Im wilden Westen, Kapitel 11

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pol shebbel

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Der grosse Versammlungssaal war ein langer, kahler Raum, dessen Ausstattung aus in zwei Reihen hintereinanderstehenden Tischen und Bänken bestand. Auch er war leer. Bernie, Charlot und Melina durchmassen ihn langsam, nervös sich umsehend. Sie waren noch nicht da. Nun, es dauerte wohl einige Zeit, bis sie den Weg hierher zurückgelegt hatten, die Zentrale lag ja näher als die Wohnquartiere... Sie würden bestimmt kommen; es wusste doch jeder, wo der grosse Versammlungssaal lag. Und die Sprechtaste war doch bestimmt die richtige gewesen, "GANZE STATION" hatte darunter gestanden...
Solche Sachen versuchte Bernie sich einzureden - aber in seinem Hinterkopf sahen die Gedanken ganz anders aus. Das Mikrophon war doch sicher kaputt, hatte einen Schuss aus einer Chefpistole abgekriegt; oder die Leute waren misstrauisch gegenüber der fremden Stimme, die die Durchsage gemacht hatte; oder es war gar niemand da, sie waren tot oder mit den Chefs weggefahren... Oder... oder... oder...
Melina begann wieder zu sprechen. "Wenn... wenn sie kommen - was machen wir dann?"
Die Frage stand eine ganze Zeitlang im Raum. Schliesslich brummte Charlot: "Nun... Wir erzählen, was passiert ist - und dann beraten wir, was wir tun wollen. Zum Beispiel müssen wir einen neuen Chef bestimmen..."
Bernie hatte Lust, verächtlich zu lachen. Einen Chef bestimmen... Wer aus der ganzen Bande würde sich diesem Chef unterordnen?! Und selbst wenn: wer sollte dieser Chef sein? Also ich bestimmt nicht, dachte Bernie. Der Chef ist im Grunde am schlimmsten dran von allen: die anderen müssen eigentlich nur Anweisungen folgen, der Chef hingegen muss diese Anweisungen geben - und dabei darf er sich nie von der Hilflosigkeit packen lassen! Wenn der Chef einen Fehler macht, ist es vielleicht nicht nur für ihn, sondern für die ganze Station der letzte... Na ja, es kommt kaum gross drauf an - vermutlich nützt uns auch der beste Chef ni...
Er dachte nicht zu Ende. Drei Köpfe fuhren gleichzeitig herum. Die Tür hatte sich geöffnet! Ein Mann schaute hindurch - ein etwas untersetzter Mann, schätzungsweise Mitte Vierzig alt. Es war einer der Kolonisten, Bernie kannte ihn vom Sehen - er fiel schon wegen seines vergleichsweise hohen Alters auf - hatte jedoch noch nie mit ihm gesprochen. Mit einem kurzen Blick streifte der Mann den Raum, dann kam er herein und setzte sich wortlos auf eine der Bänke.
"Hallo", sagte Melina. Der Mann antwortete nicht.
Dupond trat einen Schritt vor. "Ich bin Charles Dupond. Das hier ist Melina Guzman, und dies Bernie Bender."
Der Mann warf ihnen einen kurzen, unfreundlichen Blick zu. Er antwortete immer noch nicht.
Bernie schielte unmerklich zu Melina hinüber. Schon ging es los mit den Individualisten...
Dupond versuchte es noch einmal. "Haben Sie eine Ahnung, wo die anderen alle sind?" fragte er.
"Nein", sagte der Mann. Dann schwieg er wieder.
Plötzlich stampfte Bernie mit dem Fuss auf. "Verdammt!" rief er. "Kapiert denn niemand?! Die Zeiten des Krieges aller gegen alle sind vorbei! Die Chefs sind alle weg! Die Hälfte liegt tot in der Zentrale, und die anderen sind mit den Raumschiffen abgehauen..."
Der Unterkiefer des Mannes klappte hinunter. "Was?" fragte er.
"Jawohl!" rief Bernie. "Wir sind sie los, die Schufte! Wir müssen die Arbeit selber in die Hand nehmen - begreifen Sie jetzt?"
Der Mann sah verdutzt aus. "Ach - ", entfuhr es ihm, "dann wart ihr es, die den Aufruf gemacht habt? Ihr seid ganz allein in die Zentrale gegangen?"
"Ja, was denn sonst", fuhr Bender ärgerlich fort. "Es war ja sonst niemand da! Als ich und er hier vorhin von der Bodenerkundung kamen, waren sämtliche Baustellen menschenleer! Wo sind sie alle?!"
Der Mann glotzte sie fassungslos an. "Soll das heissen, Sie waren mit den Raupenschleppern unterwegs? Und Sie haben es geschafft, zurückzukommen? Mann, das ist ja toll!" Plötzlich sprang er auf und kam ihnen entgegen. "Ich bin Jack Robinson", stellte er sich vor. "Wie waren eure Namen?"
Die anderen drei sahen sich einen Moment lang sprachlos an. "Bernie Bender", antwortete Bernie geistesgegenwärtig und schüttelte mechanisch die Hand, die der Mann ihm entgegenstreckte. Die anderen taten es ihm nach.
"Wie war das?" fragte der Mann dann. "Was ist los?"
"Nun, wie ich schon sagte", wiederholte Bender, "die Chefs sind alle weg, und die beiden Raumtransporter mit ihnen! Und von den anderen Kolonisten ist auch nichts zu sehen! Willst du jetzt endlich sagen, was hier los ist?"
"Ich? Ich hab keine Ahnung!" antwortete Jack Robinson. "Ich habe geschlafen - ich hatte gerade Pause, wisst ihr..."
Währenddessen war die Tür wieder aufgegangen und hatte ein paar Kolonisten hereingelassen, welche sich ebenfalls wortlos an die Tische setzten. Und Schritt für Schritt wiederholte sich jetzt die Szene von vorhin: die Leute reagierten, wenn man sie ansprach, zuerst sehr abweisend und misstrauisch - und waren wie ausgewechselt, sobald ihnen erzählt wurde, was geschehen war. Erregt wurde diskutiert, während immer neue Leute kamen; der sich langsam füllende Raum war bald von einem ständig anschwellenden Stimmengewirr angefüllt. Das waren die "Asozialen" von vorher? Es war kaum zu glauben!
Jeder wurde natürlich gefragt, was er von den Ereignissen in der Zentrale wusste. Die Berichte waren etwas widersprüchlich. Die eine Hälfte hatte geschlafen und überhaupt nichts gemerkt; auch den Schichtwechsel hatten sie verschlafen - augenscheinlich hatte das Wüten der Chefs in der Zentrale den von Bernie erträumten Fall eintreten lassen und auch die Weckanlage beschädigt. Das konnte man ohne weiteres glauben. Die anderen hingegen, die an der Arbeit gewesen waren, erzählten teilweise etwas seltsame Dinge. Die einen gaben auch an, sie hätten gar nichts gemerkt. Bei einem Teil konnte man das auch glauben, vor allem bei denen, die in der Höhle gearbeitet hatten - womit allerdings noch nicht erklärt war, warum sie nichts unternommen hatten, als bei Schichtwechsel die Ablösung nicht gekommen war. Manche erzählten, Chefs seien gekommen und hätten alle Arbeiter in die Schlafquartiere befohlen; andere sagten, sie hätten geglaubt, dass die Chefs mit den Raumschiffen zusätzliche Fracht holen wollten; andere wiederum gaben an, sie hätten sich sehr wohl Gedanken gemacht, aber die anderen hätten nicht auf sie gehört... Diese letzte Erklärung mochte der Wahrheit am nächsten kommen, wobei in vielen Fällen wohl "die anderen" hauptsächlich deshalb nicht gehört hatten, weil "die einen" gar nicht gesprochen hatten - so gedrückt und schweigend, wie die Stimmung bis vor kurzem in der Regel gewesen war... Was nun wirklich geschehen war, liess sich nicht schlüssig herauskriegen. Es schien, dass viele das Gefühl hatten, sie hätten sich nicht sehr rühmlich verhalten,und nicht ganz die Wahrheit sagten - aber alle schienen gewillt, es in Zukunft besser zu machen, und das war, jedenfalls für den Augenblick, die Hauptsache.
Schliesslich waren knapp über hundert Kolonisten - so gut wie alle - im grossen Saal versammelt. Bernie, Charlot und Melina standen auf, warteten, bis alles ruhig war, und dann erläuterte Charlot noch einmal in groben Zügen, was passiert war. "Und nun", schloss er, "müssen wir alle zusammen entscheiden, was wir tun wollen. Vor allem und zuerst müssen wir Ersatz für die Kolonieleitung bestimmen, um die ganze Arbeit zu koordinieren und zu leiten... Was meint ihr dazu?"
Ein gedämpftes Gemurmel begann im Saal. Doch bevor jemand das Wort ergreifen konnte, stand Jack Robinson auf und kam zu ihnen. "Ich habe einen Vorschlag", sagte er. "Wir sind zur Zeit in einer Notsituation - eine Menge Dinge müssen dringendst getan werden, und allerhöchste Priorität muss haben, keinerlei Zeit zu verlieren. Daher schlage ich vor, dass - zumindest fürs erste - ihr die Leitung übernehmt. Ihr drei..." Das Gemurmel im Sall schwoll sofort beifällig an.
Charlot war sichtlich erschrocken - und zwei andere ebenso. "Moment mal!" protestierte er. "So war das doch nicht gemeint! Wir doch nicht. Wir können das doch gar nicht..."
"Wer hier im Saal kann es schon?" fragte Jack. "Und ihr zwei seid mit den Raupenfahrzeugen gefahren und habt es geschafft, zurückzukommen; du, Melina, kennst dich schon in der Zentrale aus; und ihr zusammen habt aus eigenem Antrieb alle Leute zusammengerufen. Ausserdem kennen euch jetzt alle. Ihr habt, denke ich, die bestmöglichen Voraussetzungen... Wenigstens so lange, bis die wichtigsten Dinge erledigt sind; nachher können wir eine grosse offiziell-demokratische Gründerversammlung abhalten..."
Charlot zögerte, sein Gesicht schaute ziemlich schmerzvoll drein - genau so, wie Bernie sich jetzt fühlte. Sein Blick raste hektisch im Raum herum - gab es denn wirklich niemanden mit Führungserfahrung hier?!
Aber es war richtig: man durfte keinerlei Zeit verlieren, auch nicht mit der Suche nach dem besten Kandidaten. "Also gut", seufzte Bernie ergeben, "ich stelle mich zur Verfügung - unter der Bedingung, dass die anderen zwei auch mitmachen..." "Ich auch", fiel Melina ein. Charlot hatte noch immer bedenkliche Falten im Gesicht, aber schliesslich nickte auch er.
"Okay", sagte Jack, "ich glaube, wir können über alle gleichzeitig abstimmen. Wer ist dafür, dass Charles Dupond, Bernard Bender und Melina Guzman provisorisch die Leitung der Kolonie übernehmen?" Eine Masse von Händen ging hoch. "Wer ist dagegen?" fragte Jack. Keine Hand. Offenbar gab es kein einziges 'asoziales Arschloch' mehr. "Gut", sagte Jack. "Somit ist das beschlossen, und ich übergebe das Wort an die neuen Chefs." Und er setzte sich wieder.
Bernie fühlte sich wie beduselt. Er konnte kaum begreifen, wie leicht alles gegangen war. Leicht? Jetzt war er Chef - vielleicht das Dümmste, was der Kolonie hatte passieren können. Na ja, einer musste es machen. Die Chancen standen schlecht - aber sie waren nicht null. Und da die grossen Raumschiffe weg waren, hatten sie keine Rückzugsmöglichkeit mehr - sie waren verdammt dazu, hier Erfolg zu haben... Zunächst würden sie alle an die Arbeit zurückschicken. Die Zentrale aufräumen, die Leichen wegschaffen. Dann alle Bodenerkundungsgruppen sofort stoppen. Die, die noch intakt waren, sollten dennen, die verunfallt waren, zur Hilfe kommen, und dann nach Hause... Man würde sämtliche Bedienungsanleitungen sorgfältig studieren und sich gegenseitig alles genauestens beibringen. Oh Mann, das alles wird schwer sein! Mich schwindelt. Die Hilflosigkeit mit ihren eisigen Klauen... Wie ein Drache wird sie im Hinterhalt lauern, bereit, alles zu zerstören... Aber eine kleine, eine winzige Chance haben wir; denn wir wissen jetzt, wofür wir arbeiten...
Ihn schwindelte immer mehr. Er fühlte einen unwiderstehlichen Drang, die Augen zufallen zu lassen und zu schlafen... Was?! Ein plötzlicher Verdacht kam ihm. Diese hinterhältig langsam kommende, so trügerisch einlullende Schläfrigkeit... die ein Zeichen war, dass...?! Mit einer Anstrengung riss er die Augen auf und lenkte sie auf den Druckmesser an der Wand. Der Zeiger stand im roten Bereich!!
"Alarm!!" schrie Bernie mit aller im verbleibenden Kraft. "Druckabfall! Alle sofort die Helme aufsetzen!" Dann drehte sich plötzlich alles, er schwankte und sank um. Gleichzeitig aber hatten sich seine Finger um den am Gürtel hängenden Helm gekrallt und diesen mit einer schnellen Bewegung über seinen Kopf gestülpt. Klickend schnappte der Verschluss ein.
Ein paar Sekunden lang war er weg. Dann strömte frische Luft aus der Sauerstoffflasche in seine Lungen. Die Umgebung drehte sich langsamer und stand schliesslich still.
Langsam rappelte er sich auf. Um ihn herum waren die anderen - die meisten trugen ihre Helme. Ein paar lagen am Boden; aber neben diesen knieten andere, die gerade dabei waren, ihnen die Helme aufzusetzen. Neben sich erkannte er Charlie und Melina; auch sie trugen ihre Helme. Haha, hahahaha! Wir sind Profis. Wir sind Vollprofis! Wir haben die Reflexe, wir tun auch im Schlaf automatisch das Richtige...
Bernie atmete auf. "Seid ihr in Ordnung?" rief er. Ein intensives Knacken im Kopfhörer zeigte an, dass viele Stimmen durcheinanderriefen - doch die Sprache der Gesichter war eindeutig. "Grossartig!" schrie Bernie. "Also dann: an die Arbeit!"



E N D E​
 

jon

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Teammitglied
Huch! Ende? Ich dachte, jetzt geht es erst los. Das ist doch alles nur ein Vorgeplänkel, ein Einstiegs-Abenteuerlein, der erste Teil sozusagen – jetzt muss geklärt werden, was passiert ist, warum es so ein Wunder ist, dass überhaupt eine Raupe zurückkehrte, wie sich die drei als Chefs machen, was mit mit Bernies "Macke" wird, wie die Erde reagiert, etc etc etc

Das heißt: Jetzt müsste eigentlich der interessante Teil der Story kommen…

PS zum Handwerk: Ich konnte zunehmend besser eintauchen, wurde mitgerissen und habe also, um zu erfahren, wie's weitergeht, nicht mehr auf „handwerkliche Fehler2 geachtet (, was nicht heißt, dass ich keine bemerkt hätte ;) ). Das heißt zumindest, dass du die Sache mit der Stimmung hinkriegst, wenn du dich darauf einlässt.
 

pol shebbel

Mitglied
Na ja, was heisst Ende - auf eine Weise ist eine Geschichte ja nie zu Ende, ausser sie endet mit dem Weltuntergang - und auch dann nur, wenn die Zeit in ihr nur vorwärts läuft... Aber es ist richtig, dass die Geschichte an sich ziemlich kurz ist. Sie war übrigens schon als Teil eines grösseren Ganzen geplant; das ist zur Zeit aber - vielleicht noch - nicht realisiert. (Es gibt nur eine weitere Kurzgeschichte, die von Bernies Vorleben auf der Erde handelt - die finde ich aber nicht sehr gut geraten, jedenfalls nicht veröffentlichungsreif.)
Es freut mich, dass die Geschichte weiter hinten doch zu packen vermag! Den Anfang muss ich aber wohl etwas generalüberholen...
 

Doska

Mitglied
Also, ich finde, das Ganze war sehr packend. Du kannst Stimmungen herbei zaubern. Klar muss noch hier und da einiges korrigiert werden und wie ich gesehen habe, bist du ja gerade dabei. Ich schließe mich Jons und Flammarions Meinung an. Die Story ist ein bisschen zu kurz geraten. Also, her mit den nächsten Kapiteln, hehe!
 

pol shebbel

Mitglied
Erst mal vielen Dank für die vielen Reviews!
Den Wunsch nach mehr Kapiteln habe ich mal entgegengenommen. In der nächsten Zeit ist allerdings damit eher nicht zu rechnen... :-(
 



 
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