Im wilden Westen, Kapitel 5

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pol shebbel

Mitglied
Auf gehts. Melde dich. Für Leute, die das echte Leben suchen. Weg von Gruppendruck und Gehirnwäsche, weg von den überfüllten Städten, in die unberührten Weiten des Weltraums. Dorthin, wo der einzelne noch etwas zählt...

Weiten des Weltraums? Hier war alles noch viel enger als auf der Erde. Kaum umdrehen konnte man sich, ohne an die Wand zu stossen. Und was die sogenannte Gehirnwäsche betraf (die offiziell natürlich nicht so hiess - "Therapie" war die geläufigste Bezeichnung), diese verhasste allmonatliche Prozedur, die verhinderte, dass sich die Menschen auf der übervölkerten Erde gegenseitig umbrachten - in den letzten zwei Monaten hatte sich Bernie Bender mehrmals dabei ertappt, dass er sie zurückwünschte. Diesem Dupond zum Beispiel würde sie guttun, diesem asozialen Idioten. Oh Mann, ich kann diesen Kerl nicht ausstehen. Na ja, eigentlich kann ich niemanden hier ausstehen. Sollen sie mir doch "Individualist" oder "asozial" nachrufen - sie sind im übrigen auch nicht besser. Ein Haufen von Aussenseitern, Pseudohippies, Möchtegern-Rebellen - kurz: Anpassungsunfähigen! Jeder will überleben auf Kosten der andern. Misstrauen und noch mal Misstrauen ist die Devise, nicht selten Hass und Brutalität. Wenn die Chefs nicht wären - jeder würde gegen jeden kämpfen und die Kolonie sich in kurzer Zeit selbst zerstören. Na ja, auch so wird das Sterben höchstens ein wenig hinausgezögert...
Es war fast dunkel in der engen Kabine. Nur ein leises Brummen zeigte an, dass die Maschinen liefen - noch liefen, dachte Bender. Von hinten, bei den Schlafkojen, war manchmal ein Rascheln oder ein Atemzug zu hören - das war Dupond, der seinen Anteil der Schlafpause zu nützen versuchte. Dupond, dieser Schweinepriester - als er vorhin zum Schlafen seinen Helm abgenommen hatte, war eine stilechte schulterlange Hippiefrisur zum Vorschein gekommen. Von wegen abfällige Sprüche über Hippiekommunen... Vorne, durch die Frontscheibe, sah man nur unbestimmte Schwärze. Vor zwei Monaten, als sie angekommen waren, hatte bei Nacht der Jupiter am Himmel gestanden, wie ein orangeroter Pingpongball. Inzwischen war er winzig klein geworden, und bald würde er für 24 Jahre vom Junohimmel verschwinden.
Juno. Ein Asteroid, wie der Fachmann sagt. Ein Miniplanet, Durchmesser etwa 240 Kilometer, gesamte Oberfläche kleiner als die von Bernies Heimatland Grossbritannien. Wahrlich ein komischer Ort, um zu sterben...
Der Junge stöhnte und veränderte seine Lage ein wenig. Seine Glieder schmerzten, wegen dem Sturz vorhin. Seine Augen brannten, er hatte Kopfweh, und sein ganzer Körper war schweissgebadet. Oh, wenn ich nur diesen verdammten Raumanzug los wäre! Schon ist es wieder sieben Tage her, dass ich mich ganz waschen konnte. Hygiene ist überhaupt nur sehr notdürftig hier; ein Wunder, dass nicht schon längst irgendwelche Seuchen ausgebrochen sind.
Wie lange geht das noch? dachte der Junge verzweifelt. Warum kann ich nicht einfach alles vergessen und nichts mehr denken, bis alles vorbei ist? Warum bin ich dazu verdammt, jetzt noch Sekunde um Sekunde qualvoll durchzuleben? Fast kommt mir vor, manches Jahr, das ich auf der Erde verbracht habe, war nicht länger als diese Stunde hier.
Er drehte sich hin und her und begann schliesslich, am Kanalwahlknopf des Funkgeräts herumzudrehen - auf Kanal 42, um zu prüfen, ob die Zentrale sich endlich meldete, auf irgend einen zufälligen anderen Kanal, wieder auf 42 zurück, wieder anderswo hin. Erinnerungen an die Erde stiegen in ihm auf und versanken sofort wieder, bunte, zusammenhanglose Fetzen aus der Kindheit; der erste Tag im Kindergarten, wo er vor der Masse der anderen Kinder Angst gehabt und sich unter dem Waschbecken versteckt hatte; dieselbe, zum Horror gesteigerte Angst beim ersten Schultag, und die folgenden Tage, die diesen Horror voll bestätigt hatten; die ewigen Quälereien in der Schule, Streitereien und Prügeleien, die meist bei der Therapie geendet hatten - immer wieder die Therapie! Die eigenartige Karriere des Wortes "asozial", das in Verbindung mit der Ausbreitung der Therapie zum häufigsten und universellsten Schimpfwort avanciert war... Bernies Begeisterung für alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte (Mann, war ich damals naiv, dachte er bitter), sein atemloses Verfolgen der Nachrichten über die staatlichen Raumfahrtexpeditionen - womit er einmal mehr ausserhalb des Trends gelegen hatte. Insbesondere die bemannte Raumfahrt war damals zunehmend nur noch als Geldverschwendung gesehen worden, die Regierungen hatten ständig die Budgets gekürzt, bis ein Land nach dem anderen schliesslich seine Aktivitäten ganz einstellte - "Wer stets nach den Sternen blickt, wird bald auf der Nase liegen!" hiess die Devise, die einer ganzen Generation in der Therapie ins Hirn geritzt wurde... Bernie jedoch hatte nicht aufhören können, zu den Sternen zu blicken, denn dort lag seine Traumwelt, in die er vor dem beschissenen Alltag flüchten konnte...
Und dann war da diese Anzeige gewesen. Auf einer der hintersten Bildschirmseiten, ganz unauffällig und klein. Auf gehts - melde dich und so weiter. Noch während Bernie diese Zeilen las, hatte er gespürt, wie eine fieberhafte Erregung in ihm aufstieg - ein wohlbekanntes Gefühl, das er schon fast vergessen gehabt hatte. Es passierte wieder! Die Lücke, die der Niedergang der staatlichen Raumfahrt hinterlassen hatte, wurde nun durch Privatinitiative gefüllt; was jahrelang nur Traum gewesen war, wurde wieder Wirklichkeit - mehr Wirklichkeit denn je sogar, denn diesmal versprach es sogar für ihn persönlich Wirklichkeit zu werden!
Wenig später hatte das Thema begonnen, in den Nachrichten wieder zu erscheinen - meistens allerdings unter der Rubrik "Unfälle und Verbrechen". Doch das Gefühl, seinen Lebenstraum endlich leben zu können, war bei Bernie so überwältigend gewesen, dass keine Schreckensmeldung etwas hatte ausrichten können - mochten sich die Meldungen häufen über gescheiterte Expeditionen, unsägliche Zustände auf überfüllten Frachtern, Massengräber im Weltall, mochte die staatliche Propaganda herziehen über dubiose Vermittlungsfirmen, skrupellose Raumschiffbesitzer und alle möglichen anderen Arten von Verbrechern (einmal hatte er gelesen, der Weltraum sei "gesetzlos wie der wilde Westen"), mochte schliesslich die Regierung die private Raumfahrt unter hohen Strafen verbieten - nichts hatte ihn mehr stoppen können, er war wie unter Hypnose gestanden. In den letzten zwei Monaten allerdings hatte er am eigenen Leib erfahren, wie wahr all diese Nachrichten gewesen waren - oh Mann! Seine Hand krampfte sich um den Drehknopf des Funkgeräts, als die Erinnerungen daran hochkamen. Diese hinterhältig langsam kommende, so trügerisch einlullende Schläfrigkeit, die ein Zeichen war, dass die Sauerstoffversorgung nicht mehr funktionierte; das abgezehrte, verzerrte Gesicht von dem Kerl, der mit dem Messer auf ihn losgegangen war; der quäkende, elektrische Ton der Alarmsirene - immer wieder diese Alarmsirene!
Erinnerungen, so lasst mich doch endlich in Ruhe! Die halbverdauten Brocken tanzten in seinem Kopf, immer schneller, und alles vermischte sich zu einem grauen Gehirnbrei, den er am liebsten ausgekotzt hätte...

Das Funkgerät begann zu piepen.
 

Doska

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Puh, ich kann mir dabei richtig vorstellen können, wie es sein müsste, auf solch einem düsteren Planten plötzlich fest zu sitzen. Mitreißende Schilderung der bedrückenden Gefühle Bernd Benders und wie ihm der Sauerstoffmangel immer mehr zu schaffen macht.
 

pol shebbel

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Auf gehts. Melde dich. Für Leute, die das echte Leben suchen. Weg von Gruppendruck und Gehirnwäsche, weg von den überfüllten Städten, in die unberührten Weiten des Weltraums. Dorthin, wo der einzelne noch etwas zählt...

Weiten des Weltraums? Hier war alles noch viel enger als auf der Erde. Kaum umdrehen konnte man sich, ohne an die Wand zu stossen. Und was die sogenannte Gehirnwäsche betraf (die offiziell natürlich nicht so hiess - Therapie war die geläufigste Bezeichnung), diese verhasste allmonatliche Prozedur, die verhinderte, dass sich die Menschen auf der übervölkerten Erde gegenseitig umbrachten - in den letzten zwei Monaten hatte sich Bernie Bender mehrmals dabei ertappt, dass er sie zurückwünschte. Diesem Dupond zum Beispiel würde sie guttun, diesem asozialen Idioten. Oh Mann, ich kann diesen Kerl nicht ausstehen. Na ja, eigentlich kann ich niemanden hier ausstehen. Sollen sie mir doch "Individualist" oder "asozial" nachrufen - sie sind im übrigen auch nicht besser. Ein Haufen von Aussenseitern, Pseudohippies, Möchtegern-Rebellen. Jeder will überleben auf Kosten der andern. Misstrauen und noch mal Misstrauen ist die Devise, nicht selten Hass und Brutalität. Wenn die Chefs nicht wären - jeder würde gegen jeden kämpfen und die Kolonie sich in kurzer Zeit selbst zerstören. Na ja, auch so wird das Sterben höchstens ein wenig hinausgezögert.
Es war fast dunkel in der engen Kabine. Nur ein leises Brummen zeigte an, dass die Maschinen liefen - noch liefen, dachte Bender. Von hinten, bei den Schlafkojen, war manchmal ein Rascheln oder ein Atemzug zu hören - das war Dupond, der seinen Anteil der Schlafpause zu nützen versuchte. Dupond, dieser Schweinepriester - als er vorhin zum Schlafen seinen Helm abgenommen hatte, war eine stilechte schulterlange Hippiefrisur zum Vorschein gekommen. Von wegen abfällige Sprüche über Hippiekommunen... Vorne, durch die Frontscheibe, sah man nur unbestimmte Schwärze. Vor zwei Monaten, als sie angekommen waren, hatte bei Nacht der Jupiter am Himmel gestanden, wie ein orangeroter Pingpongball. Inzwischen war er winzig klein geworden, und bald würde er für 24 Jahre vom Junohimmel verschwinden.
Juno. Ein Asteroid, wie der Fachmann sagt. Ein Miniplanet, Durchmesser etwa 240 Kilometer, gesamte Oberfläche kleiner als die von Bernies Heimatland Grossbritannien. Wahrlich ein surrealer Ort, um zu sterben...
Der Junge stöhnte und veränderte seine Lage ein wenig. Seine Glieder schmerzten, wegen dem Sturz vorhin. Seine Augen brannten, er hatte Kopfweh, und sein ganzer Körper war schweissgebadet. Oh, wenn ich nur diesen verdammten Raumanzug los wäre! Schon ist es wieder sieben Tage her, dass ich mich ganz waschen konnte. Hygiene ist überhaupt nur sehr notdürftig hier; ein Wunder, dass nicht schon längst irgendwelche Seuchen ausgebrochen sind.
Wie lange geht das noch? dachte der Junge verzweifelt. Warum kann ich nicht einfach alles vergessen und nichts mehr denken, bis alles vorbei ist? Warum bin ich dazu verdammt, jetzt noch Sekunde um Sekunde qualvoll durchzuleben? Fast kommt mir vor, manches Jahr, das ich auf der Erde verbracht habe, war nicht länger als diese Stunde hier.
Er drehte sich hin und her und begann schliesslich, am Kanalwahlknopf des Funkgeräts herumzudrehen - auf Kanal 42, um zu prüfen, ob die Zentrale sich endlich meldete, auf irgend einen zufälligen anderen Kanal, wieder auf 42 zurück, wieder anderswo hin. Erinnerungen an die Erde stiegen in ihm auf und versanken sofort wieder, bunte, zusammenhanglose Fetzen aus der Kindheit; der erste Tag im Kindergarten, wo er vor der Masse der anderen Kinder Angst gehabt und sich unter dem Waschbecken versteckt hatte; dieselbe, zum Horror gesteigerte Angst beim ersten Schultag, und die folgenden Tage, die diesen Horror voll bestätigt hatten; die ewigen Quälereien in der Schule, Streitereien und Prügeleien, die meist bei der Therapie geendet hatten - immer wieder die Therapie! Die eigenartige Karriere des Wortes "asozial", das in Verbindung mit der Ausbreitung der Therapie zum häufigsten und universellsten Schimpfwort avanciert war... Bernies Begeisterung für alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte (Mann, war ich damals naiv, dachte er bitter), sein atemloses Verfolgen der Nachrichten über die staatlichen Raumfahrtexpeditionen - womit er einmal mehr ausserhalb des Trends gelegen hatte. Insbesondere die bemannte Raumfahrt war damals zunehmend nur noch als Geldverschwendung gesehen worden, die Regierungen hatten ständig die Budgets gekürzt, bis ein Land nach dem anderen schliesslich seine Aktivitäten ganz einstellte - "Wer stets nach den Sternen blickt, wird bald auf der Nase liegen!" hiess die Devise, die einer ganzen Generation in der Therapie ins Hirn geritzt wurde... Bernie jedoch hatte nicht aufhören können, zu den Sternen zu blicken, denn dort lag seine Traumwelt, in die er vor dem beschissenen Alltag flüchten konnte...
Und dann war da diese Anzeige gewesen. Auf einer der hintersten Bildschirmseiten, ganz unauffällig und klein. Auf gehts - melde dich und so weiter. Noch während Bernie diese Zeilen las, hatte er gespürt, wie eine fieberhafte Erregung in ihm aufstieg - ein wohlbekanntes Gefühl, das er schon fast vergessen gehabt hatte. Es passierte wieder! Die Lücke, die der Niedergang der staatlichen Raumfahrt hinterlassen hatte, wurde nun durch Privatinitiative gefüllt; was jahrelang nur Traum gewesen war, wurde wieder Wirklichkeit - mehr Wirklichkeit denn je sogar, denn diesmal versprach es sogar für ihn persönlich Wirklichkeit zu werden!
Wenig später hatte das Thema begonnen, in den Nachrichten wieder zu erscheinen - meistens allerdings unter der Rubrik "Unfälle und Verbrechen". Doch das Gefühl, seinen Lebenstraum endlich leben zu können, war bei Bernie so überwältigend gewesen, dass keine Schreckensmeldung etwas hatte ausrichten können - mochten sich die Meldungen häufen über gescheiterte Expeditionen, unsägliche Zustände auf überfüllten Frachtern, Massengräber im Weltall, mochte die staatliche Propaganda herziehen über dubiose Vermittlungsfirmen, skrupellose Raumschiffbesitzer und alle möglichen anderen Arten von Verbrechern (einmal hatte er gelesen, der Weltraum sei "gesetzlos wie der wilde Westen"), mochte schliesslich die Regierung die private Raumfahrt unter hohen Strafen verbieten - nichts hatte ihn mehr stoppen können, er war wie unter Hypnose gestanden. In den letzten zwei Monaten allerdings hatte er am eigenen Leib erfahren, wie wahr all diese Nachrichten gewesen waren - oh Mann! Seine Hand krampfte sich um den Drehknopf des Funkgeräts, als die Erinnerungen daran hochkamen. Diese hinterhältig langsam kommende, so trügerisch einlullende Schläfrigkeit, die ein Zeichen war, dass die Sauerstoffversorgung nicht mehr funktionierte; das abgezehrte, verzerrte Gesicht von dem Kerl, der mit dem Messer auf ihn losgegangen war; der quäkende, elektrische Ton der Alarmsirene - immer wieder diese Alarmsirene!
Erinnerungen, so lasst mich doch endlich in Ruhe! Die halbverdauten Brocken tanzten in seinem Kopf, immer schneller, und alles vermischte sich zu einem grauen Gehirnbrei, den er am liebsten ausgekotzt hätte...

Das Funkgerät begann zu piepen.
 



 
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