Im wilden Westen, Kapitel 9

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pol shebbel

Mitglied
Zuerst führten sie den Auftrag "Gesteinsproben und Aufzeichnungen retten" aus.
Viel zu retten gab es allerdings nicht; der Laderaum von Gruppe 9 war leer - keine Überraschung. Sie sammelten an Ort und Stelle ein paar Steine auf und nahmen sie mit - damit die Chefs etwas zu tun hatten, auch wenn der Metalldetektor nichts anzeigte. Ausserdem luden sie noch die Leichen der beiden Raumfahrer ein - man konnte hier nicht sentimental sein, und etliche Dutzend Liter Wasser sowie zwei fast intakte Raumanzüge waren ein wertvolles Gut. Bender hätte gerne einen davon gleich angezogen anstelle seines mit Staub verklebten - aber das Wechseln erwies sich in der engen Kabine und mit einem erfrorenen Knie als nicht machbare akrobatische Übung. Die Stelle am Knie war inzwischen blass, hart und gefühllos; es sah nicht gut aus, aber sie konnten sich nicht näher damit befassen. Die Ausrüstung umfasste eine Art Flicken, mit denen Raumanzüge provisorisch repariert werden konnten; das war fürs erste alles, was sie tun konnten. Jeder musste dem anderen dann den jeweiligen Teil der Fahrzeugbedienung erklären, was sie gründlich taten, besser als die Chefs es getan hatten. Dann schliesslich setzte sich jeder in eines der Raupenfahrzeuge, und sie fuhren zurück, ihren Spuren folgend, den gleichen Weg, den sie gekommen waren. Charles Dupond (Charlot, wie er sich jetzt nennen liess) in Nummer 15 fuhr voraus, und Bernard Bender (Bernie) in Nummer 9 hinterher.
Eine Panne hatten sie nicht mehr - aber das war fast das einzige Positive. So funktionierten die Funkanlagen beider Maschinen zwar noch über kurze Distanzen - sie konnten sich untereinander über Funk verständigen - aber der Kontakt zur Zentrale blieb während der ganzen Zeit unterbrochen; und auch der Metalldetektor blieb stumm, obwohl sie ihn mittlerweile fehlerfrei bedienten.
Sie sprachen kaum miteinander, ausser, wenn es absolut nötig war, und auch das war selten genug angesichts der immer gleich aussehenden Landschaft von Juno mit ihren graugelben Bergen, den graugelben Felsen und dem graugelben Staub. Manchmal, vor allem während der Ruhepausen, versuchte der eine oder der andere ein persönliches Gespräch anzuknüpfen, zum Beispiel über ihre Vergangenheit, die nicht nur weit weg schien, sondern es auch tatsächlich war - aber es gedieh nie sehr weit. Zwanzig Jahre ständige Begleitung durch die Therapie hatten Prägungen hinterlassen, die nicht in zwei Monaten verschwinden konnten: sie waren in der Lage wie einer, der sein ganzes Leben lang immer getragen wurde und jetzt plötzlich von alleine laufen soll. So blieben ihre Unterhaltungen kurz und ungelenk und endeten oft sehr unerfreulich.
Sehr störend war auch, dass sie nicht direkt, sondern nur über den seelenlosen Übersetzer miteinander sprechen konnten. Einmal kamen sie darum auf die Idee, den Dolmetscher auszuschalten und eine direkte Unterhaltung zu versuchen. Dies Experiment war für beide ein ziemlicher Schock. Am Anfang war eine spannungsgeladene Stille im Kopfhörer, dann begann Bernie, irgend etwas zu reden - und verstummte augenblicklich, als aus seinem Lautsprecher plötzlich ein völlig unverständlicher Kauderwelsch herausbrach, noch dazu in einer völlig fremden Stimme! Charlot schien es ähnlich zu gehen - keiner sagte noch einen zweiten Satz, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder getrauten, ein paar Worte zu wechseln (natürlich mit eingeschaltetem Übersetzer).
Mit der Zeit wurden die Gespräche seltener, gereizter, noch einsilbiger, vor allem, als ihr Ziel langsam näherrückte und die Gedanken über das, was sie dort erwartete, immer häufiger kommen wollten. Sie hatten keinen Anlass, sich auf ihre Vorgesetzten zu freuen, und darum unterdrückten sie diese Gedanken und wechselten kein Wort darüber; aber diese kamen immer wieder und immer hartnäckiger, und hinter ihnen lauerten die eisigen Klauen der Hilflosigkeit...
Als dann aber das Ziel wirklich vor ihre Augen trat, da reagierten sie völlig unerwartet.
Als Bernie die beiden quaderförmigen Felsblöcke sah, die den Eingang zur Höhle säumten, und das inzwischen um einiges gewachsene Feld der schief und krumm stehenden Sonnenkollektoren, das aussah wie eine Armee von Betrunkenen - da durchflutete ihn plötzlich eine so unglaubliche Erleichterung, dass er beinahe laut herausgeplatzt wäre vor Lachen. Donnerwetter, Heimatgefühle waren nun wirklich das Letzte gewesen, was er erwartet hatte zu empfinden. Aber diese kümmerlichen Aufbauten hatten plötzlich so etwas Rührendes - sozusagen zum erstenmal erzeugte etwas aus dieser wortkargen Technikwelt ein Gefühl in ihm.
Mit Charlot schien etwas nicht zu stimmen. Der Raupenschlepper vor Bernie benahm sich ganz seltsam: er drehte sich ein bisschen nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Bernie stellte Kanal 42 ein und funkte: "Charlot von Bernie, was soll der Quatsch? Over."
"Bernie von Charlot, verstanden, gar kein Quatsch", kam es zurück, "bloss ein kleiner indianischer Freudentanz. Over."
"Verstanden, du Indianer, aber wir sind hier nicht im wilden Westen, ja? Spass beiseite: ich versuche jetzt, die Zentrale anzurufen. Auf diese Entfernung müsste es doch langsam klappen, over."
"Verstanden, Ende." Ja, die Sprechregeln beherrschten sie jetzt, da würden die Chefs nichts mehr sagen können.
Kanal 42 war gleichzeitig der Zentralenkanal. Bender wartete einen Augenblick, dann drückte er die Taste und sagte laut und deutlich: "Zentrale von Gruppe 15, antworten!" Dann wartete er. Nichts passierte. Er wiederholte den Anruf und wartete wieder. Die Zentrale blieb stumm.
Verflixt, diese halb abgebrochene Antenne war doch sehr unangenehm. Dann musste es eben Charlot mit seiner Antenne versuchen... Bernie wollte gerade die Sprechtaste drücken, um diesen zu benachrichtigen - da erstarrte er.
Die Kolonie sah auf den ersten Blick aus wie immer - aber schon auf den zweiten hatte Bender das Gefühl gehabt, dass irgend etwas nicht stimmte. Und jetzt realisierte er plötzlich, was es war: es waren keine Menschen zu sehen! Die Aufbauten und Parkplätze, die Metallsegel der Sonnenkollektoren waren menschenleer - dort, wo man eigentlich wie verrückt hätte arbeiten müssen! Warum war die Kolonieleitung plötzlich so nachlässig geworden?
Und dann sah Bender plötzlich noch etwas, worauf ihn die Erkenntnis blitzschnell durchzuckte. Etwas, das eigentlich viel auffälliger war und ihm von Anfang an hätte in die Augen stechen müssen.
Die beiden grossen Raumschiffe waren weg!
Grosse Galaxis, bei allen grünen Marsmännchen und sämtlichen Ringen des Saturns! Sie waren doch nicht etwa abgehauen?! Hatte es einen Unfall gegeben, war die Kolonie zerstört? Waren die Überlebenden in die Raumschiffe gestiegen und hatten Juno verlassen? Dann hatten die Funkgeräte die ganze Zeit über funktioniert, bloss war niemand da gewesen, um zu antworten? Waren Dupond und er die einzigen Überlebenden auf diesem Planeten? Zack, zack, zack - Schlag auf Schlag rollte die ganze Kette der Misserfolge und Rückschläge wieder vor ihm ab. Sternenhagel und Sonnenwind, was ist das für eine Scheisswelt hier?! Jedesmal, wenn man glaubt, einen Erfolg errungen zu haben, kriegt man wieder einen Schlag ins Gesicht!
Charlot schien auch etwas zu merken - im Kopfhörer war kein Laut zu hören. Verdammt, diese Stille - die Stille des Todes?! Bender raffte sich auf, drückte die Sprechtaste und sagte: "Charlot von Bernie, antworten!"
Ein Knacken im Kopfhörer. "Äh... hallo", sagte Charlot. Der war wohl auch ziemlich geschockt.
"Nicht verstanden! Bitte nach Sprechregeln funken, over!" funkte Bernie.
"Wieso ich?" funkte Charlot zurück. "Ich hab doch gar nichts gesagt! Over."
Wieder dauerte es eine Weile, bis Bender die Bedeutung dieser Antwort begriff. Verflixt, manche dieser Übersetzerstimmen klangen genau gleich, da konnte man Charlot nicht von der Zentrale unterscheiden... Es musste die Zentrale gewesen sein! Die Zentrale war besetzt! Aber... dann war ja alles in Ordnung?! Verdammt, und ich hatte doch beinahe gedacht, dass...
"Bernie von Charlot", meldete sich Charlot wieder - hier zeigte sich übrigens der Vorteil der Sprechregeln: man wusste genau, wer sprach - "ich versteh überhaupt nichts mehr. Siehst du auch, was ich sehe? Over."
"Äh..." sagte Bender. Er stockte, schluckte, holte Luft und begann nochmals. "Charlot von Bender, verstanden. Ich fürchte ja. Aber die Zentrale scheint besetzt zu sein. Ich ruf sie jetzt noch mal an, OK? Over."
"Verstanden, Ende." Charlot musste ziemlich perplex sein, dass er keine Fragen mehr stellte. Der Übersetzerstimme merkte man es natürlich nicht an.
Also noch einmal: Sprechtaste drücken und Zentrale anrufen. Warten. Es ertönte wieder ein Knacken; eine Sekunde lang klang es, als ob jemand atmete. Dann wieder Stille. Da schien tatsächlich jemand am Apparat zu sein, aber einer, der noch weniger Erfahrung hatte als sie.
"Zentrale von Gruppe 15, antworten!" wiederholte Bender.
Wieder ein Knacken. "Äh, hallo", sagte jemand.
"Denken Sie gefälligst nach, bevor Sie die Taste drücken!" funkte Bernie ärgerlich. "Wer spricht da überhaupt?"
"Äh", sagte die Zentrale.
"Wer spricht da?" wiederholte Bender lauter und merklich ärgerlicher. Das letztemal hatte die Zentrale ihn wegen der Sprechregeln angeschnauzt, und jetzt hielt sie sich selber nicht daran?!
"Äh", sagte die Zentrale noch einmal. Und dann: "Äh, hier spricht Melina Guzman."
"Was?!" stiess Bender ungläubig hervor, "wer bitte?"
"Melina Guzman", wiederholte die Stimme. "Äh, Moment - ja, ja, Zentrale, hier ist die Zentrale."
"Verstanden", sagte Bender, obwohl er überhaupt nichts verstand - aber er musste zeigen, dass wenigstens er die Sprechregeln beherrschte. "Hören Sie: Holen Sie doch mal einen Chef ans Telefon, ja? Over."
"Einen Chef..." sagte die Stimme. Dann kam eine lange Pause, als ob die Person auf der anderen Seite mit dem Wort "Chef" nichts anzufangen wusste.
"Jawohl, einen Chef", wiederholte Bender ungeduldig, "einen, dem ich vernünftig Meldung machen kann."
"Meldung?" fragte die Stimme.
"Jawohl, Meldung!" rief Bender ins Mikrofon. Langsam wurde er nun doch etwas wütend. "Bodenerkundungsgruppe 15 meldet sich zurück!"
"Bodenerkundung?" fragte die Stimme.
"Jawohl, Bodenerkundung!" rief Bender zurück. Er holte Luft für eine gepfefferte Bemerkung, als die Stimme plötzlich schneller wurde. "Einen Moment mal, soll das heissen, Sie sind einer von denen, die draussen mit den Raupenschleppern herumfahren?"
"Genau", rief Bender, froh, dass die Zentrale endlich etwas kapierte. "Und Sie sind zurückgekommen?" fragte die Stimme.
"Aber ja doch", antwortete Bender ungeduldig, "Das sagte ich ja schon! Würden Sie..."
Die Stimme unterbrach ihn. "Und Sie sind noch am Leben?!" fragte sie aufgeregt.
Diese Frage brachte Bender vollends aus dem Konzept. "J... Jja... ja", stotterte er, "ja, natürlich, sonst... könnte ich ja nicht anrufen, oder..."
"He," (Knacken) "Mann, das gibts ja nicht, das..." Knacken, wieder ein Knacken, Stille.
"Himmel, Arsch und Zwirn, kennen Sie keine Sprechregeln?!" schrie Bender, wieder aufgebracht. Es kam keine Antwort. "Hallo?" rief Bender. Nichts.
Bernie war völlig konfus. In seinem Kopf wirbelten alle Gedanken durcheinander auf der Suche nach einer Erklärung. Die verschiedenen Sachen wollten und wollten nicht zusammenpassen!
"Bernie von Charlot", meldete sich plötzlich Dupond, "es scheint, die Zentrale wird uns nicht viel helfen. Ich schlage vor, wir nehmen die Sache selber in die Hand. Over."
"Verstanden, over", antwortete Bernie mechanisch, während es in seinem Kopf weiterarbeitete. Langsam ging sein Denken auch in die Richtung, die Dupond gerade vorgeschlagen hatte. Der oder vielmehr die am anderen Ende der Leitung - Melina schien ein weiblicher Name zu sein - war offensichtlich nicht bei Verstand. Chefs schienen auch keine da zu sein - vielleicht war überhaupt keiner mehr da, vielleicht war nur noch diese Frau übrig... Sie mussten selber etwas tun, bevor sie die Hilflosigkeit wieder packte!
"Bernie von Charlot, nicht verstanden! He, hörst du überhaupt?" riss ihn das Funkgerät aus seinen Gedanken, und er merkte, dass er ausser "verstanden, over" überhaupt nichts gesagt hatte. "Äh, ja, äh, ich meine, verstanden", sagte er. "Wir könnten einmal die Raupen parkieren gehen. Over."
"Bernie von Charlot, verstanden! Gehn wir. Ende."
 



 
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