Im Wunschturm

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OfN

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Stufe um Stufe, aufwärts stets aufwärts.
Er schnauft, flucht, krampft, Muskeln schmerzen, Herzwummern, Schweißnässe, der Wille bröckelt mit jedem Schritt.
Wie lange er schon unterwegs ist, vermag er nicht zu sagen. Im Kreislauf der fensterlosen Rundtreppe war von der Welt
bald nur noch die Treppe übrig: jede Stufe wie die vorige oder die danach, fortdauernde Gegenwart ohne Unterschied.
Was hatte ihn bewogen diese Marter aus sich zu nehmen? Beklemmung: Mauer–Mauer–Mauer. Warum das?
Nicht gut. Lass sein, Lass sein. Denk nicht nach: Mauer. Stufe-um-Stufe. Mach weiter.

Dann endet sie. Plötzlich öffnet sich Raum nach oben. Tatsächlich: Die letzten Stufen, dann sackt der Körper zu Boden.
Fahles Nachtlicht deckt ihn zu. Das Fenster. Das ist es. Es müssen Stunden gewesen sein. Oder Tage.
Ein Blick aufs Handy: Naja, 8 Stunden. Schließ die Augen.
Atmen
Tief in den Bauch
Tiefer und tiefer
Ein –
Aus
Bis sich der Puls normalisiert
Normalisiert
Ein
Normalisiert hat
Aus
...
Vielleicht ist er eingenickt.
Das Handy sagt: nur kurz.
Also ans Werk. Es wird Zeit. Schwerfällig richtet er sich auf, der Muskelkater meldet sich schon.
Eben noch schwitzend ist ihm nun eiskalt. Also das ist es? Sein Blick schweift: Ein Spitzdach, alles gemauert,
und dort das Fenster. Er geht hinüber, lehnt sich hinaus: unter ihm Wolken, über ihm Wolken,
dahinter Mond und Sterne. Beeindruckend … aber auch nicht spektakulär. So weit oben
gibt es keine Höhe mehr. Nur noch Weite. Leere Weite zwischen Wolken. Ein Foto, das muss sein.
Zu dunkel. Auch kein Empfang. Na gut.
Das Fenster. In sein oberes Rund ist ein Schriftzug gemeißelt: clama et audieris – Latein, natürlich,
das sagt ihm nichts. Hier nun soll der Legende nach ein Wunsch in Erfüllung gehen, wenn er ihn
durch die Öffnung hinausschreit. Ein Schrei in das himmlische Nichts. Gut. Er reibt seine Finger in den Handflächen.
Was wünschen?
Bevor er sich auf den Weg machte, schien es klar. Ein Menschheitstraum sollte es sein. Nun klafft
ein Loch in seinem Kopf. Hatte er auf dem Weg nicht Zeit zum Nachdenken?
Was ist ein Menschheitstraum? Der Friede auf Erden? Aber ist das nicht stumpf? Und was hast du
schon davon, der du in Frieden lebst? Wäre das nicht eine verschwendete Gelegenheit, zumal
angesichts der Strapazen? Wie lange mag so ein Frieden schon halten? Gibt es da eine Garantie?
Und welchen Preis müsste man dafür eigentlich zahlen? Wären alle vielleicht nur unglücklicher?
Zu viele Ungewissheiten. Greifbarer ist das eigene Glück. Der Rückenschmerz zum Beispiel.
Das wäre eine Wohltat. Gesundheit im allgemeinen. Vielleicht könnte man das verallgemeinern.
Kein Krankheiten, keine Schmerzen mehr, Freiheit vom Elend für alle. Wirklich alle? Und all diejenigen,
die es verdient hätten? Schmerz schürt Furcht, lässt zögern, hält auf. Ein schmerzloser Amokläufer wäre
unverantwortlich. Das ist das Problem an Wünschen für die Allgemeinheit: Man müsste die Idioten
rausrechnen, irgendeine Formulieren finden. Aber wie soll die lauten? Wer ist wann ein Idiot
aus wessen Perspektive und so weiter? Viel zu kompliziert. Er hat nicht vor, sich hierzu Schanden
zu grübeln. Vielleicht kurzerhand das Verschwinden der Rechten? Und der Islamisten? Sehr tagespolitisch.
Ein Nobelpreis wäre ihm zu gönnen. Schon wieder der Frieden. Am Ende bleibt es dabei. Wie armselig
doch irgendwie. Was wäre dein Glück? Geld? Trivial und essenziell, da mag man sich nicht dafür oder
dagegen entscheiden. Vielleicht eine besondere Fähigkeit? Eine Art Superheld. Unverwüstlich, blitzschnell,
gescheit und was dazu gehört. Jetzt wird es albern. Ein Supermann. Das ist eine elende Bürde.

Er wendet sich vom Fenster ab, sieht sich das gemauerte Turmrund mit seinen schroffen Steinen an.
Keine Kunst, aber viel Arbeit, denkt er, geht in die Mitte des Raumes und stemmt die Hände in die Hüfte.
Seine Beine sind weich vom Aufstieg, der Atem geht tief. Immerhin dürfte es dem Schrittzähler gefallen,
wenn er einen hätte. Was fehlt ihm denn? Was fehlt in seinem Leben? Er wühlt in der gedanklichen Leere.
Der richtige Job vielleicht? Gott bewahre, du wirst dir hier jetzt keinen Job wünschen!
Durchatmen. Er setzt sich auf die erste Stufe der Treppe, verschrenkt die Arme auf den Knien
und bettet seinen Kopf auf ihnen nieder. Es ist still. Was du dir wünscht? …
Ruhe. Einfach Ruhe.
Schließ die Augen.
 



 
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