies, Kindern und Frauen (Müttern) das Leben gerettet.
Liebe Grüße
Bonaventura
 

Pasta

Mitglied
Lebendig und authentisch

Man merkt der Erzählung an, dass sie von einer Afrika-Kennerin geschrieben wurde! Hier werden keine Klischees vom afrikanischen Urwald und seinen Menschen verbreitet, sondern authentisch dargestellt.

Wie andere hier schon bemerkt haben, ist die Geschichte außerdem atmosphärisch dicht und lässt die afrikanische Szenerie vorm inneren Auge lebendig werden.

Einzig die Dialoge finde ich zum Teil etwas gestelzt, aber ich weiß auch, dass ein "authentischer" Dialog oftmals am schwierigsten zu gestalten ist. Hinzu kommt, dass die Erzählung nicht in unserer Zeit spielt, so dass ein lebendiger, aber dennoch "realistischer" (im Sinne von "zeitgemäß") Dialog unglaublich schwierig zu verfassen ist.

Fazit bleibt aber, dass es insgesamt eine sehr gelungene Erzählung ist! Weiter so!

Pasta

PS: Noch ein Lesetipp für alle Afrika-Fans: Karen Blixen bzw. Tania Blixen, wie sie hier in Deutschland heißt, und ihre "Afrikanische Farm" - falls ihr das Buch nicht ohnehin schon kennt!
 

Bonaventura

Mitglied
Liebe Pasta,
vielen Dank für die aufrichtige und klare Kritik!
Dieser Kritik merkt man an, daß sie von einer Literaturkennerin geschrieben wurde.
Ich freue mich, daß Dir die Geschichte gefällt, auch wenn die Dialoge Deiner Meinung nach nicht so richtig authentisch sind und nicht fliessen.
Ich werde weiter üben!
Freue mich schon auf neue Beiträge von Dir und antworte Dir auch bald persönlich!
Liebe Grüße
von
Bonaventura
 

Pasta

Mitglied
Liebe Bonaventura!

Ich möchte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich sagen, dass ich es grundsätzlich sehr mutig finde, seine eigenen literarischen Texte/Versuche zu veröffentlichen und der Kritik "auszusetzen".

Kritiken oder Rezensionen zu schreiben, ist dagegen sehr viel einfacher - und erfordert auch nicht so viel Mut. :)

Herzliche Grüße,

Pasta
 

Bonaventura

Mitglied
Mut

Liebe Pasta,
vielen Dank. Es ist interessant, daß Du findest, dazu gehört Mut. Mir ist es gar nicht so bewußt. Ich gehe davon aus, daß diejenigen, die etwas Kreatives "machen" gern auch feedback möchten. Daher ist es doch nur natürlich, daß man/frau es der Öffentlichkeit zeigen möchte.
Ich freue mich über Kritik und bisher habe ich hier konstruktive Kritik erfahren.
Danke nochmal
Liebe Grüße
Bonaventura
 

Amanita

Mitglied
@ bonaventura:

Ich gehe davon aus, daß diejenigen, die etwas Kreatives "machen" gern auch feedback möchten. Daher ist es doch nur natürlich, daß man/frau es der Öffentlichkeit zeigen möchte.

ja, das stimmt. wenn man es nicht öffentlich macht, steht man doch ganz schön alleine da.
 



 
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