Immer diese Sonntage

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Viele ähnliche Sonntage hat es gegeben. Das erste Erinnerungsbild ähnelt einer Fotografie im Familienalbum. Tatsächlich besitze ich Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dieser Zeit mit denselben Personen, derselben Szenerie, aber an diesem Sonntag sind wir nicht fotografiert worden.

Der Kaffeetisch ist unter dem Kirschbaum aufgebaut. Die Sonne schickt Strahlen durch das Blattwerk, zeichnet ein bewegliches Muster aus hellen und dunklen Streifen auf Tante Annas Kleid. Den Sommerwind spüren wir kaum, nur die Reflexe, die er mit den Blättern erzeugt, huschen flink über unsere kleine Gruppe. Unaufhörlich blitzen diese Vertikalen auf, ändern ihre Form, verschwinden, kehren zurück. Es sind Lanzen aus Licht, die sich vergeblich bemühen, die schwarzen Tupfen auf Tante Annas weißem Kleid in Bewegung zu setzen. Die Tupfen verharren so statisch wie die Tante, die drei Stück Torte gegessen hat. Sie und meine Mutter hören dem Gespräch der Männer für eine Weile zu.

Tante Anna, dick und lustig, weiß manches, zum Beispiel das: Die Suppenwürze, die wir auch für Salate verwenden und sogar über die Nudeln geben, sei aus den Köpfen verendeter Kälber hergestellt. „Aber sag’s nicht weiter. Das ist ein Geheimnis“, flüsterte sie mir einmal zu und kicherte dabei wie ein Schulmädchen. Sie und Onkel Georg haben keine Kinder.

Ich gebe mir Mühe, nicht auf das zu hören, was Onkel Georg meinem Papa gerade erklärt. In mir formuliere ich die Frage, die mich allein an diesem Nachmittag bewegt: Wird Roland heute kommen? Werde ich ihn treffen?

Onkel Georg wird laut: „Wie alt ist der Vergaser, wie alt?! Ich hab’s ihm auf den Kopf zugesagt.“ Papa schmunzelt und scheint zu verstehen, wie schlau der Onkel gewesen ist und sich wieder mal nicht hat hereinlegen lassen. Doch als Papa sich zurücklehnt, dabei einen Buckel macht und sich das Kinn kratzt, weiß ich: Auch er hat nichts begriffen. Die Tante mischt Bewunderung in ihren verständnislosen Blick. Mama hat für solche Fälle einen höflich-skeptischen Gesichtsausdruck bereit: Ich bin noch nicht ganz überzeugt …

Der Onkel will es genauer erklären. „Dasselbe wie beim Felix“, schreit er über den Tisch, „mitten im Wald liegen geblieben, und als er die Motorhaube …“ Da, jetzt hat er das Sahnekännchen umgeworfen - Mama trocknet das Bächlein schon mit ihrer weißen Schürze. Der Onkel herrscht die Tante an: „Kannst du nicht aufpassen, musst du immer alles umstoßen?!“ Die findet den Scherz köstlich und gickert los. „Hab ich euch schon erzählt“, fährt der Onkel fort, „wie sie mit dem Kopf gegen die Scheibe ---“ Diese Geschichte habe ich schon viermal gehört. Da stelle ich mir lieber wieder meine Frage: Wird – wird - wird Roland heute kommen? Ich weiß, man muss das immer wieder so denken, mit zunehmender Konzentration. Die Außenwelt dabei ausblenden, dann bekommt die innere Stimme bald einen magischen Klang. So wird aus Hoffnung erst Zuversicht, dann Gewissheit. Aber ich schaffe es heute nicht. Ich höre immer noch, wie der Onkel von Motoren und Pannen erzählt und mein Vater scheinbar kluge Gegenfragen stellt. Sie sind noch in der ersten Phase. Ihre Gespräche haben nicht nur immer den gleichen Inhalt, sondern meistens auch den gleichen Verlauf.

Roland war damals mein Idol, zwei Sommer lang. Ein Junge aus unserer Nachbarschaft, aus einem der kleinen Siedlungshäuser. Schwarzhaarig, groß, schlank, breitschultrig. Von unnachahmlicher Eleganz und leicht träger Arroganz. Er war schon vierzehn und zog ab und zu mit zwei, drei anderen Jungen über Papas Land zum Sieben-Quellen-Tal. Ich schloss mich ihnen freudig an. Bei den Quellen geschah wenig, doch es genügte meinem Überschwang. Wir stauten Rinnsale auf oder probierten, ob wir in einem der kleinen Sümpfe stecken bleiben würden. Roland stemmte in schöner Haltung, mit verächtlicher Gebärde einen Felsbrocken. Ich schlug ihm vor, er müsse unser Anführer werden. Das war er zwar schon, aber er sagte, das wolle er wirklich nicht sein. Dieser Verzicht, so edel und schmerzlich schön, band mich noch mehr an ihn.

Vorerst muss ich noch im Garten aushalten. Die Beete sind mit Sträuchern eingefasst, Johannisbeeren, Stachelbeeren. Sie biegen sich unter der Last reifer Früchte. Ganze Zweige liegen auf der Erde und die Beeren verfaulen. Zehn Meter von uns entfernt pflückt eine alte Frau in gebückter Haltung. Man sieht von ihr nur den langen dunkelblauen Wollrock und die verschiedenfarbigen Unterröcke, die hervorlugen. Die alte Frau, infolge vieler Feldarbeit und einseitiger Belastung schief geworden, führt Selbstgespräche. Halbe Sätze dringen bis zu unserem Kaffeetisch.

„Lisbeth, warum sitzt Oma Kathi nicht bei uns?“ will Tante Anna wieder mal wissen. Sie kann sich nicht an einen Zustand gewöhnen, der für uns selbstverständlich ist. Mama hält lange Erklärungen für unnötig, die Tante hat schon oft hier Kaffee getrunken: „Ach, ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt …“ Tante Anna tut verdutzt. Sie lässt gern merken, was sie von unseren Sitten hält. Dann fragt sie: „Aber deine Eltern, die kommen doch noch?“

Onkel Georg hat gerade „atü“ gesagt. Mein Vater hat die Frage der Tante mitbekommen, er räuspert sich ärgerlich und blickt auf Mama, die, so hofft er, antworten wird: Heute nicht. Stattdessen sagt sie: „Vielleicht kommen Tante Franzi und Onkel Walter und bringen sie mit.“

Jetzt bin ich alarmiert. Mit dieser Tante, gegenwärtiger Lieblingsschwester meiner richtigen Oma, habe ich nicht gerechnet. Ich überlege, was ich mehr fürchte: den Besuch der Patentante oder Rolands Ausbleiben. Vielleicht ist die Tante eher zu ertragen, wenn ich sicher sein kann, Roland später noch zu treffen.

Ob Tante Franzi auch weiß, was mit den Köpfen verendeter Kälber geschieht? Ich traue es ihr zu, aber sie spricht dann nicht darüber. Dafür schmückt sie ihre Rede gern mit Sprüchen, deren Herkunft und Bedeutung ich nicht kenne. Da ist dieser Sprechgesang, wenn sie aufbricht: „In Jerusalem am Bahnhof, da gibt’s ein Wiedersehn …“ Seltsam. Ihre Besuche dauern nie lange, sie kommt erst, wenn der Kaffee schon vorbei ist und man auseinandergehen will. Sie nimmt gar nicht erst Platz, bringt alles im Herumgehen oder –stehen zur Sprache und verschwindet nach einer halben Stunde wieder mit Onkel Walter, der den Käfer steuert. Sie absolvieren an einem Nachmittag drei oder vier Verwandtenbesuche.

Mehrmals im Jahr, zu Festen oder wenn Geburtstag ist, überreicht sie mir als Patengeschenk einen versilberten Löffel oder etwas anderes für den Besteckkasten. Überreichen ist das treffende Wort für die kleine Zeremonie. Die Tante richtet es so ein, dass die Übergabe des Löffels vor aller Augen erfolgt. Sie selbst scheint so gerührt, dass ihr die Sprache versagt. Das einsetzende Schweigen muss die Bedeutung des Augenblickes unterstreichen. Mir ist all das peinlich, denn ich weiß, dass ich nun Dankbarkeit heucheln muss. Aber das ist klar: Dieser schwere Löffel, der irgendwie nach „getriebenem Silber“ aussieht und im Käufer eine andächtige Stimmung erzeugt hat, ist ein Wertgegenstand. Für diese materielle Gabe habe ich eine Gegenleistung zu erbringen, den Ersatz eines unterdrückten Gefühls durch ein vorgetäuschtes. Und der kleine Koffer mit dem Kunstlederbezug – wie „gepresstes Leder“ – weist noch viele leere Fächer auf, nicht nur für Löffel, auch für Messer, Gabeln, Teelöffel, Kuchengabeln, für Schöpfkelle und Tortenheber … Ich kann mir nicht vorstellen, später einmal mit diesem klobigen Besteck zu essen.

„Was ist dir beim Backen lieber, Hefe oder Backpulver?“ will die Tante jetzt von Mama wissen. „Hier hast du doch Hefe genommen?“

Onkel Georg seufzt schwer: „Nicht mal am Sonntag kommt man richtig zur Ruhe. Ein elendes Leben ist das …“

Mama antwortet, sie bevorzuge Hefe, vor allem bei gedecktem Apfelkuchen. „Nur für die einfachen Böden nehme ich Backpulver, geht schneller. Da schmeckt man den Unterschied kaum.“

„Morgen früh um halb sechs wieder mit dem Hänger auf die Autobahn!“ verkündet der Onkel. Wir bedauern ihn nicht, das Klagelied ist zu oft angestimmt worden. Er ist Fuhrunternehmer, transportiert Holz aus den Wäldern in die Sägewerke. Er ist vom Auftraggeber abhängig, genau an Vorgaben gebunden. Der Onkel hat das Risiko eines freien Unternehmers, ohne dessen Unabhängigkeit: Das wissen wir alles schon.

Papa nimmt das Stichwort auf, nur nicht im Sinne seines Cousins. „Du hast es noch gut, eine halbwegs feste Arbeitszeit. Wenn man aber Vieh hat, weiß man gar nicht, was Feierabend ist.“

„Häkelst du eigentlich noch?“ höre ich die Tante Mama fragen.

Der Onkel protestiert, seine Arbeit sei dafür viel gefährlicher. „Du kennst den Wald nicht, diese Steilhänge. Wie kriegt man die Stämme zum Ladeplatz runter, ein Kunststück ist das jedes Mal.“ – „Und hier“, sagt Papa, „wächst das Unkraut und wächst und wächst … Wir kommen nicht dagegen an.“

„Ja, im Winter häkele ich wieder. Aber jetzt ist dafür keine Zeit.“ Mama scheint den Anschluss an das Männergespräch gefunden zu haben, setzt sich aber gleich wieder davon ab: „Die ganze Woche habe ich Johannisbeeren eingekocht, ich muss dir nachher zeigen, wie groß die Vorräte schon sind. In drei Jahren können wir das nicht verbrauchen.“

Papa: „ … und spätestens im Winter müssten die Hühnerställe ausgemistet werden. Man kommt eben nie zu allem, was nötig wäre.“ Onkel Georg erinnert an seinen stillliegenden zweiten Lastwagen. „An die Reparatur darf ich gar nicht denken. Wer soll das alles bezahlen? Und dann noch die Steuern!“

„Schenk mir noch eine Tasse ein.“ Die Tante lehnt sich zurück, anscheinend abgestumpft gegen die Sorgen ihres Mannes. „Im Garten hat man immer Beschäftigung“, sagt meine Mutter, „nie Langeweile.“

„Auf der anderen Seite: Druck, Druck, Druck. Die Termine kaum einzuhalten“, behauptet der Onkel. Papa bleibt ungerührt. Ich weiß, er schätzt es nicht, wenn einer noch arbeitsamer und gehetzter sein will als er.

Tante Anna bewundert die frisch geputzten Fenster von weitem, wie schön sie sich spiegelten. Mama sagt was von „Kitt erneuern“ und „tapezieren wollen“. Sie will gleich eine Broschüre mit neuen Mustern heraussuchen. - „Was mich am meisten ärgert: der ganze Bürokratenkram, die vielen Formulare …“ Das ist wieder mein Vater. Und der Onkel: „Das muss sich alles ändern. Einfach Schluss machen damit, fertig!“

„Tante Maja hat mir eine Vase geschenkt, so groß und eckig, wie man sie jetzt hat.“ Auch die Vase verspricht Mama der Tante zu zeigen. Aber mein Vater entscheidet, dass stattdessen unser Bauplatz besichtigt werden soll. Wir bauen ja ein neues Haus, dahinten im Wäldchen. Zu sehen gibt es noch nichts, und Papa wird nicht dabei sein, er muss zu den Ställen. Das Vieh warte, während wir schon viel zu lange hier säßen ---

Wir stehen langsam auf. Und da höre ich das tuckernde Geräusch vom Fahrweg weiter unten herauf. In zwei Minuten trifft also Tante Franzi mit dem verhassten Löffel bei uns ein. Mich beschenken zu lassen, es erfüllt mich auch jetzt mit Widerwillen. Ich hasse es überhaupt, beschenkt zu werden. Am Morgen meines Geburtstages zögere ich das Aufstehen so lange wie möglich hinaus. Es fällt mir schwer, eine freudige Grimasse herzustellen. Immer erhalte ich nützliche Sachen, deren Wert für mich ich nicht einsehe.

Das Geräusch ist nicht mehr zu vernehmen, der Wagen hat also die Biegung passiert. Die anderen haben wohl nichts gehört. Papa schlägt schon den Fußweg hinunter ein. Mama bringt erst noch das Kaffeegeschirr ins Haus. Sie geht an Oma Kathi vorbei, ohne sie anzusehen. Wir anderen zuckeln hinterher. Auf einmal weiß ich, was ich tue. Ich sage, sie sollten schon mal vorausgehen, ich würde mir noch was ansehen. Und ich renne den kurzen, steilen Pfad hinauf - Roland entgegen. Oder wem auch immer.

„Bub, bleib doch bei uns“, höre ich die Tante noch rufen. „Gehört sich so was denn?!“
 
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Ilona B

Mitglied
Hallo Arno,
Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut. Ich fühle mich, als ob ich mit am Tisch sitze.:)
Allerdings ist es für mich mehr die Beschreibung eines Familiensonntages. Ich vermisse ein wenig die Handlung der Geschichte.
Der Abschnitt
Tatsächlich besitze ich Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dieser Zeit mit denselben Personen, derselben Szenerie, aber an diesem Sonntag sind wir nicht fotografiert worden.
ließ vermuten, dass an diesem Sonntag etwas anders ist. Was?

In mir ist der Eindruck entstanden Dein Protagonist ist älteren Semesters, aber die Passage
Auf einmal weiß ich, was ich tue. Ich sage, sie sollten schon mal vorausgehen, ich würde mir noch was ansehen. Und ich renne den kurzen, steilen Pfad hinauf - Roland entgegen. Oder wem auch immer.

„Bub, bleib doch bei uns“, höre ich die Tante noch rufen. „Gehört sich so was denn?!“
und die Ungeduld den Freund aus den Kindheitstagen wieder zu sehen, deuten auf eine jüngere Person hin.
 
Liebe Ilona,

gern gehe ich auf das von dir Angesprochene ein. Zunächst ist ein Missverständnis auszuräumen. Tatsächlich ist der IE ein erwachsener Mann, der einen Jahrzehnte zurückliegenden Sonntag beschreibt. In der Rückschau versetzt er sich sogleich in den Jugendlichen, der er damals gewesen ist. Es geht also nicht um eine Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund. Ab dem zweiten Abschnitt spielt alles durchgehend in der Kleinbürgerhölle der 1960er Jahre.

Ja, was ist das Besondere an dem erzählten Sonntag? Ganz einfach: die Desertion aus dem Kreis der Verwandten, die von der Tante unmittelbar als solche erkannt und gerügt wird.

Dein Eindruck, es werde ein Sonntag vor allem beschrieben, ohne dass sich viel ereignete, ist im Übrigen zutreffend. Eben das war ja das Qualvolle für den Nachwuchs, der zum Stillsitzen und Zuhören verurteilt war. Die Alten saßen Stunde um Stunde beisammen und erzählten sich immer nur dasselbe. Wer als junger Mensch allein unter ihnen war und ganz andere Interessen hatte, litt fürchterlich und entwickelte sich leicht zum scharfen, doch nicht wohlwollenden Beobachter.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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