Im Wald

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Matula

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"Ist dir klar, dass wir uns verirrt haben?" sagte sie, "Wir sind von da gekommen!" Sie zeigte an seiner Nase vorbei auf ein paar Baumstämme, die ursprünglich wohl aufgestapelt, später von höherer Gewalt getrennt und verstreut worden waren.
"Ja, ich weiß, dass wir uns verirrt haben, aber jetzt sind wir auf dem richtigen Weg," antwortete er und leuchtete mit der Taschenlampe den Abhang hinauf, wo einige zerzauste Fichten standen.
"Und siehst du die rote Markierung? Wir hätten der blauen folgen müssen. Darüber waren wir uns doch einig!"
"Ja, wir haben sie aus den Augen verloren. Das war ein Fehler. Jetzt müssen wir noch eine Weile der roten folgen, die sich irgendwo da oben wieder mit der blauen kreuzen sollte."
"Wunschdenken!" antwortete sie erbittert. "Die rote Markierung führt direkt zur Aussichtswarte, die blaue zum Kloster. Wir müssen zurück und die Abzweigung wiederfinden."
"Kommt nicht in Frage! Weißt du, wie lange wir schon unterwegs sind! Wir gehen jetzt bis zur zweiten Kreuzung und dann weiter in östlicher Richtung."

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, der kein Weg, sondern ein Querfeldaufstieg war. Mit jedem Schritt durch das nasse Laub rutschten sie ein wenig zurück, mussten nach Wurzeln, Zweigen und Ästen greifen, um sich festzuhalten. Oben die zerzausten Fichten dachten nicht daran, ihnen entgegenzukommen.

"Ich kann nicht mehr," keuchte sie und begann zu weinen. "Es hat keinen Sinn. Wenn wir es schaffen, sind wir immer noch auf dem falschen Weg. Wir müssen zurück!"
Er lehnte an einem Baumstamm und leuchtete ihr ins Gesicht. "Du solltest an deiner Kondition arbeiten."
"Und du an deinem Orientierungssinn," erwiderte sie.
"Komm, reiß dich zusammen. Es ist nicht mehr weit. Oben können wir dann entscheiden, in welche Richtung wir gehen." Er packte ihren Arm und schob sie vor sich her.

Als sie vor den Fichten standen, hatten sich die Nachtwolken verzogen und freundliches Mondlicht wies ihnen einen schmalen Weg mit einer sanften Steigung.
"Da geht's weiter," sagte sie, "ich glaube, ich kann schon das Kloster sehen."
"Nein, das ist das Knusperhäuschen, in dem die böse Hexe wartet," antwortete er. "Wir gehen entweder den Abhang hinauf zu den Buchen da oben oder über die Kurve nach rechts. Das kostet uns aber noch einmal zwanzig Minuten."

Sie stieg von einem Fuß auf den anderen, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Er blickte zu Boden und versuchte, mit der Schuhspitze ein Steinchen wegzustoßen. "Gib mir die Taschenlampe." - "Hier, aber gib Acht, die Batterien sind schon schwach." Sie drehte sich um und ging. Er sah ihr noch eine Weile nach, dann setzte er seinen Weg fort.

Nach einer halben Stunde stand er vor der Aussichtswarte. Unter dem Treppenaufgang fand er ein windstilles Plätzchen. Dort bettete er sein müdes Haupt auf den Rucksack und schlief sofort ein. Sie stapfte noch fast eine Stunde durch den Wald, ehe sie vor dem Eingang des Klosters stand. Der Pförtner war ungehalten, weil sie so spät eintraf. "Wir sind kein Hotelbetrieb," sagte er, "sie sind hier, um abzuschalten und im Einklang mit der Natur zu leben."

Am nächsten Morgen stieg er hinauf zur Aussichtsplattform, um sich aufzuwärmen. Leichter Nebel lag über dem Wald, aber in der Ferne konnte man die Ortschaft und das Bahnhofsgebäude erkennen. Er öffnete den Rucksack und betrachtete den Inhalt. Was fehlte, war nicht wert, zurückgeholt zu werden. Zum selben Zeitpunkt legte sie die Taschenlampe auf den Tresen des Pförtners. "Falls jemand danach fragt." Dann ging sie zu ihrem Wagen.

"Und so ist der nächtliche Wald der beste Ort, um in aller Stille ein Einzelner zu werden," sagte der Mann, der mir die Geschichte erzählt hatte, "man hört ganz von selbst auf, das Unvermeidliche zu bekämpfen."
 

petrasmiles

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Na ja, ganz so still war es ja nicht ... aber es hat schon was Trauriges, wenn zwei Leute, die ein Paar zu sein scheinen, im Wortsinn keinen gemeinsamen Weg finden. Im günstigsten Fall findet ein leiser Austausch statt, über die Jahre das Abtasten, was ist dir wirklich wichtig, was mir, am Ende spürt man den Kompromiss kaum noch ... und muss ihn doch täglich neu besiegeln. Sonst geht man besser seinen eigenen Weg.
Liebe Grüße
Petra
 
Eine schöne Geschichte. Ich weiß nicht ob ich sie traurig oder vielleicht doch erheiternd finde. Beide sind für sich selbst eingestanden, haben auf ihre Bedürfnisse geachtet und sind entschlossen ihren eigenen Weg gegangen. Das erfordert Mut.

"Ist dir klar, dass wir uns verirrt haben?"
Beim Überfliegen las ich mehrmals "Ist dir klar, dass wir uns verliebt haben?" und daraus wurde schnell "Ist dir klar, warum wir uns verliebt haben?"
Haben die beides es vergessen? Sind die Gründe verflogen? War er schon immer so ein Ars** zu ihr? Ich fand es nicht in Ordnung von ihm, dass er sie so grob den Berg hoch zerrte.
Nun ja, sei es drum. Nun sind sie Geschichte.
Und die Geschichte, die du aus ihrer geschrieben hast, gefällt mir gut!

LG
H
 

Matula

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Guten Abend Petra,
Kompromisse, die man nicht mehr spürt, können trügerisch sein. Erst wenn man wieder ein Einzelner ist, merkt man, wie sehr sie beengt haben. Ich glaube, dass es immer einen Moment gibt, in dem man genau spürt, was richtig ist.

Liebe Grüße,
Matula
 

Matula

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Guten Abend Hafer-Milch-Bursche,
also eigentlich wollte ich gerecht sein und keinem der beiden irgendeine Schuld zuweisen. Dass er sie vor sich herschiebt, ist doch besser, als sie am Abhang liegen zu lassen. Und sie ist ja auch ein bisschen vorwurfsvoll und klagsam. Also so gesehen ...

Danke und liebe Grüße,
Matula
 

petrasmiles

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Kompromisse, die man nicht mehr spürt, können trügerisch sein.
Grundsätzlich hast Du recht - wenn man den anderen nicht mehr wahrnimmt, sondern die Beziehung von Kompromissen gehalten wird; darum meinte ich ja, dass sie täglich neu besiegelt, also als tragfähig erachtet werden müssen.
Ich glaube, dass Menschen unterschiedlich begabt sind, diese 'wir-ich' und 'ich-ich'-Balance herzustellen und zu halten - was kein Werturteil sein soll, denn wir sind, wer wir sind und keiner ist besser, nur anders :)

Ich kann jetzt die 'Stille' besser nachvollziehen, als sei etwas Organisches passiert, kein Drama. Manchmal muss es so sein, aber trotzdem traurig.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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