I’m walking

GerRey

Mitglied
Brief an H. vom 24.05.2022


Ich versuche - sofern Schönwetter und keine lästigen Termine (ausgenommen hübsche Damen) anstehen -, jeden Tag zwei Stunden zu walken, jeweils eine Stunde morgens und abends (übrigens: danke für das positive Feedback auf das Bild “I’m walking” bei fb; immerhin! drei weibliche Likes von drei Likes überhaupt; damit gehe ich sicher als Ladykiller durch). Ich bin ja praktisch schon in der Natur, sobald ich vorm Haus die Straßenseite wechsle. Allerdings lässt es sich an diesem Punkt nicht sogleich in sie eindringen (auch mit ihr muss man zuvor flirten) - erst zwei Häuser weiter, wo die “Alte Straße” beginnt, die die Rückseite des Orts beschneidet. Auf ihrer Verlängerung, vielleicht 50 m weit, kommt man, auf rechter Hand gelegen, an den nicht sehr tiefen Bagger-Kessel, in dem der ehemalige Schotterteich liegt. In meiner Jugend war es ein beliebter Badeteich, den Leute aus ganz Wien frequentierten. Seit der Fertigstellung der Donauinsel hat sich das geändert. Heute kommen vereinzelt Leute zum Schwimmen; Liebespaare in Autos, die die nächtliche Abgelegenheit nutzen, und viele Hundebesitzer, die mit ihren Lieblingen hier ins Wasser dürfen.

Auf linker Seite geht die “Alte Straße” noch ein Stückchen weiter - bis zur Hundeschule. Dort endet der asphaltierte Teil und es geht auf Schotterpisten und Feldwegen weiter, auf denen es nur selten Verkehr gibt (außer es träfen Spaziergängerin oder Reiterin und Walker in Eintracht aufeinander). Hier hat man, Gott lob, Hinweistafeln aufgestellt, dass Hunde an der Leine zu führen sind, um Wildtiere zu schützen. Das kommt auch mir zugute, weil sich die meisten Hundebesitzer daran halten und die Hunde somit nicht mehr auf meine Stöcke losgehen können. Das einzige Manko an dieser Strecke ist, dass sie zu einem Gutteil an der Autobahn entlang führt, die, tiefer gelegen, hinter Lärmschutzwänden und Zäunen wütet, sodass einen ein ständiges Rauschen des Verkehrs begleitet.

Aber das ist verschmerzbar. Erst durch den Bau der Autobahn sind hier mehrere Schotterwege angelegt worden, sodass ich jetzt in einer moderaten Runde laufen kann, die etwa eine Stunde dauert, bis sich der Kreis schließt und ich wieder zu Hause bin. Das gefällt mir, denn es sind Felder und Wiesen, durch die ich mit meinen Stöcken stake. Allerdings sollte man feste Wanderschuhe tragen. Beim Ausschreiten spürt man sonst die Schottersteine unangenehm unter den Sohlen - wie in Laufschuhen z.B. Aber ich habe ja meine staubige “Wolfshaut”, mit der sich dieses Terrain wunderbar begehen lässt.

Der starke Duft der Holunderblüte liegt jetzt über dem Weg. Und wo es keinen Holunder gibt, wächst Lavendel, blühen Hagebuttensträucher, roter Klatschmohn, Kamille und diverse blühende Kräuter - sodass sich das Dufterlebnis über den ganzen Weg hin zieht. In den Talschatten der Bäume, zwischen denen - fast wie auf einem Waldweg - der erste Teil des Weges dahin führt, war es heute Morgen noch relativ kühl. Die Vögel zwitscherten morgendlich frisch und munter - noch war die Autobahn fern, sodass es vorerst das vorherrschende Geräusch blieb. Während ich, bewaffnet mit den Walking-Stöcken, die sich kreuzenden Wege ablief, behütet vom ur-heiligen Totem, dessen Bedeutung bis in die ersten Tage der Menschheit zurückreicht, einer im zärtlichen Liebeskampf zerrissenen Netzstrumpfhose, mit Ringmuster, deren Strumpfbein mir als Stirnband dient, begleitete mich ein orangefarbener Admiral-Falter, mit seinen eleganten schwarzen Flügelspitzen, in denen sich weiße Zeichnungen hervorheben, ein Stück des Weges an der Lärmschutzwand entlang.
Geschadet hat die Autobahn mit Sicherheit der Feldkapelle, die der Familie eines meiner ältesten Freunde gehört (sein Großvater war der letzte Bürgermeister von Süßenbrunn, bevor der Ort nach Wien eingemeindet wurde - Du erinnerst Dich an “Die Rum-Bertha”). Die Kapelle steht jetzt hart am Rand der Lärmschutzwand und bildet mit ihrer Grasnarbe, die früher zum Verweilen einlud und auf der heute noch die zwei alten Linden stehen, eine kleine Insel - die aber von heranwachsenden Sträuchern bedroht ist. Der Weg verläuft jetzt in etwa 20 m Entfernung an der Kapelle vorbei, und auf den Tag ist das Unkraut schon so hoch, dass man bis zu den Waden darin versinkt (Zeckengefahr!). Also ist es nicht so angenehm, dort zu rasten. Früher war ich gerne dort; saß auf den beiden Stufen, den Rücken gegen die eiserne Gittertür gelehnt, im Schatten der beiden Linden und las oder schrieb - im Inneren ein kleiner Altar, Heiligenbilder, angebrannte Kerzen, verdorrte Blumen in Vasen und Feldstaub. Damals war man wirklich wie auf einer Insel inmitten von Feldern, in denen das Korn in der Sonne reifte und sanft rauschte, wenn ein Luftzug darüber ging - sonst waren rundherum kaum Geräusche zu vernehmen, bis auf einen Traktor, vielleicht, der in die Felder hinaus fuhr. Es war ein Ort, an dem man Kraft tanken konnte. Aber es war auch ein Monument der Liebe, da die Erbauer oder Stifter der Kapelle es im 19 Jh. anlässlich ihrer Heirat taten - sie liegen etwa in 500 Meter Luftlinie auf dem Ortsfriedhof. Nicht von ungefähr gingen früher kirchliche Mai-Prozessionen hierher, an denen mein Freund und ich als Lautsprecherträger oder Ministranten fungierten. Diesen Zustand kann auch eine Lärmschutzwand nicht wiederbringen; diese einfache, aus dem Lauf der Zeit scheinbar herausgelöste Herrlichkeit ist Geschichte, solange die Zivilisation in der Form besteht, in der wir sie kennen. Und besteht sie einmal nicht mehr, wird es auch keinen Bedarf mehr geben, hier zu sitzen und den Schatten der Linden und die Ruhe zu genießen.

An der Feldkapelle stand ein Reh im hohen Gras und äste, als ich um die Kurve bog und den Weg herunter kam. Nachdem es meine Schritte gewahrt hatte, hüpfte es in den Schutz der Sträucher. Die Kapelle lag noch im morgendlichen Schatten, obwohl die Sonne bereits einiges über die im Hintergrund liegende Lärmschutzwand hoch gekommen war

An der Wegkreuzung, die in den Weg mündet, der hinter der Gärtnerei und dem Friedhof vorbeiführt, saßen drei Frauen und drei Männer in einem Aluminiumgestell auf vier Rädern - etwas größer als ein Tretauto für Kinder - in nebeneinanderliegenden Bahnen auf einem Feld, ein paar Meter vom Feldrain entfernt. Sie schwatzten munter in einer fremden Sprache. Einer der Männer hob freundlich die Hand zum Gruß, während er sich nach mir umdrehte (offensichtlich war es praktischer, diese bodennahen Wägelchen rückwärts zu fahren, um an dem Punkt zu halten, wo die aufkeimende Feldfrucht pflegender Hände bedurfte). - “Morgen”, grüßte ich lautstark zurück und lächelte. Die Männer und Frauen grüßten ebenso wider. Ein Mädchen grinste mich aus breiten Lippen, unter dunklen Augen und Haaren, die im Nacken gebunden waren, an. Ich nahm alles gerne mit mir und freute mich darüber.

Auf der Rückseite des Friedhofs, auf dem meine Großeltern liegen und auch ich einmal begraben sein werde, hat sich ein kleines Mohnfeld gebildet. Ich zückte mein Handy, um das Bild festzuhalten. Später einmal will ich das Motiv in einen Druckstock aus Plexiglas ritzen, um damit ein wenig zu experimentieren.

Das letzte Wegstück führt durch den Ort, am Hauptplatz und der Kirche vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite winkte mir plötzlich jemand aus einem Fenster zu. Es ist das Haus eines weiteren Freundes aus Kindheitstagen, den ich nur hin und wieder sehe, wenn sich zufällig unsere Wege auf der Stra0e kreuzen. Aber die Person im Fenster war eine alte Frau. Das konnte nur seine Mutter sein, dachte ich und winkte zurück. Sie musste jetzt weit über 80 sein, und ich hatte sie sicher über zwanzig Jahre nicht gesehen, da ich sonst selten hier entlang kam. Ob sie mich wirklich erkannte oder aus Altersgründen handelte, ließ sich nicht sagen.

Kannst Du Dich an die Geschichte erinnern wo ein Freund und ich in Kindheitstagen in der Küche im Haus der Eltern des Freundes mit einem kleinen Ball spielten, und ich tat, den Ball zu fangen, und mich dabei so warf, dass ich unter die Röcke der beiden Frauen sehen konnte, die dort mit Kochen beschäftigt waren? Die Frau im Fenster war die jüngere von beiden. Ein seltsames Gefühl, nach so langer Zeit und ausgelöst durch diese Begegnung wieder daran denken zu müssen. Über fünfzig Jahre sind seither ins Land gegangen! Wenn sie es damals schon gewusst hatte, welche Verderbtheit in mir steckte (ich glaube mich jetzt zu erinnern, dass sie mich mahnte, die Geschichte in der Beichte zu erwähnen), würde sie sich heute noch daran erinnern? - Vielleicht muss ich diese Geschichte neu schreiben?

Mir schält sich die Haut in Fetzen vom Rücken. Letzte Woche habe ich mit nacktem Oberkörper das Gras im Garten gemäht und gleich anschließend - auch ohne Shirt (wer braucht’n sowas) - eine Runde mit den Walkingstöcken gedreht. Das war sicher der erste Sonnenbrand seit meiner Jugend. Aber - what shall’s!

Soll das heißen, Du weißt nicht mehr, was im Sommer 2014 passiert ist (also ich arbeitete zu dieser Zeit auf der damals noch neuen Wirtschaftsuni beim Messegelände - Unmengen schöner Mädchen! - und durfte Rumänen jagen, die aus der Tiefgarage die Feuerlöscher klauen wollten, und mich mit besoffenen Afghanen, die aus dem Prater kamen und mir ihre Messer zeigten, herumschlagen - kurz zuvor war dort ein Mädchen vergewaltigt worden). Was könnte - neben Lesestoff, Getränken und Sonnenschutz - “Frau” sonst noch am Strand brauchen? Einen Mann - oder das elektronische Gegenstück dazu? Dass ihr Weiber immer so unpräzise sein müsst!

Ehrlich gesagt, hatte ich noch nie ein Gespräch mit einer Achtzigjährigen, die Interesse daran hätte, wo man Männer treffen kann. Allerdings finde ich den Gedanken durchaus sympathisch. Darf denn die Oma nicht mehr wollen?

Ich unterhalte mich auch gerne mit den Leuten. Und da ist mir das Alter ebenfalls egal. Nur hatte ich in letzter Zeit, wo ich praktisch nur in der Nacht lebte - immerhin seit mehr als drei Jahren! -, nicht so viel Gelegenheit dazu. Früher ging ich gerne in Gasthäuser und war ein passionierter Thekensteher. Hier fand sich unter Laufkundschaft und Stammgästen immer jemand, mit dem man Gespräche führen konnte - Gespräche, aus denen ich auch heute noch beim Schreiben zehre … Z.B. in dem Romanentwurf “Mot der Rocker”; denn die Geschichte, wo einer mit dem Motorrad in einen Leichenwagen knallt, gab es wirklich; ich erfuhr sie am Tresen - oder “an der Pudel”, wie wir Alt-Wiener sagen.

Seit ich zu Hause bin, habe ich das weiße Tischchen und die beiden Sessel aus Schmiedeeisen in meiner Einfahrt reaktiviert. Hier, unter der Stiege auf den Dachboden, ist es bis nachmittags um drei schattig. Jetzt sitze ich hier und schreibe. Hin und wieder gehen Leute vorbei und grüßen herein. Gerade steckt ein gefleckter Terrier den Kopf zwischen den Eisenstäben der Gartentür herein und beäugt mich stumm, als wollte er sagen: “Na, Arschloch, jetzt sitzt du da …” Er darf das - wir kennen uns; er kam mir oft mit seinem Herrchen in meiner Gasse entgegen, wenn ich morgens aus der Arbeit nach Hause kam.

Auch Nachbarn bleiben auf ein kurzes Gespräch stehen. Darunter ist auch eine Blondine - 35 bis 40 Jahre alt, schätze ich. Ich weiß nicht, wohin sie gehört, aber fremd dürfte sie im Ort nicht sein. Anfangs, als ich noch die Axt schwang, um die Äste vom Baumschnitt des Nussbaums zu zerkleinern, grüßte sie im Vorbeigehen relativ zaghaft. Das besserte sich mit der Zeit. Am Freitag joggte sie vorbei, lächelte, als sie mich an dem Tischchen sitzen und schreiben sah; eine Live-Aufnahme von Rory Gallagher bereicherte das Vogelgezwitscher rundherum. Sie war ein wenig außer Atem, hob den Arm zum Gruß und kraulte zögerlich die Luft mit den Fingern - so, als wäre sie unsicher, wie ich darauf reagierte.

Ich liebe die Zeichensprache von Frauen (man kann sich darin böse und auch oft täuschen). Und ich liebe es, Frauen laufen zu sehen - fast so sehr wie Damen-Volleyball oder Tennis, wenn ich mich da an “meine schwarze Mamba” Serena Williams erinnere, die mir früher beim Wetten viel Geld brachte; ich konnte ihr ansehen, wann “Schluss mit lustig” war und sie das Match zu drehen begann.

Wenn die Blonde das nächste Mal vorbeikommt, biete ich ihr ein Getränk an - Whisky-Cola (trinke ich mit Vorliebe), Orange-Maracuja-Saft, Bier, Wein, Sekt … alles da und gekühlt - nur kein Mineralwasser. Ob ich vorher ein paar Flaschen kaufen soll?

Weil wir gerade bei Rory Gallagher waren … Ich sah ihn Mitte der Siebziger zweimal live; Blues-Rock, wie ich ihn gerne mag - besonders live; leider wurde er nur 47 Jahre alt, als er 1995 (wahrscheinlich an zu vielem Whisky) starb - warst Du da überhaupt schon auf der Welt? Jetzt wunderst Du Dich sicher, dass man auch damals schon Whisky trank (nicht alles sind jungen Neuerfindungen!). Jedenfalls erinnert mich das, dass mein Glas schon wieder leer ist!

Du hast 1 ¾ Stunden in einem Restaurant auf Dein Rumpsteak gewartet?! Mussten die vorher das Vieh erst schlachten? Bei mir begänne schon nach einer halben Stunde das “Kellner-Sterben” (falls die Köche nicht greifbar sind). Alte, 1 ¾ Stunden! Wie viele Mädels wart ihr? Da traute sich keine auf den Tisch zu hauen? Fremd-meckern liegt euch Frauen nicht so sehr, ich weiß. Aber zu Hause dann … Ich höre besser auf, weil sich da bestimmte Töne aus dem Unterbewusstsein heben. Meine Ex-Lebensgefährtin H. war da nicht ungeniert. Die nagelte z.B. ihren Ex an, weil er auf Jahre keine Alimente gezahlt hatte. Das ging so weit, dass das von den Brüdern zu gleichen Teilen geerbte Haus (der Unschuldige lebte sogar mit seiner Familie darin) verkauft werden musste. Ich schämte mich - ehrlich, und versuchte sie ein wenig zu beeinflussen, dass wir das Geld doch nicht bräuchten … Aber alsbald hatten wir in der ganzen Bude neue Fenster (und das waren viele). H. kannte nichts und niemand, wenn sie sich etwas einbildete; schließlich hat sie mich auch betrogen, weil ich ihr zu wenig emanzipiert agierte, wie sie sagte. Höllische Zeiten! wenn sie stur wurde. Ich glaube, schon erwähnt zu haben, dass sie auf einen Streit erst einging, wenn der Zorn im anderen - also mir - längst verpufft war. Dann schliff sie sich ein, und da man nicht mehr auf dem gleichen Gemüts-Label war, fand man auch nicht die passenden Argumente, um sich wehren zu können.

Es waren keine Luftballons, sondern nur einer, auf dem die vier Gesichter mit einem Stift gemalt waren. Für mich haben solche Dinge eine tiefere Bedeutung. Ich nenne es Magie, weil ich erspüren kann, welche Tendenzen hinter solchen Dingen stecken. Die Möglichkeiten, die sich dabei auftun, sind auch schriftstellerisch umsetzbar. Da rollte mir in der Dunkelheit dieser Ballon vor die Füße, angetrieben von einem sanften Lufthauch, der auch der Hauch einer Göttin sein konnte. Ich hob ihn auf und drehte ihn in den Händen, um die vier Gesichter darauf zu betrachten - und da erkannte ich plötzlich (oder meinte zu erkennen), dass eines der Gesichter einem Mädchen ähnlich sah, dass mich mit ihrer Art verzaubert hatte (sie selber würde das bestreiten, da sie Wissenschaftlerin ist).

Fetisch ist das aber keiner, dieser Luftballon, dem ich die Luft entließ, damit ich ihn mit mir nehmen konnte. Sonst würde ich solche Dinge grundsätzlich brauchen, um schreiben zu können. Und einem Ballon bringe ich auch keine Opfergaben dar.

Damit die Dinge passieren können, musst Du sie zulassen. Eine zerrissene Damenstrumpfhose in meiner Bettlade. Ein Racheakt? Jedenfalls wäre sie nicht dorthin gekommen, wenn ich es nicht zugelassen hätte. Und jetzt eignen sich die abgeschnittenen Beinteile ausgezeichnet für Stirnbänder. Mit der Hoffnung, dass diese Strumpfbeine lange genug halten, bevor sich wieder Ersatz herbeischaffen lässt, schließe ich und wünsche …

Feelings:
DAVID GILMOUR--4/11/16 MADISON SQUARE GARDENS NY
 



 
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