Im Takt der Zeit

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anbas

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Im Takt der Zeit

Pünktlich um Neunuhrdreißig verließ er das Haus. Zum Glück gab es gerade eine Regenpause. Zwar nieselte es noch ein wenig, doch das war kein Vergleich zu den Schauern, die in den letzten Stunden über die Stadt hinweg gezogen waren und endgültig den Herbst eingeläutet hatten. Mit leicht zitterigen Fingern zog er den Reißverschluss seiner Jacke ganz nach oben und zurrte die Kordel seiner Kapuze fest. Kühl war es geworden. In den nächsten Tagen wird er sich die Winterkleidung aus dem Keller holen.

Langsam ging er durch die kleine Siedlung, die wie ein eigenständiges Dorf am Stadtrand lag, zur U-Bahnstation. Auch heute benötigte er exakt acht Minuten für den Weg. Nur, wenn er jene ältere Dame traf, die um diese Zeit hin und wieder ihre kleine quirlige Promenadenmischung Gassi führte, konnte es mal etwas länger dauern. Er hatte immer ein paar Leckerlies dabei, was ihn bei der Hundedame recht beliebt gemacht hatte. Auch ihr Frauchen schien ein gewisses Interesse an ihm zu haben, doch das ignorierte er geflissentlich.

Die U-Bahn verlief hier oberirdisch. Am Bahnsteig angelangt steuerte er zielstrebig auf die einzige Bank zu, die unter einer Überdachung stand und so zumindest etwas wind- und regengeschützt war. Kurz darauf fuhr auch schon die Bahn ein. Der Zugführer grüßte ihn mit einem kurzen Nicken. Lächelnd grüßte der Alte zurück. Er kannte inzwischen fast alle Fahrer, die für die U-Bahn arbeiteten. Gesprochen hatte er allerdings noch nie mit einem von ihnen.
Um diese Zeit waren vor allem Rentner, Hausfrauen und Mütter mit kleinen Kindern unterwegs. Sie alle kannten den Alten, der dort jeden Tag saß. Doch nur wenige blieben stehen oder setzten sich zu ihm, um ein paar Worte zu wechseln.
Der nächste Zug fuhr ein. Wieder waren es überwiegend vertraute Gesichter, die er entdeckte. Auch den etwa achtjährigen Jungen, der zusammen mit seiner Mutter aus dem letzten Wagen ausstieg, kannte er. Normalerweise war dieser aber erst nachmittags mit ein paar anderen Jungs unterwegs, um mit ihnen zusammen zum Fußballtraining oder dem Bolzplatz zu fahren. – Eine vertraute Person zur falschen Zeit. Das war mal eine interessante Abwechslung. Der Alte schaute genauer hin und sah, dass bei dem Kleinen einer der Ärmel schlaff hinunterhing und unter der Jacke die Kontur eines angewinkelten Armes zu sehen war.
"Eih, was ist da denn passiert?" fragte er, als die beiden an ihm vorübergingen.
"Ein Unfall", antwortete die Mutter, ohne den Schritt zu verlangsamen.
"Dann wünsche ich gute Besserung!" rief der Alte hinterher, froh darüber, dass er überhaupt eine Antwort erhalten hatte.

Gegen Zehnuhrfünfzig tauchte der junge Mann auf, den er in den letzten Monaten häufiger hier gesehen hatte – ein großer, schlaksiger Kerl, der stets ein wenig ungepflegt war und nach Tabak und Alkohol roch. Sein langsamer und etwas unsicherer Gang ließ vermuten, dass er schon oder noch immer angetrunken war. Als er den Alten sah, schlurfte er zu ihm hinüber und setze sich neben ihn.
"Na, alles klar bei Dir?"
Der alte Mann nickte.
"Und bei Dir?", fragte er ruhig.
"Muss ja".
Dann schwiegen beide, so wie meistens, wenn sie sich trafen. Anfangs hatte der Alte noch versucht, mehr über den jungen Mann zu erfahren, doch dieser blockte die meisten Fragen ab und blieb einsilbig. Nur gelegentlich unterhielten sie sich mal über unverfängliche Dinge, wie das Wetter oder Fußball. Doch blieb es in der Regel bei kurzen Allgemeinplätzen.
"Na dann…", sagte der junge Mann nach einiger Zeit und erhob sich. "Ich muss jetzt los, hab noch was vor."
"Alles klar, mach's gut", erwiderte der Alte. "Bis zum nächsten Mal."
Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass sein Gegenüber wirklich etwas vor hatte, doch fragte er auch nicht weiter nach. Ohne sich noch einmal umzudrehen ging der junge Mann zum Ausgang und verließ den Bahnsteig. Der Alte blickte ihm nach. Gerne hätte er mehr über ihn erfahren, doch er spürte, dass er ihm Zeit lassen musste. Vielleicht würde er ihm ja irgendwann etwas von sich erzählen.

Bis Zwölfuhrfünf blieb er auf seiner Bank sitzen, beobachtete weiterhin vertrautes Kommen und Gehen, wartete auf Ausnahmen und neue Ereignisse. Als dann die nächste Bahn einfuhr, stieg er nun ebenfalls ein und fuhr die dreiundzwanzig Minuten bis zum Hauptbahnhof. Dort angekommen schlenderte er zu dem Imbiss, der sich auf dem Vorplatz befand. Mit wachen Augen beobachtete er auch dabei das Geschehen um sich herum.

Als der Imbissbetreiber ihn kommen sah, begann er, eine Curry-Wurst fertig zu machen, dazu gab es Pommes-Rot und eine Cola.
"Na Harald, alles gut? Gibt's was Neues?" begrüßte er den Alten und stellte ihm das Essen hin.
"Ja, alles gut, Mirko", erwiderte dieser und widmete sich in aller Ruhe seinem Essen. Auch jetzt ließ er immer wieder den Blick schweifen, um die Leute zu beobachten.
Mit einem kurzen "Tschüss" verabschiedeten sich die beiden, und Harald schlenderte zum Bahnhof zurück. Unterwegs überlegte er, ob er Mirko von dem Lütten hätte erzählen sollen, der sich den Arm gebrochen hatte. Doch der musste sich vermutlich schon so viele Geschichten anhören – warum sollte er ihn jetzt auch noch mit seinen Erlebnissen belästigen.

Harald betrat nun den Bahnhof und ging zielstrebig zu einem der Bahngleise, von dem die Fernzüge abfuhren. Auch dort gab es eine Bank, von der aus er das Treiben beobachtete. Hier verlief aber kaum etwas in der Routine, wie auf "seiner" U-Bahnstation. Zwar kannte er die meisten Menschen, die auf dem Bahnsteig arbeiteten, doch kamen nur wenige Fahrgäste regelmäßig vorbei.
Heute gab es keine besonderen Ereignisse. Doch Harald konnte sich auch an Kleinigkeiten erfreuen – eine besonders adrett gekleidete junge Frau, ein trotz des Trubels friedlich schlafendes Kind in seiner Karre, oder ein Spatz, der nach Nahrung suchend auf dem Bahnsteig umherhüpfte.
Gegen Fünfzehnuhrdreißig gönnte er sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Heute hatte er allerdings Pech, da die Stehtische des Bäckers in der Bahnhofsvorhalle alle besetzt waren. Also ging er zurück auf den Bahnsteig und genoss dort seine – wie er es nannte – "Pause vom Zusehen". Die Spatzen freute es, da er ihnen einige Kuchenkrümel zuschnippste.
Um Siebzehnuhrachtzehn machte sich Harald dann auf die Rückfahrt. Nachdem er wieder zurück war, setzte er sich erneut auf seinen Stammplatz. Wie an jedem Freitag wartete er nun auf die Kleine, die immer zwischen Siebzehnuhrfünfundvierzig und Achtzehnuhr die Bahn in Richtung Innenstadt bestieg. Die "Kleine" war Anfang zwanzig, doch er kannte sie bereits, als sie noch deutlich jünger war und zur Schule ging. Seit einigen Jahren machte sie sich freitags immer besonders fein zurecht und fuhr in die Stadt. Er wusste nicht, was sie dort tat, doch das interessierte ihn auch nicht. Ihr Anblick war es, der ihn jedes Mal erneut verzauberte. Sie selber hatte ihn in all den Jahren noch nie beachtet. Nachdem sie in die Bahn gestiegen und abgefahren war, erhob er sich langsam und machte sich auf den Heimweg.

Morgen würde er nicht hierher kommen. Morgen war Samstag, da musste er sich um die Wohnung und den Wocheneinkauf kümmern. Und sonntags machte er gewöhnlich einen Spaziergang – allerdings nur, wenn es das Wetter zuließ. Diesmal wollte er wieder zu der Baustelle für die neue Schnellstraße gehen. Auf einem kleinen Hügel hatte er eine Bank entdeckt, von der man einen guten Blick auf die Arbeiten und später auf die Straße hatte. Wer weiß, vielleicht würde er noch einmal etwas in seinem Leben verändern.
 

Else Marie

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Hallo anbas,

wie ein Auzug aus der Realität. Während des Lesens wurde ich immer stiller... Ich habs in meinem Hals gemerkt.
Es gelingt dir, den Tag eines einsamen Menschens zu beschreiben, ohne alles hoffnungslos wirken zu lassen. Der alte Mann gibt nicht auf.
Dennoch fühlt man sich betroffen und wünscht sich für ihn, dass sich tatsächlich noch einmal etwas ändert!

Grüße, Else Marie
 

Gudrun

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Ein schöner Text, der mich nachdenklich macht. Ich werde mich hüten, dieses Leben als langweilig zu bezeichnen. Wann hatten wir anderen uns einmal die Zeit genommen, die kleinen Dinge zu beobachten, vielleicht sollten wir manchmal auch etwas ändern. Und dem "Alten" wünsche ich viele neue Eindrücke, gerne würde ich ihn mal an der Würstelbude treffen.
 

anbas

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Hallo Else Marie, hallo Gudrun,

ich freue mich, dass Euch der Text gefällt. Bei Geschichten dieser Art - also in denen es auch sehr um die Atmosphäre, die Stimmung geht, habe ich immer ein wenig Angst, dass sie zu langatmig wird. Wie es aussieht, habe ich diese Klippe umschifft :).

Mir war es wichtig, dass die Situation nicht hoffnungslos erscheint. Genauso war es mir wichtig, die Frage offen zu lassen, ob der Alte dieses Leben langweilig findet und ob er leidet.
Ja, es ist wie im Leben - nicht nur die Geschichte, sondern auch das Erlebnis, das man als Leser/Beobachter hat: Man sieht, wie ein Mensch lebt und ist schnell bei einer Wertung. Dabei kann es sein, dass der Betroffene das ganz anders sieht und empfindet.

Habt vielen Dank für Eure Rückmeldungen, und Dir, Else Marie, auch herzlichen Dank für die Sternchen.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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