Im Wald

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]Im Wald


Das Leichentuch des Lichtes wird zerfallen
Aus schwarzer Fäulnis glänzt ein frischer Segen
Und aus zerscherbten Pfützen wäscht der Regen
Ein Lächeln von verschimmernden Kristallen

Die Schmelze läßt den klaren Schmerz verschwimmen
Im lauen Einerlei gelaßner Lüste
Und durch die filigranen Strauchgerüste
Löst sich ein Seufzer leiser Vogelstimmen

Dort von der Buche spiegeldunklen Häuten
Von austernrauhen Eichen und Robinien
Siehst du der Mutter perlmuttweiche Linien
In die planetenreifen Tropfen gleiten

Ihr Brunnenlied im Grabesschoß der Erde
Erfüllt die arabesken Himmelsrisse
Aromisch mit dem Trunk der Finsternisse
In Knospenmündern quillt es still Es-werde
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wow, wunder wunderschön mondnein.

Die Sprache glänzt durch Einfallsreichtum und genau dem richtigem Maß an Sanftheit, Verspieltheit und expressionistischer "Härte". Hier wird man entführt in jenen zauberhaften Wald der Wörter und der Natur. Ich liebe beides.

L.G
Patrick
 

molly

Mitglied
""Und durch die filigranen Strauchgerüste
Löst sich ein Seufzer leiser Vogelstimmen""

"Im Wald" - ein wunderschönes Lied, Mondnein.

Viele Grüße

molly
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Winterkalender

Ein ganz besonders herzliches Dankeschön Dir, Patrick, für Worte und Wertung, und auch Dir, Molly.
An der Großschreibung kann man erkennen, daß es ein altes Lied von vor über 20 Jahren ist, denn die Kleinschreibung pflege ich erst seit knapp zwei Jahren. Damals schrieb ich etwa eins pro Monat, und sieben bildeten einen "Winterkalender". Ich rücke nun noch eines ein, das den Monat davor betraf, passend zu der Schneelandschaft heute in Görlitz. (Dieser "Winterkalender" entstand allerdings in Köln).
Ist es beim ersten oder zweiten Lesen gleich klar, daß das "Leichentuch des Lichtes" eine Metapher für den Schnee ist? Würde mich interessieren.
 

molly

Mitglied
Hallo Mondnein,

für mich ist "Im Wald" ein Vorfrühlingsgedicht und bei ""Leichentuch des Lichtes" habe ich an Schnee und Frost gedacht.
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich etwas von Dir richtig verstehe. Auch alte Lieder können schön klingen.

Viele Grüße

molly
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Spitzenschleier

Der Genetiv "des Lichtes" meint sowohl, daß das Licht selbst ein Leichentuch ist, als auch, daß es ein Leichentuch für das Licht ist. In der ersten Genetivsorte ist es entweder Licht unmittelbar oder metaphorisch der Schnee; in der zweiten ist das Leichentuch der Winter, unter dessen Dunkelheit das Licht begraben ist. Vieldeutigkeit ist mir schon damals lieb gewesen, und unter den mehreren Bedeutungen natürlich die, die in sich selbst am reichhaltigsten ist - was gewiß vom Leser abhängt und von seiner Schürf-Begabung.
Hier, heute ist alles so wunderbar eingeschneit, daß die Bäume wie hochgefaltete Schleierspitze dastehn. Die Abenddämmerung ist magisch durchweißt.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein gutes Gedicht sollte immer auf mehreren Ebenen wirken,
ohne den Grundtenor zu verwischen. Das beherrschst du. Sowohl in diesem alten Werk, als auch (und vorallem) in deinen neuen Werken.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Du triffst es gut, Patrick: den "Grundtenor".
Mehrere Ebenen des Verständnisses sind so etwas wie polyphon übereinandergeschichtete oder miteinander verflochtene Melodien; es ist die quer hindurchlaufende Hauptmelodie, die von den anderen selbst durchlaufen, überkreuzt, durchquert wird. Reizvolle Harmonie-Zusammenhänge können sich ergeben, Umdeutungen, Aufschlüsse: Kontrapunkte. Der Grundton kann z.B. so anzuvisieren sein, daß eine Melodie sich ganz auf Basis der Dominante bewegt und erst im umfassenderen Zusammenhang zur "eigentlichen" Tonika hin aufgelöst wird. Und so auch die Rhythmik: Scheinbare Dreiertakte auf Vierern, oder wie in John McLaughlins "Dance of Maya": sechs scheinbare Dreiergruppen plus einer Zweiergruppe (also 18 + 2 Takte) auf einem vierfachen Fünfertakt - von der Harmonik ganz zu schweigen.
So in der Musik.
Das nun in der Sprache, ...
Das neueste von Walther hat was davon.
Und der aktuelle Meister solch einer sprachlichen Polyphonik ist (ich kann ihn nicht oft genug nennen) Jan Wagner.
 



 
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