Im Tiergarten

Seeliger

Mitglied
Guten Tag“, sagte Seeliger, stellte den schweren Sack mit den Champagnerflaschen auf dem Boden ab, reichte der alten Frau einen Geldschein und setzte sich neben sie auf die Bank. Die einäugige Alte erwiderte seinen Gruß nicht, ließ das Geld irgendwo in ihrer zigeunerhaften Kleidung verschwinden und rauchte weiter an ihrer Zigarette. Seeliger fiel auf, dass die Frau den Zigarettenqualm derart gierig verschlang, dass kein bisschen Rauch ihren Körper wieder verließ - sie rauchte weder zu ihrer Nase noch zum Mund hinaus. Als Seeliger aufstand und die Alte neugierig auf seinen Zehenspitzen umging, stellte er fest, dass die Frau aus ihrem linken Ohr herausrauchte. Aha, ein kleines Kunststück, dachte Seeliger zufrieden, rieb sich die Hände und setzte sich wieder zu der Alten.
Ob er ihr eine Rose abkaufen dürfe, wollte Seeliger wissen und öffnete eine der Flaschen.
Sie verkaufe keine Rosen, sagte die Frau.
Warum das, rief Seeliger aufgeregt aus, er dächte alle Zigeunerfrauen verkauften Rosen.
Falsch gedacht, gab die Alte zurück, ob sie auch etwas von dem Champagner trinken dürfe und was es eigentlich zu feiern gebe.
Aber ja doch, rief Seeliger aus und reicht ihr die Flasche, das Leben sei ein Fest, wenn es sich nicht berechnen lasse, so habe das Goethe einmal gesagt.
Den kenne sie nicht, sagte die Frau und trank die Flasche in einem Zug leer, was Seeliger mit einem anerkennenden Kopfnicken quittierte.
Übrigens feiere man nicht nur Goethe und seine billigen Trinksprüche, sagte Seeliger, sondern auch, dass er, Seeliger - das sei übrigens sein Name - bald sterben werde, er sei nämlich todkrank.
Die Alte schwieg und rauchte, Seeliger wusste nicht, ob sie zuhörte oder auf Romani über ganz andere Dinge, Seeliger nicht betreffende Dinge nachsann.
Er sei Lehrer am Heinrich-von-Kleist-Gymnasium in Moabit … gewesen - das allerdings nur nebenbei, berichtete Seeliger weiter, hauptsächlich habe er sein Leben damit zugebracht, hohe Literatur zu schreiben - Weltliteratur, genaugenommen.
Die Frau räusperte sich, blickte weiter geradeaus und rieb ihren Daumen am Zeigefinger. Seeliger verstand und warf der Alten einen weiteren Geldschein vor die Füße.
Was er denn bisher geschrieben habe, wollte die Frau wissen, bückte sich ächzend vornüber und stopfte den Schein in ihre schmutzsteife Socke.
Den Roman ohne Ende, sagte Seeliger und gab sich keine große Mühe, seinen Stolz darüber zu verbergen: wer stirbt, muss nicht mehr bescheiden tun, dachte Seeliger, verdoppelte seine Stirnfalten und ging nachdenklich, den linken Arm angewinkelt auf den Rücken gelegt, einmal bis zur nächsten Birke, tätschelte diese sanft am Stamm, und wieder zurück, den rechten Arm zum linken auf den Rücken gesellend.
Ob er die Birke nicht hätte küssen müssen, wollte die Frau wissen, ob das unter Dichtern nicht so üblich sei.
Er sei kein läppischer Dichter, der umherspaziert und Birken mit poetischen Küssen benetzt, dabei ein wenig weint und danach auf der Wiese sitzend schlechte Verse schreibt, erwiderte Seeliger gereizt, für verstaubte Dichtung habe er nichts übrig, schließlich sei er, Seeliger, der Verfasser des Romans ohne Ende, das sei allermodernste Prosa.
Dieser Roman sei ihr unbekannt, sagte die Alte und wechselte den Rauchabzug auf das rechte Ohr, so dass Seeliger jetzt in einer graublauen Wolke saß. Seeliger fasste dieses Zugerauchtwerden als Sympathiebekundung auf und nahm der Frau ihre Ignoranz nicht weiter übel.
Das wundere ihn nicht, sagte Seeliger in die schnaufende Nebelmaschine hinein, tatsächlich habe der Roman ohne Ende nie den Weg in die Buchhandlungen geschafft, die Zeit sei einfach noch nicht reif dazu. Der Text sei ein Ex-pe-ri-ment, sagte er weiter, wobei er jede der vier experimentellen Silben in die Länge zog und dabei geheimnisvoll auf den kleinen Reflexhammer blickte, der an seinem Hosenbund baumelte.
Inwiefern, wollte die Frau wissen.
Seeliger schwieg und spielte mit dem hölzernen Hämmerchen.
Wovon sein Roman ohne Ende denn eigentlich handelte, wollte die Frau wissen, griff sich eine weitere der eisgekühlten Champagnerflaschen aus dem Sack, wiegte das edle Getränk wie einen Säugling in ihren beiden Armen und rieb dabei die Wange am taufeuchten Flaschenglas auf und ab; dann drückte sie den Korken ab, der Seeliger wie ein Geschoss am Hals traf, und ließ sich den sprudelnden Inhalt in vier großen Schlücken in die Kehle fließen.
Ob er als direkter Parkbanknachbar auf weitere Kollateralschäden dieser Art gefasst sein müsse, wollte Seeliger von der Alten wissen und rieb sich leise piepsend die wunde Stelle am Hals.
Die Alte überging die Frage und befahl Seeliger, sie mit derlei Unworten wie Kollateralschaden, die sich für einen vermeintlichen Weltliteraten auch sicher nicht gehörten, zu verschonen.
Ob ihr der Champagner zusage, wollte Seeliger von der Alten weiter wissen, echter Dom Perignon sei das, nicht gerade billig, ob das ihren Ansprüchen genüge.
Das sei ihr ganz egal, was sie trinke, Gesöff sei Gesöff, erwiderte die Frau mehrfach aufstoßend, Hauptsache, es knalle - wovon sein Roman ohne Ende denn nun handelte, wollte sie von Seeliger wieder wissen, ohne diesen dabei anzublicken, übrigens stelle sie nur ungern zweimal dieselbe Frage, dazu fehle ihr die Geduld.
Sein Roman ohne Ende sei ein besonders handlungsarmer Roman, so handlungsarm, dass sich darüber tatsächlich nicht viel sagen lasse, übrigens müsse er jetzt gehen, sagte Seeliger, setzte eine Zigarette in Brand, erhob sich von der Bank und verabschiedete sich höflich, nicht ohne der Alten noch so fest am Ohrläppchen zu ziehen, dass er plötzlich das halbe Ohr in Händen hielt, was die Alte gurrend wie eine Taube hinnahm.
Nach sieben federnden Schritten schlug Seeliger eine Brücke und bewegte sich im vierbeinigen Rückwärtsgang wieder hin zur Alten, betrachtete diese kopfüber, blinzelte angestrengt und ließ dabei die brennende Zigarette aus dem linken in den rechten Mundwinkel wandern.
Nein, er habe gelogen, sagte Seeliger in die auf den Kopf gestellte Frau hinein, entließ sich wieder aus der Brückenstarre und setzte sich zu der Alten auf den Schoß, genaugenommen müsse er noch nicht gehen. Ob sie das wiederhaben wolle, wollte Seeliger wissen und wies auf den blutigen Ohrklumpen in seiner Hand, warf denselben rücklings über die Schulter, schnappte rauchend nach Luft, strich sich das nasse Kunsthaar über den hochroten Kopf zurück und blutete nun seinerseits etwas zum Körper hinaus, wo genau war allerdings schwer auszumachen.
Worum es in seinem Roman ginge, wollte die Frau ein drittes Mal wissen, nochmals werde sie ihn das sicherlich nicht fragen - übrigens hätte er, Seeliger, ihr abgetrenntes Ohr nicht einfach wegwerfen sondern zerkrümeln und rauchen sollen, ihre Enkelkinder hielten das immer so wann immer der Großmutter etwas vom Körper abfalle; letztens hätten die Knaben ihren kleinen Zeh geraucht - kaum sei ihr der Zeh abgefallen, schon habe man das Teil in den alles verarbeitenden Pfeifenkopf gestopft; das habe so heftig reingeknallt, dass ihr zwölfjähriger Enkel Ringo, in der Annahme, er könne fliegen, vom Wellblech-Dach ihrer Hütte gesprungen sei und sich dabei sämtliche Rippen gebrochen habe und seine gleichaltrige Schwester Bluma kurzerhand ihren Säuglingssohn, Pepito, an einem Balken aufgehängt habe, wohl zum Spaß, worauf der Vater und gleichzeitige Großvater des kleinen Pepitos sich sofort in die Toilette gesperrt und einen Trauergesang angestimmt habe.
Er, Seeliger, wisse auch nicht immer, worum es in seinem Roman eigentlich geht, sagte Seeliger, in schwachen Momenten frage er sich immerzu, worum geht es eigentlich in deinem Roman, Seeliger, doch habe er die Frage bis heute nicht beantworten können - ob das in ihrer Sippe eigentlich so üblich sei, dass man einander in der Pfeife aufraucht und anschließend an Balken erhängt, wollte Seeliger von der Alten noch wissen.
Keine Handlung, kein Roman, sollte man meinen, gab die Alte zu bedenken, kratzte sich am halben Ohr und zündete eine neue Zigarette an der Glut der alten an.
Das habe er anfangs auch gedacht und habe immer wieder versucht, seinem Roman ohne Ende eine Handlung unterzuschieben, die sein Roman ohne Ende aber immer wieder abgestoßen habe, sagte Seeliger; alle seine Bemühungen, dem Roman ohne Ende Handlung unterzujubeln, seien gescheitert; zwar habe sein Roman ohne Ende die Handlungsangebote alle geschluckt, doch allesamt seien sie chancenlos in der übermächtigen Handlungslosigkeit des Romans ohne Ende untergegangen. Irgendwann sei ihm aufgegangen, dass das so sein müsse, dass er, Seeliger, nun mal dazu da sei, handlungsbefreite Weltliteratur zu schreiben.
Ob sich Handlungsarmut in der Literatur denn auszahle, wollte die Frau wissen.
Leider nicht, gab Seeliger zurück, der Handlungsehrgeiz in der Literatur dieser Tage sei besonders stark. Kaum schlage man ein Buch auf und schon passiere auch etwas; zack, gleich auf der ersten Seite müssten Autoren beweisen, dass in ihren Büchern gehandelt und unter keinen Umständen nachgedacht werde.
Das hänge damit zusammen, fuhr Seeliger fort, die Frau von der Seite anzusprechen, dass in unseren Breitengraden seit Ausbruch der industriellen Revolution, die unter dem Deckmantel des Fortschritts alles Denken erstickt habe, nur mehr Proleten lebten und die seien nun mal allesamt aktions- und handlungssüchtig.
Dadurch stünden allen unverschämten Handlungsangebern unter den Schriftstellern Tür und Tor offen, den seeligerfreien Buchmarkt mit ihrer Handlungsrohheit zu überfluten.
Die Frau gab zu bedenken, dass Seeligers Literatureinstellung eine sehr snobistische sei und darüber hinaus ungerechtfertigt - schließlich habe man die Handlungsfanatiker, wie Seeliger sie nenne, alle veröffentlicht, ihn, Seeliger, aber habe man nicht veröffentlicht - und nur das zähle; übrigens könne sie ihm, Seeliger, den Neid an der Nasenspitze ansehen.
Ja, sagte Seeliger, er sei allerdings ein Opfer der grassierenden Handlungswut, verdammt dazu, sogenannte Gymnasiasten, die ja auch nichts weiter als nach Handlung lechzende Proleten und völlig unzugänglich für handlungsbefreite Weltliteratur seien, zu unterrichten. Er, Seeliger, werde wohl zeitlebens - und das sei nicht mehr allzu lang, er sterbe nämlich demnächst, vielleicht sogar heute, müsse die Frau wissen - zu den Heerscharen von Unveröffentlichten gehören. Warum die Frau eigentlich so gut deutsch reden könne, wollte Seeliger noch wissen, griff unvermittelt in seine Jackettasche und hielt der alten Frau einen ganzen Bündel Geldscheine unter die Nase.
Ob das ein Angebot sei, wollte die Frau wissen und sah mit einem gierigen Auge (das gesunde Auge) auf das viele Geld herab und mit einem misstrauischen Auge (das gläserne Auge) zu Seeliger herüber, so das ihr echsenartiges Gesicht ein wenig einriss, während ein schwarzbrauner Altersfleck auf ihrer ledernen Stirn wie ein drittes Auge (das ewige Auge?) in den Himmel blickte. Übrigens sei ihre Rente nicht so schmal, dass sie sich bereits mit Altersprostitution aushelfen müsse, sagte sie schließlich.
Nein, nein, sagte Seeliger, das habe sie gründlich missverstanden, auch sei ihm keineswegs danach zumute, das könne er bei seiner Oma umsonst haben - dass Zigeuner Rente beziehen, habe er übrigens noch nie gehört. Sein Name sei wie gesagt Seeliger, Philip Seeliger - ob sie sich das merken könne, wollte er von der alten Frau wissen.
Natürlich könne sie sich das merken, so alt sei sie nun auch wieder nicht, gab die Frau etwas spitz zurück.
Er habe sie nicht beleidigen wollen, sagte Seeliger, aber zurück zum Thema, das ja nur mehr sein Tod sein könne: Das Heinrich-von-Kleist-Gymnasium, sagte er, werde sicher irgend eine kleine Todesanzeige schalten, sobald er, Seeliger, einmal tot sei, was, wie er bereits mehrmals erwähnte habe, nicht mehr lange hin sein würde. Darauf müsse die Alte achtgeben.
Sie würde die Augen oder besser: das eine Auge offen halten, versprach die Frau, das Entziffern von fettgedruckten Todesanzeigen werde sie als intellektuelle Herausforderung ansehen, um so mehr, da sie nicht lesen könne. Warum er, ein so junger Mann, demnächst eigentlich sterben müsse, warf die Frau interessiert ein.
Das gehe sie nichts an, sagte Seeliger.
Warum er eigentlich diese alberne Perücke trage, wollte die Frau weiter wissen.
Auch das gehe sie nichts an - ob sie das Geld nun haben wolle oder nicht, herrschte Seeliger die Alte an und drückte ein wenig an seinen goldenen Schnallenschuhen herum.
Ja, doch, Geld könne man immer gut gebrauchen, sagte die Frau, was denn nun eigentlich Seeligers Anliegen sei, was genau Seeliger von ihr erwarte für das viele Geld.
Wenn er, Seeliger, tot sei, müsse sie sich erst einmal erkundigen, wo man seinen Leichnam begraben werde, erklärte Seeliger. Am besten sei, sie erfrage das an seiner Schule, da würde man sicher Bescheid wissen.
Nichts einfacher als das, warf die Frau erfreut ein, das würde sie mit links herausbekommen.
Ob sie sich ihre unliebsamen Einwürfe nicht verkneifen könne, wollte Seeliger wissen und bedachte die Frau mit einem strengen Blick, worauf diese wie ein zurechtgewiesenes Kind verstummte.
Dann beginne erst ihr eigentlicher Auftrag, sagte Seeliger, der zum einen darin bestehe, dass sie einen Grabstein für Seeliger aussuchen solle - bitte nicht gerade den billigsten, die verwitterten so schnell - und folgende Inschrift anfertigen lasse: Philip Seeliger, der Unveröffentlichte - Handlung kümmerte ihn nicht!
Das könne sie durchaus tun, sagte die alte Frau eifrig; was er übrigens von: Philip Seliger - der Handlungsverweigerer!, halte; das sei doch auch eine sehr hübsche Grabsteininschrift, noch kürzer und noch eingängiger, sagte die Frau, so wie es sich für einen Schriftsteller gehöre.
Es sei durchaus lobenswert, dass die Frau mitdenke, sagte Seeliger, aber er müsse darauf bestehen, das sie sich genau an seinen Wortlaut halte, sonst müsse er jemand anderen mit der Sache beauftragen.
Nein, nein, lenkte die Frau ein, natürlich respektiere sie Seeligers letzten Willen, also: Philip Seeliger, der Unveröffentlichte - Handlung kümmerte ihn nicht!; so würde es sein, Seeliger könne sich auf sie verlassen.
Wichtig sei, dass der Steinmetz beim Verfertigen der Grabinschrift Seeligers Geburts- und Todesdaten auslasse, sagte Seeliger, da er, Seeliger, seit seinem siebten Geburtstag niemals an irgendeine Zeitrechnung habe glauben können und man letztlich immer alterslos sterbe.
Das sehe sie zwar anders, sagte die Frau, aber sein Wille solle geschehen, Seeliger könne beruhigt sein. Ob sie das Geld jetzt haben könne, wollte die Frau wissen.
Seeliger zog die obersten zwei Scheine vom Geldbündel ab und reichte sie der Alten mit den Worten, dass dies eine kleine Vorschusszahlung sei, bis sie den schwersten Teil des eigentlichen Auftrags, von dem noch die Rede sein werde, erledigt habe.
Die Alte verstaute die Scheine irgendwo in ihrem Filzhut, der in seinem abgestandenen Grün wie ein riesiger Schimmelpilz auf ihrem wilden Haupt thronte, und versprach noch einmal, dass alles nach Seeligers Wunsch geschehen werde, er also beruhigt sterben könne.
Warum sein Roman eigentlich Roman ohne Ende heiße, wollte die Frau jetzt wissen und blickte Seeliger aus dem altersmisstrauischen Glasauge an.
Das sei sein Berufsgeheimnis, das gehe sie gar nichts an, sagte Seeliger, blickte geheimnisvoll auf seine Schnallenschuhe, zündete sich eine Zigarette an, spulte bedächtig eine blonde Haarsträhne der teuren Perücke an seinem Zeigefinger auf und schnappte abschließend mit schneller Zunge nach der abspulenden Haarlocke.
Die Alte kraulte Seeliger derweil kräftig unterm Kinn, bat flehentlich und suchte Seeliger mit einem bezirzenden Singsang, der sich überwiegend aus Ös und Üs und einem dritten ihm unbekannten Umlaut zusammensetze, umzustimmen.
Also gut, sagte Seeliger, ausnahmsweise wolle er das Geheimnis preisgeben. Sein Roman heiße Roman ohne Ende, da dieser Roman tatsächlich kein Ende finde.
Seeliger müsse deutlicher werden, verlangte die Alte und hatte nach einem kurzen Gerangel Seeligers brennende Zigarette in ihrer zitternden Hand, von der gerade der braunschwarze Daumennagel abbrach und in ihren eingedreckten Schoß fiel.
Nun, er habe lange an seinem Roman herum gedrechselt, sagte Seeliger, und das habe anfangs alles sehr gut ineinandergegriffen und das sei auch ein Riesenspaß gewesen, den Text ständig wachsen zu sehen und so. Nach sechs Jahren und viertausend Seiten habe er dann aber allmählich zu ermüden begonnen und sich das Ende des Romans herbeigesehnt - jedoch sei zu dem Zeitpunkt kein Ende absehbar gewesen, so dass Seeliger die Zähne zusammengebissen und weitergeschrieben habe, in der Hoffnung, irgendwann würde sich doch einmal ein Ende abzeichnen müssen. Allein, als dann nach weiteren sechs Jahren und insgesamt achteinhalbtausend Seiten noch immer kein Ende in Sicht gewesen sei, sagte Seeliger, habe er den unfertigen Roman noch einmal von vorne bis hinten durchgelesen in der Annahme, er hätte das Ende während des Schreibens vielleicht übersehen und im Eifer des literarischen Gefechts einfach weitergeschrieben, über das Ende also hinweg- oder hinausgeschrieben. Immer wieder habe er sich während der Lektüre ins Gewissen geredet, Seeliger, habe er sich gesagt, du musst das Ende finden, habe aber weit und breit kein Ende finden können.
Da solle sich einer auskennen, rief die Frau aus; dann sagte sie dreimal hintereinander “schöner Schlamassel, das” und suchte mit der Zunge zu schnalzen, was nicht gelang, da ihr dieser nur mehr nikotinbraune Lappen augenblicklich am Gaumen festklebte.
Ob ihr das Alter mit seiner Zahn-, Verständnis- und Schamlosigkeit, ob ihr all diese widerwärtigen Losigkeiten nicht zu schaffen machten, wollte Seeliger plötzlich von der Alten wissen und kniff sie kurz in die welke Wange, was die Frau mit einem wohligen Grunzen aufnahm.
Keineswegs, sagte die Alte, je mehr sie verliere, desto freier fühle sie sich, was er, Seeliger, sich als Weltliterat eigentlich auch hätte denken können. Übrigens solle er nicht vom Thema ablenken, das ja noch immer sein Roman ohne Ende und nicht ihr altersbedingtes Verschimmeln und die damit vermeintlich einhergehenden Losigkeiten, wozu übrigens auch die Trost- und Hoffnungslosigkeit gehörten, sei, wies die Alte ihn zurecht und kratzte Seeliger kurz die Wade blutig, worauf dieser der Alten an die Stirn und in den Schoß spuckte.
“Und?”, sagte die Frau, nachdem sie damit fertig wurde, ein Wort aus Seeligers Spucke in Schönschrift in ihren Schoß zu malen, ein Wort, dessen Sinn Seeliger nicht einsah, da es aus einer ihm unbekannten Sprache war.
“Was und?”, sagte Seeliger und überlegte, ob das seltsame Spuckewort wohl aus dem Rotwelsch oder sonst aus irgendeiner gaunerhaften Zigeunersprache komme.
Was er dann weiter unternommen habe, als ihm aufgegangen sei, dass sein Roman ohne Ende kein Ende hat, wollte die Frau wissen, zog vier-, fünfmal hintereinander an der Zigarette ohne abzusetzen und blickte den blaugrauen Quadern, Kreisen und Dreiecken nach, die sie gekonnt in den Himmel steigen ließ.
Nun, er habe eines Tages einfach das unfertige Werk an ein paar Verleger gesandt, sagte Seeliger und blickte bedeutsam auf seine Trauergaze, die neben dem Reflexhammer im Hosenbund klemmte und, von Zigarettenasche völlig eingeschwärzt, wie eine Piratenflagge im Wind wehte.
Das sei ja spannend, was man ihm geantwortet habe, wollte die Frau wissen und legte eine Hand in Seeligers Schritt, die dieser geschickt entfernen wollte, indem er sie mit seiner Zigarette brandmarkte, worauf die Frau nur kurz ächzte und dann lachte, die Hand aber zwischen Seeligers Beinen liegen ließ.
Er, Seeliger, habe wohl die Empfindungs- und Schmerzlosigkeit - weitere Losigkeiten, wie er sehen könne - einer greisen Frau unterschätzt, gab die Alte zu bedenken. Übrigens sei das ja eine wirklich traurige Sache bei ihm da unten, sagte sie vorwurfsvoll und nahm ihre Hand weg, da würde wohl nichts mehr hart; ob das bei allen Weltliteraten so sei, wollte sie wissen und blies einen Rauchschwaden - diesmal durch den Mund - in die Luft, der sich auf wunderbare Weise zu einem Wort zusammensetzte, dasselbe Seeliger unverständliche Gaunerwort, dass die Alte sich vorher aus Seeligers Spucke - offenbar einer kalligraphischen Eingebung folgend - in den Schoss skizziert hatte.
Impotenz sei absolute Grundvoraussetzung für das Schaffen von Weltliteratur, Impotenz, Depression, Selbstmord - in genau dieser Reihenfolge, was sie sich, auch wenn sie keine Weltliteratin sei, durchaus hätte denken können. Ob sie immer noch wissen wolle, was die Verleger ihm geantwortet hatten, wollte Seeliger wissen.
Aber ja doch, sagte die Frau und spielte lächelnd an ihrem Knöchel, der unter dem wässrigen Brandloch hervortrat.
Nun ja, sagte Seeliger, die wenigsten hätten überhaupt geantwortet und wenn, dann hätte man ihm eine gewisse Unverständlichkeit des Textes vorgeworfen; ein Lektor, Herr Luge aus Hamburg, habe sich sogar dazu hinreißen lassen, zu behaupten, stellenweise sei ihm der Text zu lang vorgekommen; das müsse sie sich einmal vorstellen, sagte Seeliger, die Unverschämtheit dieser Antwort habe ihn tagelang krank gemacht, eine schwere Zeit sei das für ihn gewesen. In einem rückwärts geschriebenen Antwortbrief auf Herrn Luges Antwortbrief, habe er dem Aas von einem Lektor dann mitgeteilt, er, Seeliger, hoffe, der Mann werde sich an diesem Brief die Augen kaputt lesen und ihm sonst noch allerlei Verwünschungen zugeschrieben, alles hübsch rückwärts, was keine ganz einfache Arbeit gewesen sei.
Ob er nicht einen befreundeten Lehrerkollegen darum hätte bitten können, das Ende für Seeliger und seinen Roman zu finden, wollte die Frau wissen.
Auf keinen Fall, empörte sich Seeliger, seinen mit Rotstiften bewaffneten Lehrerkollegen sei nicht über den Weg zu trauen. Anstatt sich auf die Suche nach dem verlorenen Ende in Seeligers Roman zu begeben, würden seine Kollegen sich direkt auf fehlende Komata und Seeligers fehlerhafte Rechtschreibung stürzen. Nein, sagte Seeliger weiter, ein solches orthographisches Blutbad habe er seinem Roman ohne Ende nicht antun wollen.
Was er danach gemacht habe, wollte die Frau wissen.
Nun, sagte Seeliger, er habe sich noch einmal selber, ein letztes Mal, auf die Suche nach dem verlorenen Ende gemacht. Doch anstatt das Ende zu finden, habe er weitere dreitausend Seiten geschrieben und sich vom Ende noch weiter entfernt als zuvor.
Die Alte könne sich denken, dass ein solcher endloser Text, der nur darauf giere, weitergeschrieben zu werden und gnadenlos das Leben seines Aufschreibers auffresse, genaugenommen ein bösartiger Text sei, sagte Seeliger und presste händeringend ein gequältes Lächeln aus seinem trostlosen Gesicht. Wie ein nicht endendes Wörtergewitter sei dieser Roman ohne Ende auf ihn hernieder geprasselt, sagte Seeliger, hier ein unerwarteter Geistesblitz, der ihn bis ins Mark getroffen und sein Herz in Brand gesetzt habe, dort ein sophistisches Wetterleuchten, das seine Seele rücksichtslos ausgeleuchtet und aller Geheimnisse beraubt habe, dann wieder ein ohrenbetäubender Hauptsatzdonner, der mitten in Seeligers Seele gekracht sei und ein schweres Beben ausgelöst und den armen Seeliger derart erschüttert habe, dass er noch Tage danach am ganzen Leibe habe zittern müssen. Und weit und breit kein Dach, wo er sich Schutz suchend hätte unterstellen können. Nur er, Seeliger, ganz allein, nackt und abgerissen unter dem weiten schwarzen Himmel aus dem dieser ABC-Feuerregen aus perfiden Nebensätzen und Konklusionen auf seinen wehrlosen Körper nieder gepeitscht sei. Die Frau könne sich nicht vorstellen, wie er, Seeliger, Sklave der Erkenntnis, monatelang, ja jahrelang auf allen vieren wie ein Ochse den literarischen Acker gepflogen und immer wieder um Gnade gewinselt habe, man möge ihn aus diesem schöpferischen Joch befreien, jedoch unerhört blieb, bis sich eines Tages der verbrannte Boden unter ihm aufgetan und die Erde ihn geschluckt habe und er endlos in die tiefsten Tiefen aller irdischen Erkenntnis gefallen sei, wo ihn ein riesengroßer Moloch aus flüssigem Eisen zugezwinkert und er von roten syntaktischen Lavaströmen getragen durch das göttliche Adernetz der Welt geschwommen und dann wieder gefallen sei, bis er schließlich durch einen luftleeren Raum flog, dessen Farben allesamt schwarz waren und dabei so grell, dass Seeligers Augen erblindeten und er plötzlich alles und nichts gesehen habe.
Er müsse deutlicher werden, forderte die Alte streng, schließlich sei ihr Gehirn ein bescheidenes und kein weltliterarisches; im Übrigen verachte sie diesen ganzen Metapherndreck, das sei was für gelangweilte Weiber, aber sicher nichts für junge Männer, sagte die Alte weiter und spie einen halben Zahnstumpen so geschickt aus ihrem rechten Mundwinkel, dass er Seeliger mitten ins Auge traf.
Ob sie nicht wenigstens für die Dauer seiner Erzählung in ihrer partiellen Selbstabschaffung innehalten könne, wollte Seeliger wissen und reichte der Alten seine goldene Uhr, nach der diese gierig griff. Dieses lepröse Auseinanderfallen in der Öffentlichkeit sei übrigens verachtenswerter als sein bisschen Angeben mit harmlosen Metaphern, sagte Seeliger und rieb sich das blutige Auge.
Die Frau überhörte das und wurde quengelig, Seeliger solle endlich weitererzählen, schließlich habe sie heute noch etwas anderes vor.
Ob sie ihr Mann zu Hause erwarte, wollte Seeliger wissen.
Ihr Mann sei schon lange tot, sagte die Frau, möge Gott ihn selig haben.
Was sie denn heute noch anderes vorhabe, wo der Mann doch lange tot sei, wollte Seeliger wissen, das interessiere ihn. Dann griff er nach seinem Reflexhammer und schlug der Alten ein kleines Loch in die Luftröhre, aus dem sogleich ein grünlicher Dampf entwich.
Sein Interesse, das sicherlich ein weltliterarisches sei, in Ehren - dennoch gehe ihn ihr Privatleben nichts an, gab die Alte keuchend zurück, griff nach Seeligers Zigarettenschachtel, zündete sich zwei Zigaretten auf einmal an, wobei sie eine durch den Mund paffte und die andere durch die neu eingeschlagene Öffnung in der Luftröhre rauchte, und aus dem Mund das Wort so und aus dem Luftröhrenriss das Wort nicht in Seeligers Gesichtsfeld blies und dabei eingeschnappt und befriedigt auf Seeligers zerfetzte Netzhaut schielte.
Die Alte müsse wissen, sagte Seeliger, dass er als Kind besonders gerne Verstecken gespielt habe. Fast jeden Tag habe er sich in seiner Kindheit versteckt. Was sein Versteckspiel allerdings vom Versteckspiel anderer Kinder unterschieden habe, war, dass es niemanden gab, der ihn, Seeliger, gesucht hätte. Dennoch habe er sich immer wieder versteckt und manchmal bis zu drei Tagen in ein- und demselben Versteck ausgeharrt, ohne dass ihn jemand gefunden hätte, was auch nicht möglich war, da ihn ja niemand gesucht oder auch nur vermisst hatte.
Die Frau schwieg und suchte indessen das neueste Loch in ihrem Körper mit einem Kieselstein zu schließen, offenbar zog ihr der Tiergartenwind ungemütlich zum Halse herein.
Ob sie sich denken könne, welches sein Lieblingsversteck gewesen sei, wollte Seeliger noch wissen und reichte der stumm fordernden Frau, deren Daumen und Zeigefinger schon ganz blau gerieben waren, weiteres Geld und seinen silbernen Ring, den sie sich auch gleich auf ihren kleinen Zeh steckte, der sich ungeduldig wie ein duschender Regenwurm durch die zerfetzte Socke krümmte.
“Hinter einem Vorhang“, riet die Frau aufgeregt, wobei ihr der Kieselstein aus dem Seeligerschen Luftröhrenschnitt wieder heraus fiel.
Ob sie ihm soviel Einfallslosigkeit zutraue, sich hinter einem Vorhang zu verstecken, ihm, dem Verfasser von Weltliteratur, wollte Seeliger wissen, blickte die Alte äußerst streng an, köpfte eine Flasche Dom Perignon mit den Zähnen und reichte der Frau den Korken: damit müsse es gehen, versicherte er, ein normaler Schaumweinkorken eigne sich nur als billiges Fluggeschoss, doch der Kork mit dem man die Flaschen in der Kellerei Moet & Chandon schließe, garantiere auch allerbeste Verdichtung, damit habe er, Seeliger, noch jedes nennenswerte Loch stopfen können - am besten, sie lasse ihn das kurz machen.
Nach erfolgter Verkorkung der Frau konnte Seeliger es noch immer nicht fassen, dass die Frau ihn während seines Versteckspiels hinter einem Vorhang vermutet hatte: hinter einem Vorhang, dass er nicht lache, unglaublich, was man ihm, Seeliger, alles zutraue, rief er und blickte ungläubig zu einem Pappelstand, als wolle er diese als Zeugen dafür aufrufen, dass ihm hier großes Unrecht widerfahre.
Nein, nein, beeilte die Frau sich, Seeliger zu besänftigen, er sei sicher ein sehr aufgewecktes Kind gewesen - vielleicht habe er sich unter einem Teppich versteckt?
Nein, sagte Seeliger nun vollends eingeschnappt, er sei zwar ein äußerst dürres und flaches Kind gewesen, aber so platt, um sich wie eine Schabe unter den Teppich zu verkriechen, nun auch wieder nicht - ob der Kork sie auch gut abdichte.
Hervorragend, sagte die Alte, warum er denn ein so leichtes Kind gewesen sei, ob man bei ihm zu Hause so schlecht gekocht habe, oder was.
Genaugenommen habe man bei ihm zu Hause überhaupt nicht gekocht, berichtigte Seeliger die Frau, da seine Mutter, der ja naturgemäß die Rolle der Köchin zugefallen sei, keine Lust gehabt habe, diese ihre Köchinnenrolle zu erfüllen, sondern lieber den lieben langen Tag lang Tennis im Fernsehen geschaut oder irgendwelche Artikel aus der Bunten auf ihrer Schreibmaschine abgeschrieben habe - seine ganze Kindheit durch habe ihn dieses mütterliche Artikelabtippen auf der Schreibmaschine verfolgt; bei ihm zu Hause hätten konzentrationslagerhafte Zustände geherrscht, müsse die Frau wissen, er übertreibe keineswegs: immer wieder sei das Kind Seeliger vor Schwäche umgefallen und habe aus der Nase geblutet - wie ein Schwein habe das Kind Seeliger immerzu geblutet aus der Nase, manchmal sogar aus den Ohren. Besonders ärgerlich sei gewesen, fuhr Seeliger fort, der Alten seine Kindheit auseinanderzusetzen, dass er niemals ein Tennismatch habe beenden können, da er immerzu nach zwei, drei Spielen bereits in Ohnmacht gefallen sei. Die fortwährende Unterernährung habe er seiner Mutter aber längst verziehen, da er heute einsehe, dass man eine solche Konzentrationslagerkindheit brauche, wenn man Weltliteratur schreiben wolle. Ein Schriftsteller, der nicht zumindest auf eine konzentrationslagerähnliche Vergangenheit zurückblicken könne, sei ein völlig wertloser Schriftsteller und könne seine Texte bestenfalls mit Handlungsunsinn schwängern und am Ende eine literarische Miss- oder Todgeburt in die Welt schleudern, aber sicher keine Weltliteratur zustande bringen.
Wo er sich denn nun versteckt habe in seiner Kindheit, er solle sie nicht weiter auf die Folter spannen, sagte die Frau, die gerade dabei war, das seltsame Fremdwort mit einer Nagelfeile in ihre rechte Brust zu ritzen, wobei Seeliger auffiel, dass der Frau ihre linke Brust völlig abhanden gekommen war - allem Anschein nach war sie mit einem Messer weggeschnitten worden. Seeliger empfand dieses Zur-Schau-Stellen der fehlenden Brust als angeberisch und bekam Lust, die Frau für diese Angeberei zu bestrafen; also packte er sie mit zwei Fingern in die Nase und zog und zerrte solange daran, bis der linke Nasenflügel aufplatzte, was ein Geräusch wie zehn aufspringende Eiterpickel gab, wonach sich Seeliger die eigene Nase zuhalten musste, so stank das.
Das habe er nun von seiner albernen Rumreißerei, sagte die Frau, sie treffe keine Schuld, schließlich könne man von einer alten Frau, die ihre Giftstoffe nicht ausschließlich aus dem After vergast, nicht erwarten, unter der Nasenoberfläche nach Rosenwasser zu duften.
Seeliger musste das einsehen, hielt sich aber weiterhin die eigene Nase zu und gaste nun seinerseits zum Arschloch hinaus, um den Gestank der Alten durch Seeligersches Methan zu bekämpfen.
Wo er sich denn letzten Endes versteckt habe in seiner verhungernden Kindheit, wollte die Frau wieder wissen, ob man Seeliger denn alles dreimal fragen müsse und ob das eine unter handlungsbefreiten Weltliteraten übliche Gesprächsform sei, immer so vom eigentlichen Thema abzukommen.
Seeliger gab seine Nase wieder frei, schnupperte die Frau von oben bis unten ab, ließ sich endlich auf die Knie nieder und befahl der Alten genau aufzupassen, sie werde jetzt Zeugin des Seeligerschen Limbotanzes, sie werde staunen. Dann beugte er seinen Rücken bis zum beinahigen Hinterkopfanschlag nach hinten und tanzte, die Zigarette lässig im Mundwinkel, mit zwei Champagnerflaschen bewaffnet, Zentimeter für Zentimeter unter der Bank hindurch, um auch das Gesäß der Alten abzuriechen, bei welcher Gelegenheit Seeliger auffiel, dass der Zigeunerrock in dieser Körpergegend bis zur völligen Auftrennung durchgesessen war und die Frau auch keine Unterwäsche darunter trug. Der Limbo tanzende Seeliger musste nun sehen, wie es über ihm leise aus diesem behaarten Greisengesäß rauchte, dem also dieselbe Funktion zukam, wie den rauchenden Ohren. Wieder formierten sich die Rauchschwaden nach einer Weile zu den zwei Worten: so … nicht!. Offenbar hatte die Alte sämtliche Körperschleusen unter Kontrolle und konnte mit ihren Ein- und Ausgängen schalten und walten, wie es ihr beliebte. Seeliger war beeindruckt von den vielen Abzugsmöglichkeiten der Frau und stach probeweise mit seinem Zeigefinger in diese imperative Rauchwolke hinein - blitzschnell formierte sich ein neuer Rauchimperativ: trau … dich!
Seeliger wusste nicht so recht, was tun, doch als er das blinde Auge der Alten sah, das befehlend durch die Bankritze stierte, stieß er der Frau kurz den Mittelfinger zwischen die verschrumpelten Schamlippen, die sich da über ihm konvulsivisch vor Lust - wie ein zerhackter Regenwurm - krümmten, und dabei aussahen, wie der violettschwarze Schmollmund eines verwaschenen Clowns in Trauer.
Das blinde Auge der Frau zitterte nun vor Erregung bis es aus seiner Höhle sprang. Seeliger konnte hören, wie das Glasauge langsam in der Bankritze dem Abgrund entgegenkollerte und dann dumpf auf die Erde schlug. Seeliger, der sich nun von einer augenlosen Höhle durch den Bankspalt beobachtet sah, unterbrach seine karibische Tanzeinlage und blieb regungslos liegen - neugierig starrte er in dieses unergründliche Schwarz, ob sich dahinter vielleicht die Seele der Alten zu erkennen gebe. Doch abgesehen von einem kleinen Silberfischchenkadaver und einem andern unkenntlichen Insektenleichnam, die sich vor Jahren einmal hinter das trübe Kristallgebirge der halbblinden Zigeunerfrau verstiegen haben mussten und mit deren Abtransport sich jetzt drei geschäftige Parkbankameisen zu schaffen machten, gab es keinerlei Offenbarung für Seliger. Darüber verärgert griff er nach dem am Boden liegenden Zahnstumpen der Alten und stak der Frau dieses gelbe Ding zwischen die ausgeleierten Schamlippen, was das vollbärtige Clownsgesicht über ihm nun irgendwie spöttisch und hämisch aussehen ließ. Damit nicht genug, stak er der Frau seine brennende Zigarette in diesen Clownsmund, woran dieser gierig zog und ein verrauchtes Du Hund in Seeligers Tiefen hinab blies - was diesen stark enttäuschte. Seeliger war mit seiner Enttäuschung zu noch keinem Ende gelangt, als er bemerkte, wie es leise aus der Frau herauströpfelte und schleimig Fäden sich durch die Bankritze hinab zur Erde und zu Seeliger wanden. Er fand, die Alte hätte ihn vorwarnen müssen und spürte wie dieser farblose Schleim sein Gesicht verätzte.
Als Seeliger wieder auf der Bank saß, wollte die Frau wissen, ob alle handlungsbefreiten Weltliteraten es mit den Hunden hielten und ihre organische Umwelt derart beschnüffelten und auf Befehl apportierten.
Nein, durchaus nicht, sagte Seeliger und kratzte sich lustlos das blonde Haar und spiegelte sich ein wenig in einer der Flaschen, aus der ihn ein von Pusteln ziemlich entstelltes Gesicht entgegenblickte. Der Hang zur Vertierung sei eine spezifisch Seeligersche Eigenheit, die er schon in seiner frühesten Kindheit entwickelt habe, sagte Seeliger weiter und schnäuzte sich ein mit kleinen Stacheln bewehrtes Objekt, das mitten aus seiner Kopfmitte hervorbrach und offenbar seine neue Nase war.
Als Kind habe er sich in der Geborgenheit seines Verstecks immer solange vorgestellt, ein Hund oder eine Kröte zu sein, bis die Metamorphose am Ende kraft seiner enormen Willensanstrengung so weit geglückt sei, dass er tatsächlich täuschend echt zu bellen oder quaken angefangen habe; dadurch habe er sein Versteck regelmäßig preisgegeben, was aber niemandem weiter aufgefallen sei, da man ja nicht nach ihm suchte, sondern damit beschäftigt war, Nahrung in der komplett zugestellten Wohnung zu suchen, was ein gänzlich hoffnungsloses Unterfangen gewesen sei, das in Ohnmachten oder apathischen Verzweiflungsanfällen oder trockenem Kotzen oder aber, das allerdings seltener, mit schreienden Lachsalven geendet habe.
Und wo sei denn nun dieses sein Kindheitsversteck eigentlich gewesen, wollte die Frau immer noch wissen und versuchte ungeduldig das falsche Auge in das blinde Loch reinzufriemeln.
Nun, sein Vater sei ein richtiger Zeitungsfanatiker gewesen und habe sich zeitlebens nicht von einem einzigen Blatt trennen können, sagte Seeliger. Die Frau könne sich das Resultat dieser Sammelwut kaum vorstellen, überall in der sperrigen Wohnung seien die väterlichen Zeitungen hervor gequollen, sogar im Kühlschrank, der ja ohnehin seine eigentliche Kühlfunktion auf Grund der Einkaufs- und Kochlustlosigkeit seiner Mutter eingebüßt hatte, hätten die Zeitungen herumgelegen.
Dieser unhaltbare Zustand der zunehmenden Vermüllung, der sich letztendlich zu einem Zustand der totalen Vermüllung ausgewachsen hatte, habe erst gegen des Vaters Lebensende hin eine Besserung erfahren.
Wie das gekommen sei, wollte die Frau wissen.
Nun, sagte Seeliger, sein Vater habe eines Tages damit begonnen, seine unzähligen Zeitungen, die er seit den fünfziger Jahren aufbewahrt hatte, zu verspeisen. Anfangs habe er nur hin und wieder von einer Zeitung genascht; Seeliger erinnere sich genau, er habe das aber nicht weiter merkwürdig gefunden und hatte das wohl auch dem in der Seeligerschen Wohnung wild grassierenden Hunger zugeschrieben - außerdem sei in der Wohnung ja auch weitaus Merkwürdigeres geschehen als dieses bisschen väterliche Zeitungsnaschen. Doch eines Nachts, als Seeliger vor Hunger wieder nicht habe schlafen können, habe er das elterliche Verbot, die Küche nachts aufzusuchen, umgangen in der - natürlich sinnlosen - Hoffnung, etwas Essbares zu finden - manchmal geschehe doch noch ein Wunder, habe er sich immer wieder auf seinem Weg in die Küche gesagt, was natürlich eine glatte Lüge sei, zumindest im Seeligerschen Haushalt, doch Kinder seien ja bekanntermaßen dumm und wundergläubig - jetzt habe er den Faden verloren …
Von seiner nächtlichen Küchenexpedition aus Hungergründen habe er berichten wollen, sagte die Frau sachlich und schüttelte den von der vielen Raucherei etwas verkokelten Kopf über soviel Vergesslichkeit seeligerseits.
“Ach ja, richtig“, fand dieser in seine Kindheitserzählung zurück. Mit seiner kleinen Taschenlampe habe er sich in jener Nacht den Weg in die Küche erleuchtet. Nachdem er mit seinem kleinen Lichtkegel sämtliche Regale und Schubladen der Küche ausgeleuchtet und deren Inhaltslosigkeit, von Zeitungen einmal abgesehen, aus vor Hunger halb erblindeten Augen eingesehen habe und anschließend noch die sogenannte Vorratskammer erfolglos mit seinem gierigen Lichtschweif durchkämmt habe, habe er plötzlich Fress- und Schling- und Mampfgeräusche aus Richtung des Seeligerschen Hauptkühlschranks gehört, den zu erforschen Seeliger sich längst nicht mehr die Mühe gemacht habe, seitdem das Gerät zum Hauptsitz der väterlichen Zeitungsunterbringung avanciert wurde.
Das sei spannend, sagte die Alte, wer denn da so hemmungslos herumgefressen habe in der nächtlichen Küche, vermutlich der Vater.
Eines nach dem andern, wies Seeliger die Alte zurecht, ob sie in ihrem Alter nicht geduldiger sein und warten könne, soviel Zeit müsse sein; Vater Seeligers Ende, das mit dem Zeitungsessen begonnen habe, verdiene eine ungekürzte Besprechung.
Sie sei vielleicht gar nicht so alt wie er annehme, gab die Frau zurück.
Wie sie dann von den glücklichen Vierzigern habe schwärmen können, wollte Seeliger wissen.
Gut möglich, dass ihr von den Vierzigern nur geträumt habe, sagte die Frau, gut möglich, dass sie kaum älter als Seeliger sei, eine Geburtsurkunde habe sie nicht, das sei in ihrer Sippe unüblich. Was er denn nun getan habe, als er die Fressgeräusche gehört habe und wer der nächtliche Fresser in der Küche gewesen sei, wenn nicht der Vater - übrigens, für das bisschen Geld und Champagner höre sie Seeliger bereits viel zu lange zu, ob er, Seeliger, etwa Zeit verplempern wolle, die könne er mit seinen Proletenschülern und unverständlichen Büchern verplempern aber nicht mit ihr, sie sei zeitlebens eine Macherin gewesen und habe viel wichtigeres zu tun, man erwarte sie.
Seeliger zog sich einen Schnallenschuh aus und stopfte den fetten gichtgeplagten Fuß der Alten hinein, nicht ohne zu bemerken, das dies echtes Gold und der Schuh eines Napoleons würdig sei.
Er könne weiter erzählen, gab die Alte zu und blickte geschmeichelt auf ihr neues Schuhwerk.
Wie vom Blitz getroffen sei er in der von Schlinggeräuschen erfüllten Küche stehengeblieben, sagte Seeliger, habe die Taschenlampe ausgeknipst und sämtliche Bewegungen seines Körpers angehalten, was ihm bei seiner Kraftlosigkeit nicht weiter schwer gefallen sei, und habe sich dann, einer tierischen Eingebung folgend, seiner Umgebung angepasst. An halbverhungerten Menschen bilde sich immer dieses chamäleonartige Talent heraus, das Talent, sich bei Witterung von Gefahr augenblicklich mit seinem Umfeld und den darin umherstehenden Gegenständen gemein zu machen und deren Ausdruck zu übernehmen; Seeliger sei unmittelbar bei einem großen Besen gestanden und augenblicklich zum Besen erstarrt.
Seeliger und die Alte schlossen nun ihre drei Augen und rauchten einander glücklich zu, bevor die Alte wissen wollte, wen oder was Seeliger, der ja buchstäblich zum Besen erstarrt sei, dann am Hauptkühlschrank gesehen habe, wenn nicht den Vater.
Nun, sagte Seeliger, er habe einen Schwarm Glühwürmchen gesehen, das sich durch das dunkle Dickicht des väterlichen Papierdschungels den Weg ins Freie gesucht habe.
Wen Seeliger, der Besen, dann zu sehen bekommen habe, irgendjemand müsse den Kühlschrank doch geöffnet und die Mampfgeräusche gemacht haben, wollte die Frau wissen, er solle endlich herausrücken mit der Sprache, eine derartige Zeitvergeudung sei ein Skandal.
Niemand anders als seinen Vater, sagte Seeliger, hätten die Glühwürmchen preisgegeben, da staune sie, was.
Also doch, rief die Alte wutschnaubend aus und verfiel in einen kleinen Veitstanz, der sich allerdings im Sitzen abspielte; sie habe gewusst, dass der nächtliche Fresser niemand anders als Vater Seeliger habe sein können, die ganze Zeit über habe sie das gewusst, schrie sie und verrenkte ihre Gliedmaßen dergestalt, dass Seeliger am Ende nicht mehr wusste, wo oben und wo unten an der Frau war und er auch nicht mehr sicher sein konnte, was ihn da augenblicklich voller Empörung anschrie und sich in dem Vorwurf erging, es sei eine Unverschämtheit, eine so alte Frau, von der man übrigens gar nicht wisse, wie alt sie denn nun eigentlich sei, so lange im Ungewissen über die Identität des nächtlichen Fressers zu lassen - und all das nur, damit sich am Ende herausstelle, dass die alte Frau, die ja vielleicht doch eher jung sei, mit ihrer Vermutung beim nächtlichen Fresser handele es sich um Vater Seeliger von allem Anfang an richtig gelegen habe.
Seeliger fand, es sei unter seiner Würde in etwas hineinzuantworten, über dessen eigentliche Bestimmung man nicht im Klaren sein konnte und wartete seine Chance ab - die sich auch kurz darauf ergab, als Seeliger das linke Ohr der Alten in Kniehöhe erblickte und an diesem letzten Ohr, das sich als viel reißfester als das rechte herausstellte, solange zerrte, bis der gesamte Kopf der Alten wieder zum Vorschein kam und sich an angestammter und antwortwürdiger Stelle und somit auf Augenhöhe Seeligers befand.
Wenn er, Seeliger, der ehemalige Profitennisspieler, eine sportliche Brücke schlage oder den Limbo tanze, sei das eine Sache, sagte Seeliger, wenn hingegen sie, eine alte Frau und Großmutter vieler Enkel, die buchstäblich aus dem letzten Loch pfeife, sich in artistischen Bravourstücken ergehe, eine andere, eine lächerliche und unschöne Sache. Sie solle sich schämen, am liebsten würde er ihr wieder alles Geld und auch den Ring und die Schuhe abnehmen, für ein solches Betragen habe er nicht viel übrig.
Das Geld bekomme er auf keinen Fall zurück und alles andere auch nicht; dieser tadelnde Gymnasiallehrerton würde bei ihr nicht verfangen, gab die Alte laut auflachend zurück, damit könne er seine Schüler beeindrucken, aber nicht sie, eine stolze Roma-Angehörige, die vielleicht die Vierziger überlebt und noch echte Männer kennengelernt habe.
Seeliger schmollte ein wenig und sah gekränkt in den Himmel auf, der längst kein Himmel mehr war, und aß aus lauter Überdruss eine Zigarette auf, oder auch nicht.
Ob er, Seeliger, das Chamäleon, der Verstecker, der Schisser, sich gleich in eine beleidigte Leberwurst verwandle, höhnte die Frau noch und griff sich in einer aufwendigen Kontrollaktion mit den Händen und Füßen gleichzeitig an alle Körperstellen, wo sie die Seeligerschen Gelder und Wertgegenstände im Laufe des ständigen Umverteilungsprozesses verbracht hatte, um sich ihres momentanen Wertes zu vergewissern.
Der silberne Ring, um nur ein Beispiel ihrer Kunstfertigkeit zu nennen, stak längst nicht mehr am großen Zeh ihres Fußes, sondern war mittels einer kleinen Operation irgendwo in ihren Oberkörper einverleibt worden - immer wieder war die Frau mit ihrem Butterfly Messer (ein Geschenk Ringos) und einer Nähnadel mit Bindfaden, den sie unerschöpflich aus ihrem Handballen spulen konnte, zugange -, wo genau der Ring augenblicklich saß, war schwer zu sagen, da die Alte wie eine Trickspielerin das Seeligersche Auge täuschen und sich körperlich unendlich umbauen konnte.
Seeliger beglückwünschte die Frau ob ihrer chirurgischen Kunstfertigkeit die ihr sicher sehr dienlich sei und für Sicherheit in einer sonst eher unsicheren Welt sorge; übrigens könne man sich wieder versöhnen, das Geld und alles andere auch sei ihres und wenn sie sich noch ein wenig gedulden könne, würde ihr endlich auch der große Geldbündel zufallen, den herumzuschleppen er ohnehin leid sei, worauf die Alte erwiderte, sie sei ganz seiner Meinung und ein großes Lob auf die Vernunft aussprach und Seeliger endlich dazu antrieb, mit Vater Seeligers Ende fortzufahren: sie sei gespannt, was sich aus der nächtlichen Küchenbegegnung zwischen Vater und Sohn ergeben habe - Hunger mache die Menschen zu Tieren, da rede sie aus Erfahrung, das rieche nach Mord und Todschlag und dafür habe sie eine Schwäche.
Also berichtete Seeliger, beglückt über das Interesse der Alten, aufgeregt davon, wie er Vater Seeliger dabei beobachtet habe, wie sich dieser in einem regelrechten Anfall von Esswut über seine gut gekühlten Zeitungen hergemacht, dabei laut geschmatzt und immer wieder aus einer Flasche abgestandenen Apfelmost, der längst nach Essig roch, nachgetrunken, laut aufgestoßen und seinem arbeitenden Verdauungstrakt hinterher gelauscht habe, dann befriedigt mit seltsam schief nach innen gestellten Augen in sich hineingelächelt und sich schließlich nach geflüsterten Freudenausrufen wieder dem Zeitungsessen und dem anschließenden Apfelmosttrinken hingegeben habe.
Offenbar sei Vater Seeliger ein seltsamer aber keineswegs unsympathischer Mann gewesen, bemerkte die Frau.
Seeliger überging diese Bemerkung und sah der Alten dabei zu, wie sie vom kaputten Flaschenhals einer seiner Champagnerflaschen trank, die überbleibenden Scherben langsam zerkaute und zum Mund herausblutete.
Was Vater Seeliger in seiner zeitungsfreien Zeit eigentlich gearbeitet habe, wollte die Frau dann wissen, gähnte, warf die leere Flasche nach einem vorbeihoppelnden Eichhörnchen und kratzte sich gemächlich den erstaunlich schnell geronnenen Blutbart von Kinn und Oberlippe.
Auch diese Frage überging Seeliger, öffnete eine weitere Flasche Champagner und trank soviel er konnte, bevor er sich nach einer weiteren kleinen Rauferei champagnerlos neben der glücklich trinkenden Alten wiederfand, die ihn streng dazu aufforderte, endlich weiterzuerzählen.
Dieses Papieressen und das anschließende Apfelmosttrinken, berichtete Seeliger, und auch das Magen-Darm-Trakt-Hinterherlauschen und das abschließende Freudengeflüster habe der Vater nach und nach beschleunigt, bis Seeliger mit seinen beobachtenden Hungeraugen kaum noch mitgekommen sei: mal sei der Vater am Papier, dann wieder am Apfelmost gewesen und schon sei er wieder am Papier gewesen, der Vater, und in Seeligers viel zu langsam hörenden Hungerohren sei das schauerliche Freudengeflüster des Vaters erklungen, obwohl dieser längst wieder am Papier gewesen sei, was Seeliger aber wegen seines chronischen Konzentrationsmangels und seiner der Wirklichkeit nachhinkenden Sinneswahrnehmung - auch das eine Folge des mütterlichen Unterernährungsprogramms - verpasst habe.
Als Seeliger gesehen habe, wie der Vater, der sich offenbar nicht mehr damit habe zufrieden geben wollen, den Kopf in den Kühlschrank zu stecken und den papieren Innenraum wild auszufressen, ganz in den Kühlschrank eingestiegen sei und dann die Tür desselben hinter sich geschlossen habe, um schließlich darin zu verschwinden, habe Seeliger seinen Augen nicht mehr trauen wollen.
Was er danach gemacht habe, wollte die Alte wissen.
Seeliger schmunzelte und genierte sich ein wenig auszupacken, doch nach einigem Zusprechen oder vielmehr Zurülpsen von Seiten der Alten ließ er sich dazu herbei, einzugestehen, dass er, von seiner Schreckensstarre erlöst, schnell zum Kühlschrank gerannt sei und den Vater in denselbigen eingesperrt habe, indem er den Türgriff mit Hilfe des Toasters abgeschlagen habe.
Soviel Kraft hätte sie ihm gar nicht zugetraut, bemerkte die Frau und sah unschuldig auf ihren neuen Schuh, der mittlerweile vergilbt und gar nicht mehr golden aussah.
Ein Mitesser weniger habe er sich gedacht und die knochigen Hände aneinandergerieben, sagte Seeliger, was eher wie Zähneknirschen als wie die Zufriedenheit über das Gelingen eines Plans geklungen habe, aber genau das habe vorstellen wollen: Seeligers Zufriedenheit, nämlich darüber, einen Konkurrenten ausgeschaltet und somit seine eigenen Überlebenschancen im Seeligerschen Konzentrationslager erhöht zu haben.
Er trage also die Schuld an des Vaters Tod, wollte die Frau wissen, ob sie das richtig verstanden habe.
Nein, nein, rief Seeliger, er sei kein gemeiner Vatermörder, der Plan sei leider nicht aufgegangen, der Vater habe bereits am nächsten Morgen wieder am leeren Frühstückstisch gesessen und außer einer kleinen Verkühlung habe man nichts Ungewöhnliches an ihm feststellen können - er, Seeliger, habe zunächst nicht begreifen können, wie der Mann seinem Kühlgefängnis entronnen sein mochte, bis ein Blick zum Seeligerschen Hauptkühlschrank ihn aus seiner Begriffsstutzigkeit erlöst habe.
Was mit dem Kühlschrank los gewesen sei, rief die Frau, sein so ewiges wie plötzliches Verstummen bringe sie noch zur Weißglut, es fehle nur wenig und sie würde fuchsteufelswild.
Woher sie, eine unbelesene Roma-Angehörige, eigentlich so alte Worte wie fuchsteufelswild kenne, das müsse er jetzt doch einmal wissen, nicht, dass es ihn wirklich interessierte, aber in seiner Funktion als Germanist müsse er diesem Phänomen einmal auf den Grund gehen.
Warum er bloß so aufgebracht sei, wollte die Alte wissen und versuchte abermals mit der Zunge zu schnalzen, vergeblich, der Lappen klebte fest. Sie rede annähernd zwölf Sprachen, das sei doch nicht weiter bemerkenswert, sagte sie dann, griff drei neue Flaschen aus dem Sack und nahm mit den Worten das Leben sei kurz eine gründliche Champagnerdusche.
Wie das, rief Seeliger und schäumte ein wenig zum Mund heraus, unmöglich dass sie zwölf Sprachen beherrsche.
Wie das, wie das, äffte die Frau Seeliger nach, so das, in ihrer Kindheit im Lager habe sie übrigens kleinere Manuskripte verfasst, in Mandarin, aus reiner Langeweile habe sie das getan, selbstverständlich habe das keiner der Insassen weiter beachtet und einen Verleger habe sie dort schon gar nicht finden können.
Ob das Weltliteratur gewesen sei, was sie auf Hochchinesisch geschrieben habe, wollte Seeliger wissen und zitterte mit den ätzenden Augen.
Woher sie das wissen solle, sie wolle sich darüber kein Urteil anmaßen, außerdem sei ihr das alles sehr peinlich im nachhinein, da man im Lager mit weitaus wichtigeren Dingen als der Lektüre von den Manuskripten eines gelangweilten Zigeunerkindes beschäftigt gewesen sei, lebenswichtigen, nein, überlebenswichtigen Dingen, falls Seeliger in seiner literarischen Verblasenheit wüsste, was das sei.
Sicher handele es sich dabei um Weltliteratur, rief Seeliger begeistert aus und umarmte die Frau und kaute ein wenig an ihrem seeligerresistenten Ohr, so also schmecke echtes Genie - wer im Lager gewesen sei, könne gar nicht anders, der müsse Weltliteratur schreiben, das sei unbedingt so.
Vielleicht, vielleicht auch nicht, sagte die Frau, das werde man nie wissen, da sie den ganzen Kokolores auf drei Rollen Klopapier niedergeschrieben und ein Aufseher die Rollen irgendwann gefunden und sie schließlich ihrem eigentlichen Verwendungszwecke zugeführt hätte, wenn Seeliger verstehe.
Oh, rief Seeliger aus, und ob er verstehe, Weltliteratur auf die man buchstäblich geschissen habe, das sei heute auch nicht viel anders, sein eigenes Los sei kein anderes Los.
Wie dem auch sein möge, sagte die Frau und zog ein wenig Bindfaden nach. Übrigens sei sie ja gar nicht im Lager gewesen, sagte die Frau, vielleicht sei sie nicht einmal eine Zigeunerin, wer so etwas schon wissen könne, sie nicht.
Wie das, rief Seeliger aus, einmal sei sie im Lager gewesen, dann wieder nicht, einmal sei sie eine Zigeunerin, dann wieder nicht, wer sich da noch auskennen solle; ob sie tatsächlich eine Lagerkindheit gehabt habe oder nicht, wollte Seeliger nun wissen, er müsse auf eine klare Antwort bestehen, davon hänge vieles, ja davon hänge alles Weltliteratur betreffende überhaupt ab.
Vielleicht, vielleicht auch nicht, sagte die Frau, vielleicht sei sie im Lager gewesen, vielleicht aber auch nicht, vielleicht habe sie das alles bloß geträumt oder jemand anders sei im Lager gewesen und habe ihr davon erzählt und sie habe das in ihre eigene Erinnerung eingesponnen, schließlich seien Autobiographien doch immer unglaubwürdig, was er, Seeliger der Weltliterat, sich nun wirklich hätte denken können. Was er denn an jenem Morgen, als Vater Seeliger, der Ausbrecher, etwas verkühlt aber gesund am leeren Frühstückstisch bei der Familie gesessen habe, nun eigentlich entdeckt habe, als sein Blick zum Kühlschrank geschweift sei.
Nun, sagte Seeliger, er habe feststellen müssen, dass die Kühlschranktür eine kürbisgroße Öffnung aufwies: offenbar habe Vater Seeliger sich, nachdem er den Kühlschrank vollends zeitungsfrei gegessen, den Weg hinaus frei gebissen, soviel Energie habe er seinem Vater gar nicht zugetraut, noch heute hege er, Seeliger, den Verdacht, dass der Mensch sich zuweilen außerhalb in aller Heimlichkeit mit Kalorien versorgt habe, was die Mutter natürlich niemals habe wissen dürfen, denn ein solches Fremdessen sei ihr zeitlebens wie Hochverrat vorgekommen.
Ob der Vater ihn, Seeliger, für die nächtliche Einsperrung bestraft habe, wollte die Frau wissen.
Nein, als sie gemeinsam am Frühstückstisch gesessen und alle einander wie jeden Morgen angestarrt hätten, habe der Vater das Wegsperren nicht einmal erwähnt und ihn, Seeliger, lediglich in die Vorratskammer geschickt, er solle nachsehen, ob sich darin etwas zum Essen fände, was in gewissem Sinne auch eine Strafe gewesen sei, nicht umsonst habe sich die Vorratskammer unter den Kindern den Namen Folterkammer eingehandelt.
Warum das, wollte die Frau wissen, das müsse sie unbedingt wissen.
Nun, sagte Seeliger, in normalen Speiskammern hingen Schinken, Würste und Speck an der Decke, das habe er als Kind im Fernseher gesehen und immer davon geträumt, eines Tages so einen paradiesischen Raum zu betreten; eine normale Vorratskammer verspreche die Stillung von Hungergelüsten, in der Seeligerschen Kammer seien den Kindern aber lediglich beflügelte Kakerlaken entgegengefallen, auch seien er und seine Brüder dort immer wieder von halbverhungerten Ratten angefressen worden, deshalb der Name Folterkammer, sie verstehe. An jenem Morgen, als der hinterhältige Vater ihn zur Strafe in die dunkle Folterkammer geschickt habe, habe dem Kind Seeliger dort eine knöcherne Fledermaus aufgelauert und sei ihm kreischend mitten in das Kinderhaar geflattert, wo sie sich auf unheilvolle Weise für volle vier Tage festgesetzt und alles Blut aus Seeligers Kopf gesogen habe, bis sie überfressen und zu Tode erschöpft - offenbar vertrug sie das Seeligersche Blut nicht gut - mitten auf den leeren Frühstückstisch gefallen sei und dort beim Anblick der gefährlichen Knopfaugen hungriger Seeligerkinder, die zu allem bereit gewesen seien, einen epileptischen Angstanfall aufgeführt habe - die Alte könne sich vorstellen, was der Anblick dieser tierischen Proteine für ein Gezerre auf Leben und Tod unter den Brüdern ausgelöst habe, sagte Seeliger und blickte mit seinem Blut tränenden Auge bedeutsam durch die Flasche, brüderliches Teilen sehe anders aus; er, Seeliger, der Wirt der Fledermaus, habe trotz seiner Blutarmut am schnellsten reagiert und gleich nach dem Messer gegriffen; immerhin habe er den Rumpf des Tieres, sozusagen das Filetstück der Fledermaus ergattert und sei unter Freudengeheul auf sein Zimmer gelaufen, wo er sich für eine lange Zeit verbarrikadiert habe; immer wieder seien die Brüder gegen seine Zimmertür angerannt, konnten allerdings nicht viel ausrichten und Seeliger, der auf den brüderlichen Kräfteverfall spekulierte, sei angstfrei und seelenruhig in seinem Bett sitzen geblieben und habe das Rattenfleisch in kleine Rationen portioniert und den Verzehr auf achtzehn Tage gretschen können; Überlebensprofi der er sei, habe er die überbleibenden Knochen nicht fortgeworfen, sondern auch von diesen noch einige Wochen zehren können: wie ein königlicher Hund habe er diese Zeit in seinem Zimmer, dessen Tür den brüderlichen Angriffen wie ein Festungstor standgehalten habe, verlebt und an den Knochen genagt und gelutscht, ganz ohne Gewissensbisse (gegenüber den Brüdern), schließlich sei es ja sein eigener Kopf gewesen, der volle vier Tage als Wirt für die Fledermaus habe herhalten müssen und den Parasiten mit Seeligerschem Blut soweit aufgepäppelt habe, dass am Ende dieses kleine Fest, dieser mehrwöchige Rattenfleischschmaus, der ein absoluter Höhepunkt seiner deprimierenden Kindheit gewesen sei, zustande gekommen sei.

Ob er, Seeliger, und seine Brüder denn nicht auf die Strassen gegangen seien, um sich dort nach Essbarem umzusehen, im Krieg, den sie vielleicht miterlebt habe, sei das so üblich gewesen.
Sie habe nicht aufgepasst, tadelte Seeliger die Frau, abgesehen davon, dass er und seine Brüder viel zu schwach und langsam für die Jagd auf offener Strasse gewesen seien, sei Fremdessen in ihrer Familie ja undenkbar gewesen, wie er bereits vorher erwähnt habe: Mutter Seeliger hätte ein solches unsportliches Verhalten mit dem absoluten Entzug bestraft, ausgetrocknetem Knäckebrot und Wasser, das es ja immerhin noch täglich gegeben habe, hätten die Kinder dann Lebewohl sagen können - das Risiko wäre zu groß gewesen, auch Kinder hätten lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach, wenn sie verstehe, wovon er ausgehe, da sie ja etwas übrig habe für deutsche Sprichworte. Die aus heiterem Himmel gefallene Fledermaus sei also ein Glücksfall gewesen. Ob sie mittlerweile wisse, wo er sich versteckt gehalten habe in seiner Kindheit, wollte Seeliger von der Alten noch wissen.
Und ob sie das wisse, rief die Alte jubilierend aus, er, Seeliger, habe sich selbstverständlich unter einem der zahllosen Zeitungsberge versteckt.
Den Gedanken habe er zwar durchaus einmal gefasst, sagte Seeliger gelassen, dann aber nicht umgesetzt, da ihn sein ständiges Nasenbluten sicher verraten hätte. So dick und undurchlässig das väterliche Zeitungsgebirge auch gewesen sein mochte, gegen sein sprudelndes Nasenbluten wäre auch diese über vierzig Jahre zusammengetragene Nachrichtenballung aus Politik und Wirtschaft machtlos gewesen: das Seeligersche Nasenblut hätte unweigerlich durch das Papier sickern müssen, und rote Zeitungen an Stelle schwarzweißer Zeitungen hätte selbst seiner farbenblinden Familie, die ja übrigens gar nicht nach ihm gesucht hätte, auffallen müssen.
Wo er sich denn nun verdammt noch mal versteckt gehalten habe seine ganze nasen- und ohrenblutende Kindheit hindurch, sprach die Frau und drohte Seliger mit der Faust.
Wenn sie ihm besser zugehört hätte, sagte Seeliger, wüsste sie ja längst, wo er sich versteckt gehalten habe.
Wo, schrie die Frau und drohte nun nicht mehr Seeliger allein mit der Faust, sondern dem ganzen Himmel und erlitt dabei einen furchterregenden Wonneanfall, der sich einzig darin von einem altersepileptischen Anfall unterschied, das die schleimigen Fäden, die ihr aus dem Unterleib erwuchsen und auf die Seeliger, durch die hölzernen Bankritzen schielend, immer wieder ein Auge hatte, sich soweit verdickten, dass man meinen konnte, der Alten fielen kleine klebrige Kokons aus dem Schoß. Seeliger war das nicht ganz geheuer - weiß der Teufel, was die Alte da ausbrütete!, dachte er - und sann auf einen Weg, dieses Gespräch sobald als möglich abzubrechen.
Wo, wo, äffte er die Alte, die gerade aus ihrem kosmologischen Altersorgasmus zurückkehrte und eine Art unheilvoller Selbstbefruchtung durchgemacht hatte und gehörig verklärt und entsprechend dumm drein sah, jetzt gehässig nach und schlug ihr mit der Handkante vor die durchlöcherte Nase. Hinter seinen Tier- und Gegenstandsverkörperungen habe er sich verschanzt und sei dadurch unauffindbar geworden, wo denn sonst. Er habe sich nicht unter den Zeitungen verstecken müssen, nein, da unterschätze sie ihn aber gewaltig; er sei selber zu einer Zeitung geworden. Einmal habe sein Vater das kindliche Leichtgewicht in die Hand genommen und buchstäblich durchgeblättert ohne das geringste von des Sohnes Tarnung bemerkt zu haben, so weit hatte das Kind Seeliger es in der Verstellungskunst gebracht. Als der Vater jedoch anfing seine Blättersammlung nach und nach zu verspeisen, habe er, als Seeliger wieder einmal die Zeitung mimte, dem armen Jungen in einer unfreiwilligen Anwandlung von Kannibalismus in den kleinen Finger gebissen, und daraufhin sei die Zeitung weggerannt. Diese weglaufende Zeitung habe sein Vater niemals ganz verkraften und schon gar nicht verstehen können, sagte Seeliger, worauf er kurz darauf auch gestorben sei, jedoch nicht ohne vorher die gesamte Wohnung zeitungsleer zu essen. Seine Mutter habe am Tage der Beerdigung mit einem Auge den Tod des Vaters beweint und mit dem andern Auge die neu erlangte Zeitungsfreiheit beweint, jedoch mit Freudentränen, was den Kondolierenden allerdings nicht weiter aufgefallen sei.
Seeliger wisse noch, wie glücklich und friedlich seine Mutter an jenem ersten vaterfreien Abend ausgesehen habe, wo sie sich endlich wieder mit einer richtigen Decke habe zudecken können und nicht mit der Kuba- oder irgendeiner Ölkrise, oder dem Attentat auf Papst Johannes Paul II., oder mit der Hinrichtung des Ehepaars Ceausescu oder anderen Jahrhundertverbrechern ins Bett habe gehen müssen.
Zur Feier des Tages kochte sie an jenem Abend gar eine kleine Tomatensuppe und hielt eine Rede des Inhalts, dass in ihrem Haushalt Kannibalismus nunmehr strikt verboten sei und mit Nahrungsentzug fürderhin bestraft würde - ein solcher Atavismus sei ihr ganz unverständlich, es sei immer mehr als genug Essen vorrätig gewesen in Mutter Seeligers Haushalt, sie sehe keinen Grund dafür, dass sich die Söhne nachts mitunter aus heiterem Himmel anfielen und einander anknabberten - ob ihre Herren Söhne sich nicht wie andere Kinder auch einfach nur raufen könnten, ohne einander gleich an- oder gar auffressen zu müssen, wollte die Mutter wissen und blickte ihre Kinder aus einem vorwurfsvollen Auge an, wobei das andere noch immer in die Freude über das bevorstehende Schlafen mit Bettdecke versunken war - auch mahnte sie in ihrer Kinderansprache zur Vernunft im Allgemeinen, man müsse wieder zur Schule gehen und dürfe sich nicht so gehen lassen, den ganzen Tag nur in der Ecke zu sitzen und zu lamentieren, sei ein Kindern unwürdiges Verhalten, schließlich sei man hier doch nicht in Afrika; auch das Tennisspiel müsse man unbedingt wieder aufnehmen, sagte die Mutter abschließend und wischte liebevoll mit einem Handballen eine silbergrüne Fliege fort, die auf Seeligers eingefallener Wange spazieren ging, es sei doch eine Schande, dass man sein Talent derart verkommen lasse.
Warum der Vater vor seinem Tode unbedingt seine vierzigjährige Zeitungssammlung habe aufessen müssen, wollte die alte Frau auf der Parkbank wissen.
Auch das läge ja klar auf der Hand, mit Deutschlands Rentnern gehe es intellektuell wohl stark bergab, sagte Seeliger und blickte nun dermaßen arrogant drein, dass sich seine verätzte Nase bis in den Haaransatz der Perücke hoch kräuselte. Der Vater habe sich vor dem Tod die Zeitungen einverleiben müssen, um alle Informationen auf die bevorstehende Todesreise mitzunehmen, das sei doch klar; und welche bessere Weise gebe es, sich Zeitungen einzuverleiben, als wenn man sie kurzerhand aufesse. Dasselbe gelte für Bücher, für Schmuck, für Gold, für Geld und so weiter. Warum sollte man der Nachwelt auch etwas zurücklassen. In anderen Kulturen, habe er einmal gelesen, äßen verwitwete Frauen ihre toten Ehemänner gleich nach dem Exitus auf, bevor sie sich dann selber umbrächten, so stark sei die Liebe der Frauen dort, das müsse man sich einmal vorstellen - dass Frauen nach dem Tod ihres Mannes schamlos jahrelang weiterlebten und gelangweilt und geil in Parkanlagen herumsäßen und schleimige Eier legten und bescheuerte Fragen stellten, sei in jenen Kulturen undenkbar.
Ob Seeliger sich auf seiner Versteckreise ausschließlich in Hunde, Kröten oder Zeitungen verwandelt habe, wollte die Alte wissen und bedankte sich bei Seeliger, der ihr gerade einen ineinander gekeilten Strang Kakerlaken aus dem Ohr zog.
Nein, nein, alles mögliche sei ihm da untergekommen, die Seeligersche Mimese sei grenzenlos, sagte Seeliger, der nun die mit graugelbem Ohrschmalz panierte Kakerlakenkette auseinanderschlug und die kleinen Tiere dann eines nach dem andern durch die Bankritze mitten unter die von der Alten abgeseilten Kokons, die sich förmlich zu einer brodelnden und knackenden Eierkolonie zusammengerottet hatten, fallen ließ, um zu sehen, was daraus würde: Tatsächlich kam eine Ratte mit einem halb abgebrochenem Vorderzahn zum Tatort herbeigelaufen, wo sie sich sogleich an den aufplatzenden Eiern zu schaffen machte und eine Art Kegelspiel mit den Eiern veranstaltete, wobei sie gegen diese wie wild mit dem harten Rattenkopf ankegelte und die Dinger zum Platzen brachte.
Einmal habe er sich den Spaß geleistet, sagte Seeliger, den die tierische Kakophonie unterhalb der Bank geradezu berauschte, sich dem Seeligerschen Hauptkühlschrank anzugleichen - das sei gewesen, noch bevor Vater Seeliger den Kühlschrank zum Kühlen seiner zum Verspeisen erwählten Zeitungen umgedacht hatte. Da hätten ihn seine zwei Brüder im Fünfminutentakt immer wieder aufgemacht, mit gierigen und ausgehungerten Blicken durchforscht und dann wieder enttäuscht zugeworfen.
Seeliger bemerkte, dass es unter ihm verdächtig ruhig geworden war und blickte besorgt durch die Bankritze: zu seinem Erstaunen war in der dortigen Eierkolonie ein gefährlicher Schimmel ausgebrochen - die Ratte, die bewegungslos zwischen den Eierschalen lag und den blutig gerammten Kopf zwischen den zitternden Vorderläufen einklemmte, war dem Schimmelmassaker offenbar unterlegen und schien, den halben Zahn immer wieder in die Erde schlagend, um ein schnelles Ende zu beten.
Wieder zog Seeliger das Geldbündel aus seiner Jackettasche hervor und blätterte das Bündel spielerisch durch. Die Frau, der braunes Wasser zum Munde herauslief, sagte, sie habe sich das Recht auf eine weitere Vorschusszahlung verdient, und streckte den geöffneten Handteller aus. Seeliger lächelte und sagte, die Frau könne jetzt gleich alles Geld haben, wenn sie …
Um so besser, unterbrach ihn die Alte und griff nach dem Geldbündel in Seeligers Hand, doch der ließ nicht locker und nach einem Gezerre hielt die Frau die eine abgerissene Hälfte des Bündels in Händen und Seeliger die andere. Wenn sie die andere Hälfte des Geldes haben wolle, dann müsse sie noch eine Kleinigkeit für ihn erledigen, sagte Seeliger und nestelte einen kleinen Revolver aus seinem Hosenbund hervor.
Was sie damit anstellen solle, wollte die Frau wissen.
Ihn erschießen, sagte Seeliger, am besten durch Headshot, falls sie wisse, was das sei.
Natürlich wisse sie das, sagte die Alte und drückte Seeligers Gurgel mit zwei Fingern zu, während sie eine neue Flasche Champagner aus dem Proviantsack griff und diese an der Parkbanklehne köpfte, um sich den Flaschenhals einzuführen, diesmal bis tief in den Rachen hinein. Die ganze Frau gluckerte jetzt wie eine Zapfsäule, was sie aber nicht davon abhielt, Seeliger per Bauchrede davon zu unterrichten, dass ihre Enkel, die ja allesamt, wie es sich für Zigeuner gehöre, Untermenschen seien und deshalb weder zur Schule gingen noch arbeiteten, den ganzen Tag diese kriegerischen Computerspiele spielten, wo sogenannte Headshots besonders viele Punkte einbrächten.
World of Warcraft?, wollte Seeliger von der sich weiter abfüllenden Frau wissen.
Genau, sagte die Alte in die Flasche.
Zwei?
Drei natürlich, was sonst, Cataclysm, kam es dumpf durch den Flaschenboden.
Seeliger sagte, die Trinktechnik der Alten sei der Technik eines Trompetenspielers nicht unähnlich, das sei erstaunlich; wo sie eigentlich das Bauchreden erlernt habe, wollte Seeliger noch wissen.
Berufsgeheimnis, tönte es durch das Glas, übrigens seien Zigeuner ja allesamt sehr musikalisch und das Bauchreden …
Natürlich sei das interessant und so weiter und auch freue es ihn, dass er auf eine ebenso verständige wie talentierte Frau getroffen sei, sagte Seeliger und wollte wissen, ob man jetzt dennoch endlich anfangen könne.
Womit, wollte die Frau wissen.
Mit seiner Hinrichtung, womit denn sonst, sagte Seeliger, am besten sei, sie stehe auf und schieße ihm aus drei Schritt Entfernung in den Kopf, nur ungern würde er sein eigenes Blut und Hirn am Körper der Alten wissen; auch sei das alles aus der Entfernung weniger erschütternd für die Frau.
Er brauche sich nicht ihren Kopf zu zerbrechen, sagte die Alte, erschüttern könne sie nichts mehr und schon gar nicht das Austeilen eines läppischen Kopfschusses, mit derartigen Schüssen habe man in den frühen Vierzigern den Großteil ihrer Sippe kaltgemacht, das sei Alltag gewesen - sie selber habe nur wie durch ein Wunder überlebt, wozu dieses Wie-durch-ein-Wunder-Überleben am Ende gut gewesen sein soll, würde sie allerdings gerne mal wissen.
Auch das sei interessant, die vierziger Jahre mit ihren täglichen Massaker sowieso, räumte Seeliger ein, dennoch solle die Frau nun bitte die drei Schritte tun und ihm endlich dieses lästige Hirn aus dem Kopf pusten - übrigens ließe sich ihr an ein Wunder grenzendes Überleben durch diese Aktion doch immerhin halbwegs begründen, schließlich könne sie seine Hinrichtung als kleine verspätete Vergeltungstat ansehen, wenn das ihre Mordlust aufpeitschen sollte, immerhin sei sein Großvater Rudolf Seeliger, Architekt und überzeugter Nazi seines Zeichens, ein richtiges Schwein gewesen, und vielleicht nicht ganz unbeteiligt am Porajmos, nein, ganz sicher nicht unbeteiligt an der Vernichtung von Roma gewesen - Südosteuropa sei sein Spezialgebiet gewesen; also, sie solle jetzt doch bitte endlich zur Tat schreiten, und ihm, Philip Seeliger, einem direkten Nachfahren Rudolf Seeligers, dem Romi-Schlächter von Belzec, die Erbschuld aus dem Kopf ballern.
Sie sei da nicht nachtragend, ganz im Gegenteil, sagte die Alte, dass sie von der nazistischen Kriminalpolizei gleich bei ihrer Geburt als Zigeunerin und somit automatisch als geborene Asoziale kategorisiert worden sei, habe auch viele Vorteile und Freiheiten in ihrem weiteren Leben mit sich gebracht - Kategorisierungen seien überhaupt eine feine Sache, da wisse man gleich, woran man ist im Leben, das vereinfache einiges; außerdem könne man heutzutage in keinem anderen Land so unbehelligt wochenlang auf einer Parkbank sitzen und schon gar nicht in einem so sauberen Park, nein, sie sei da überhaupt nicht nachtragend, die Deutschen seien letztlich gute Menschen, da könne man sagen, was man wolle - auch habe man weiter oben im Park ein Mahnmal für die ermordeten Zigeuner errichtet, das sei überhaupt einmalig in Europa, das sei Entschädigung genug und auch die Friedhöfe seien hier so sauber und …
Auch diese Auffassung sei sicherlich interessant, unterbrach Seeliger die Alte, und dass man als geborener Asozialer - so man denn überlebt - ein viel freieres Leben führe, könne er sich gut vorstellen; vielleicht hätte die Kulturpolizei ihn, Seeliger, von klein auf als geborenen Weltliteraten einstufen sollen, dann wäre ihm das Los des Unveröffentlichten erspart geblieben und so weiter, aber man habe bereits genug geschwätzt, er müsse jetzt doch zur Eile drängen, er habe schließlich auch nicht den ganzen Tag Zeit.
Ob sie ihn nicht sitzend liquidieren könne, wollte die Frau wissen, das Aufstehen falle ihr nicht mehr so leicht, weshalb sie hier auch schon seit Wochen herumsitze, auch sei ihr Treffvermögen aus der Entfernung nicht mehr das Beste, und das ganze mit nur einem Auge, das auch längst nicht mehr richtig sehen könne, er verstehe …
Nein, sagte Seeliger, die Bedingungen stelle noch immer er hier, und seine Bedingung seien drei Schritte Entfernung, erst dann der Headshot.
Ja aber …, sagte die Frau.
Ob sie das Geld verdammt noch mal haben oder nicht haben wolle, rief Seeliger dazwischen und fuchtele mit dem Revolver herum.
Aber sicher, sagte die Frau, nahm den Revolver entgegen und beeilte sich nun aufzustehen. Nachdem sie drei Schritte getan hatte, zielte sie auf Seeliger und schoss zweimal drauf los, beide Schüsse weit gefehlt; Seeliger saß unbeschädigt und unzufrieden noch immer auf der Bank und sagte, dass er eigentlich einen besonders großen also kaum zu verfehlenden Kopf habe, wie man meinen sollte; dann schlug er vor, er werde laut singen, damit die Alte, wenn sie schon nichts sehe, wenigstens heraushören könne, in welche Richtung sie schießen müsse - ihre Ohren funktionierten doch noch halbwegs, oder.
Die Alte versicherte, dass dem so sei und strich sich wie um die Qualität ihres Gehörs unter Beweis zu stellen übers linke Ohr, wobei auch die restliche Ohrmuschel noch abfiel. Übrigens sei das eine lächerliches Ding, was er ihr da in die Hand gedrückt habe, sagte sie dann und blickte abschätzig auf den kleinen Revolver, das reinste Damenspielzeug, sie bezweifle das man damit einen menschlichen Kopf und schon gar nicht einen so großen wie den Kopf Seeligers aufsprengen könne.
Sie solle sich nicht unnötig seinen Kopf zerbrechen, sagte Seeliger, sondern ihm einfach denselbigen wegschießen, die Sprengkraft reiche locker aus, das Kaliber sei größer als die Frau in ihrer Ignoranz annehme.
Die Knarren mit denen man ihrer Sippe damals in die Köpfe geschossen habe, erwiderte die Alte, seien so große Knarren gewesen, dass am Ende kein einziger Zigeunerkopf mehr auf keinem einzigen Zigeunerhals gesessen habe - ja, das seien noch richtige Knarren und richtige Zeiten gewesen, die Vierziger, richtige Männerkanonen und keine kleinen Weiberrevolver, das sei ja lächerlich, das reinste Spielzeug, aber wie dem auch sei, sie werde Seeliger jetzt in die Schläfe schießen, das sei weich dort, da werde auch eine so kleine Kugel mit etwas Glück durchschlagen; besser er schließe die Augen, das könnte sonst kitzeln, rief die Frau noch und schoss dreimal hintereinander in Richtung des singenden Seeligers, wobei nur eine einzige Kugel dessen Körper (die Wade) erreichte und die andern zwei sich irgendwo ins Gebüsch verkrochen …
Es habe keinen Sinn, sie würde nicht einmal einen Walfisch aus drei Schritt Entfernung in den Kopf treffen, rief Seeliger aus, auch sei das Ding jetzt leer geschossen und er habe kein Reservemagazin dabei, er habe gedacht, fünf Kugeln reichten für einen einfachen Kopfschuss aus, sagte Seeliger und wollte aufstehen.
Die Frau rief, er müsse unbedingt bleiben, sie werde ihn erledigen, jetzt gleich, auf der Stelle.
Wie sie das bewerkstelligen wolle ohne weitere Munition, fragte Seeliger und schüttelte hoffnungslos den Kopf.
Sie könne ihn erschlagen, wenn er wolle, sagte die Alte, er dürfe ihre Kraft nicht unterschätzen.
Er habe ihr seine Konditionen genannt, erwiderte Seeliger, Headshot aus drei Schritt Entfernung oder gar nichts.
Sie könne schnell einen ihrer nichtsnutzen Söhne heranbringen, die seien immer bewaffnet und schössen auch viel besser als ihre alte Mutter.
Seeliger sagte, das sei sehr freundlich von ihr, er habe jetzt aber wirklich keine Zeit mehr zu verlieren und müsse gehen, ein andermal vielleicht.
Was er denn jetzt mit der andern Hälfte des Geldes anstellen wolle, rief die Alte aufgeregt aus, die sei doch wertlos ohne ihre Hälfte, ob er sie nicht lieber ihr aushändigen wolle.
Nein, das wolle er auf keinen Fall tun, sagte Seeliger und ging.
 



 
Oben Unten