Im Osten (Sonett)

James Blond

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Verstört, was auferstanden aus Ruinen
dem Geist der Neuen Zeit entgegenblickt,
verstummt, was einst ins Ohr der Macht gezwickt,
samt seinem Warngeschrill der Volksturbinen.

Dem Rest, seit man sich in die Fremde schickt,
verblieb der Schutz geduldiger Gardinen
für letzte Aufgebote fahler Mienen,
die jeder Freilandtag aufs Neue knickt.

Da grüßt die Schnitter jenes alten Sprengels
der Dauerton des Frostalgiegequengels,
es stünden derzeit alle Halme schief.

Doch blitzt der Geist, der Traditionen rief.
Daheim die Alten lesen Marx und Engels
und in den Gassen grölen braune Bengels.
 

Tula

Mitglied
Hallo James
Ich bin beeindruckt: eine tief-schürfende sozial-politische Analyse der Wahlergebnisse im noch immer wilden Osten ;)
Es muss einfach Nostalgie sein. Sehen die die blühenden Landschaften vor den eigenen Augen nicht?
Aber du hast ja recht, ich verstehe auch nicht, warum die nicht alle Grün wählen ...

LG
Tula
 

James Blond

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Ich weiß gar nicht, womit ich recht habe, lieber Tula, der Osten bleibt mir ein Mysterium.

Daran scheitert auch (m)eine sozial-politische Analyse. Was bleibt, ist ein Stimmungsbild als Versuch in Empathie, das ebenfalls scheitern muss, weil es sich kaum nachfühlen lässt, wenn einem der Boden unter den Füßen entzogen wird ...

Deshalb formuliere ich auch keine Erwartungen – ich verstehe ja nicht einmal, warum ich selbst Grün wähle(n sollte) ...

Grüße
JB
 

Tula

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Hallo James
S2 trifft die Stimmung wahrscheinlich schon recht gut. Ganz ehrlich denke ich, dass in sozialer Hinsicht nichts frustrierender ist als das Gefühl des Stillstands, der Stagnation. Dreißig Jahre Discounter (der in den ersten Jahren noch eine Attraktion war) hinterlassen irgendwann Spuren. Geht es bergab, kämpfst du ums tägliche Überleben, entweder du verreckst oder du freust dich. Bergauf ist ein tolles Gefühl, ohne Zweifel. Aber diese tägliche Empfängnis eines Discount-Schein-Wohlstands, das muss einfach irgendwann auf den Senkel gehen.

Etwas ernsthafter: ich vermute die Überlagerung zweier Trends. Der erste, wie oben angedeutet, der Osten hinkt noch immer hinterher. Der zweite ist die sich immer weiter öffnende soziale Schere. Eigentlich auch wie oben angedeutet. Der Populismus ist ja nicht nur im Osten auf dem Vormarsch. Das Gefühl des stetig wachsenden Kuchens, von welchem die persönliche Scheibe immer kleiner wird. Und da denken vor allem die unteren Mittelschichten (kurioser Begriff) gern mit dem Bauch bzw. Hals (im Schwellzustand).

LG
Tula
 

James Blond

Mitglied
Ja, ich danke dir, Tula, für deine ausführenden Betrachtungen, die von mehr Sachkenntnis getrübt sind, als es mir mein Blickwinkel gestattet.
Wie fühlen sich Menschen, die seit Generationen mit dem Blick auf den goldenen Westen die große Hoffnung auf ein richtiges Leben verbanden? Ich denke, ihre Desillusionierung war fundamental. Dieser Verlust lässt sich nicht mit "Bananen" auffangen ...

Grüße
JB
 



 
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